Ich darf Sie als Senner, Literat und Städter bezeichnen. Sie leben in Gegenwelten: in der Großstadt, auf der Alm. Was fasziniert Sie an diesen Gegenwelten?
Dieser Wechsel vom Nichtbeschrifteten und Nichtbenannten und auch nicht Designierten zu diesem ganzen städtischen Ambiente: der Akustik, dem Aufforderungscharakter, alles will etwas von dir, lässt dich nicht zum Denken kommen –, dieser Wechsel ist interessant. Wo dein Kopf innen arbeitet, während du in die Natur schaust oder gehst. In der Stadt ist alles beschriftet. Wenn man wieder zurückkommt von der Alm, dann ist man ganz hungrig auf die Benennungen und die Werbungen. Wenn man’s dauernd sieht, dann kommt es zu einem Abstumpfungsprozess. Beides muss es geben und es ist gut, mit beidem umgehen zu können. Dass man sowohl in der bezeichneten Welt und in der scheinbar unbezeichneten Welt, die ja auch ein großes Lexikon der Natur ist, innerlich bestehen kann und durch dieses Hin und Her den Geist prägt.
Wie lernt man die Zeichen in der scheinbar unbeschrifteten Welt zu lesen?
Das sind oftmals analoge Zeichen. Wenn du dir zum Beispiel die Blattln anschaust von den Pflanzen: Erst lernt man sie einmal zu lesen, indem man sie anschaut und sich überlegt, warum die Wiese grün ist. Ich sag’s jetzt einmal so ganz einfach, was nicht einfach ist; komischerweise beantwortet es niemand außer Rudolf Steiner. Wie er dazu sagt, das will ich jetzt gar nicht sagen, denn das wirkt auch sehr komisch, aber er hat sich zumindest mit dem Gedanken beschäftigt. Es sind Erklärungen, die von den Formen, von den Analogiebildungen herkommen und von dem, was man an Geistigem hineinlegt, zum Beispiel Felsformationen, die dann einen Namen haben. Oder die Erzählungen aus den ganzen Almbereichen, die von den Bauern kommen, da gibt’s zum Beispiel eine Grube, die heißt „Kampf und Streit“. Oder es ist ein Grab dort mitten im Gelände oder ein Kreuzl und heißt „Beim Weibi“. „Wo hast den Bock gsegn?“ – „Beim Weibi.“ Dann fragt man nach und kommt auf die historischen Momente, die an dem Namen hängen. Viele Namen sind ungeklärt. Man kommt auf manches drauf, die Leute sagen einem was, die Bauern fangen zum Erzählen an. Zu vielem, wovon sie erzählen, schließt sich der Kreis erst später. Die ganzen Kochgeschichten, Muas, Rahmkoch und Almraunkerl, das ist ein Reichtum an Ernährungsgeschichten. Die Almschrift wie Augentrost, Milchdieb, die hörst du aus dem Munde, dann schaust du zuhause nach.
Was, wo ist Ihr Zuhause?
Zuhause ist man sowieso an einem transzendenten Ort. Wenn man jetzt Heimat nimmt, dann ist mein Freundeskreis mein Zuhause. Zuhause ist man, wo man gerade hindenkt.
Hatten Sie je das Problem, nicht zu wissen, wo Sie hingehören?
Das ist nur in den Übergangsphasen so, wenn die ganzen Routinen kurz weggehen: Alles riecht anders, die akustischen Routinen oder die sozialen Routinen gehen weg. Das ist alles nur eine Frage der Anpassung, das ist keine grundsätzliche Gefährdung. Ich finde es spannend, dass man durch diese Passagen durchgeht. Sowohl wieder zurück und wieder hin, wenn man die Stufen hinaufgeht und wieder hinuntergeht. Interessant ist die Sache mit dem Jahr: Es ist mir aufgefallen, dass du das doppelte Jahr lebst. Du gehst auffi, im Juni, wenn herunten die Vegetation schon fortgeschritten ist, wenn Sommer ist. Dann gehst auffi, is grad der Schnee weg, kommt wieder das Frühjahr. Dann ist aber der Herbst viel schneller da, kommst runter, ist unten erst langsam der Herbst. Es ist ein kleines Jahr im großen Jahr noch drinnen mit eingepackt.
Wie sind Sie Senner geworden?
Ich bin durch den Gunther Naynar 1978 dazugekommen, er ist jetzt Bauer geworden. Der ist auf einer Alm gesessen und wollte als Künstler landart-Projekte machen. Ich hab ihn damals besucht. Da waren Schafe und ich habe immer geschaut, wem die gehören und so. Kurz drauf rufen die Ramsauer Bauern an, sie suchen dringend einen Hirta für eine Alm, die wir immer schon gesehen haben als einen besonders schönen Ort. Und ich habe gesagt, ich probier‘s einfach einmal für ein Jahr. Und dann fangst an, schaust, was die Bauern machen, machst alles nach, beim Viehtreiben und überall. Das erschließt sich alles mit der Zeit wie ein großes Lexikon. Dann fangt man zum Lesen an über das Verhalten der Tiere und so geht das halt.
Wenn ich irgendwo bei einem Haushaltshändler was sehe, dann denke ich mir, das könnte ich für die Alm brauchen. Oder irgendwer gibt etwas her für die Alm. Das war aber bei allen so, dass die Alm so ein Ort war, wo man das nicht gebrauchte Zeug hinaufgebracht hat, aber für dort ist es noch genug. Auf der anderen Seite ist aber nichts gut genug da oben. Ich bin ja dann in die Museen gegangen, zum Beispiel in Trautenfels beim Volker Hänsel ist vor der Neuaufstellung ein Schottquirl gehängt, aus einem Wipfel von einer Fichte gemacht. Hab ich mir gedacht, ich mach mir eins, das kann ich brauchen. Kommst irgendwo hin, siehst aus Holz einen Reifen, wo die Glocken dran gehängt werden. Denk ich mir, mach ich mir doch aus einem Ast irgend so was. Für die Goaß geht’s ja noch leichter. Man sieht, dass alle diese Erfindungen nachzumachen wären, des muaß ma ja nicht erfinden. Irgendetwas aus der Wissenschaft gehört ins Leben hinein, irgendetwas wendet man an. Das habe ich gelernt.
Ist die Alm für Sie auch mit Begriffen wie Sehnsucht und Idylle besetzt?
Mit Sehnsucht ist sie schon besetzt, mit Idylle keinesfalls. Die Idylle existiert nur in den Aufschreien der Städter, die kommen und sagen: „Wie schön ist es bei ihnen!“. „Drüben, 20 Minuten weiter ist das Wasser“, sag ich dann. Das kann ich nicht hören, „wie schön“; das kann aber niemand hören. Wenn man irgendjemanden fragt, drüben in den Tauerntälern – ab und zu komme ich hinein –, dann frag ich die Sennerinnen dort: „Wie geht’s enk?“ Die sagen dann, dass du es im August dort seelisch kaum mehr aushalten kannst, weil alle ja dort hineinfahren. Die Leit gehen ja nicht weg, die bleiben hocken und sie sollen dann die Stallarbeit machen. Da ist es ja noch viel ärger als bei mir. Diese Erfahrung dieser Idylle, die ist sehr schnell weg, sollte man sie überhaupt haben. Zu mir kommen Freunde, die kommen jedes Jahr wieder. Die arbeiten irgendwo als Manager, die sind heilfroh, wenn’s nur hinaufgehen können, Holz hacken oder Goaß melken, jedenfalls mir helfen.
Wie schaut Ihr Almtag aus?
Auf der Alm sind 140 Stück Vieh, 1.500 Hektar, aber ohne Grenzen. Nachbaralmen haben wir auch noch dabei, 700 Schaf, 60 Pferd und a paar Goaß. Die Alm liegt auf 1.783 Meter, das Viech geht auf 2.000 Meter. Es läuft so ab, dass man jeden Tag zum Viech geht. Gleich welches Wetter, man geht jeden Tag. Und manchmal denk ich mir: „Jetzt muass i wida außischaun“, denn die Tiere gehen in Gruppen. Es ist eine Genossenschaftsalm und wie sie drunten im Stall oder auf der Weide gehen, so gehen sie auch oben meistens, mit ein paar Ausnahmen. Jetzt fangen die zum Gehen an, am Anfang eh noch nicht, aber dann im August, September. Da ist es mir schon passiert, dass das Viech in die baumlose Gegend gegangen ist, wo es noch nie war. I bin dann do hingangen und hab‘s fotografiert und hab‘s dem Bauern zeigt: „Des gibt’s ned“, hams gsagt. Ich habe immer Angst, wenn eins dabei ist, das das alles schon kennt und die anderen dann do hin führt. Is aber oft ned so, das hängt meistens mit der Weidebeschaffenheit zusammen. Man geht nach dem Melken hinaus und schaut nach dem Vieh. Oft ist es so, dass man eine Gruppe nicht gesehen hat, innerhalb von vier bis fünf Tagen, einer Woche, kann man alles sehen. Und auf eine andere Alm gehe ich dann einmal in der Woche auch noch kursorisch schauen, wegtreiben, wenn’s irgendwo gefährlich stehen. Da bräuchte ich dann meistens aber noch wen dabei, das ist heikel. Da krieg ich eine Gruppe hinunter, aber manche, die besonders hartnäckigen, bleiben zurück und sind noch oben in der gefährlichen Gegend. Es passiert ja jedes Jahr etwas, weil der Untergrund zum Beispiel so nass ist.
Wenn die Tiere versorgt sind, was kommt als nächstes?
Da kommt oft jemand, der will dann was. Da setz ich mich dazu. Da essen wir was miteinander. Das ist ja ein soziales Tun, dadurch, dass die Alm zwischen zwei Schutzhütten liegt, ist sie immer auch ein Aufenthaltspunkt. Dort bist willkommen, die Leut kommen gern wieder. Da kommt dieser Universitätsprofessor aus Hamburg, wir kommen ins Reden und dann geht’s schon weiter. Oder es kommt ein tschechischer Überlebenstrainer, der auf der Antarktis eine biologische Station hat und der mich immer wieder einlädt. Und auf d’Nacht geht’s dann wieder zum Viech. Man geht ja immer dann, wenn sich die rühren. Du gehst a Stund hi, a Stund z‘rück, dann dort a Stund herum. Dann besucht man die Nachbarn und hilft denen, wenn irgendwas ist. Und das ist oft. Die kommen her oder jetzt ist der Kontakt auch per Handy, „Jessas na“, der find was ned, „Is bei dir?“. „Na“, „Schau ma umi“. Dann muaßt alles abgrasen.
Wann haben Sie dann noch Zeit zum Kasen?
Auf d’Nacht oft, im letzten Sommer war es so, dass ich oft jeden zweiten Tag kasen hob müssen, weil ich so viel Milch gehabt habe. Das ist blöd, wenn das spät am Abend noch kommt, weil dann braucht man ja Zeit.
Was von der Alm nehmen Sie sich in die Stadt mit?
Die ganzen Notizen. Wenn ich künstlerisch tätig bin, die Texte mache, verwende ich die ganzen Erfahrungen. Diesen Dank, den man hat, nimmt man mit. Oben kannst ja nicht arbeiten. Das ist ja interessant, die künstlerische Arbeit – einerseits hat sie keinen Platz, darum versteht man ja auch, dass bei den Bauern nicht viel geschrieben worden ist, bei den evangelischen vielleicht noch mehr, weil die haben gelesen, das merkt man auf der Ramsau; das Buch ist etwas wert. Wenn man ihnen was vorliest, die horchen zu und man hat das Gefühl, das ist was. In der Ramsau merkt man einen gewissen Stolz auf die eigene Kenntnis.
Zurück zu den Notizen. Biachln sand voi, lauter Biachln hab i zhaus; ich muss die dann irgendwie aufarbeiten, schau dann dort wieder nach. Dann gibt’s auf der Alm diesen ganzen magischen Bereich, der ist ja höchst interessant, der in den Sagen auftaucht. „Der goldene Ring von Uri“ zum Beispiel. Bei mir auf der Alm, die ja wirklich eine der großen Milchalmen ist, war, denn ich bin ja nur mehr der Pfuscher, damit es Milch gibt, da gibt es eine Sage über die Käseentstehung. Oder die Almsage vom geschundenen Senn. Ganze psychoanalytische Komplexe stecken in diesen Sagen drin: Drei Sennen machen sich eine Puppe aus Stroh, spielen Karten, fordern die Puppe zum Spielen etc. auf. Sie wird lebendig, wird zum Sexualpartner für die Senner bis auf den Kleinen. Sie wird immer größer und will zum Schluss mit hinunter beim Almabtrieb. Es gibt dann verschiedene Varianten, die klassische ist die, dass sie zum Schluss sagt, zum Zusenn und zum Viehhirten: „Ihr geht mit dem Viech schon voraus“. In allen Bereichen endet die Sage mit dem komischen Satz: „Wie der Pfister und der Zusenn das Eck erreicht haben, wo man zum letzten Mal auf die Hütte sieht, sehen sie, wie die blutige Haut des Sennen zum Trocknen auf dem Hüttendach ausgebreitet ist“. Interessant ist dieser Gedanke des Objekts, das selbst lebendig wird, die Projektionsfigur, die selbst etwas fordert.