Hochwürdigster Herr Erzbischof, welche Rolle messen Sie als Erzbischof von Salzburg den religiösen Bräuchen im Alltags- und Festleben unserer Zeit, sowohl in inhaltlicher als auch in struktureller und formaler Bedeutung zu?
Bräuche haben ihre Wurzeln im Menschen selbst, der in seiner Gottebenbildlichkeit als Gemeinschaftswesen sein Leben nicht nur „fristet“, sondern gestaltet. Der Schöpfer hat es so wunderbar angelegt, dass er dem Menschen zum Verstand und zum freien Willen auch ein Gemüt gegeben hat – die Bibel nennt diese Mitte der menschlichen Person „das Herz“ – und damit ein tiefes Gespür für das Wahre, Gute und Schöne.
Das Christentum, das aus dem Schatz des Evangeliums schöpft, ruft und lädt uns ein, die große Tradition des „Katholischen“, das heißt des weltumspannenden Heilsangebotes Gottes zu sehen und aus dem reichen Schatz der Tradition zu leben, freilich immer offen für das Neue, das der Heilige Geist mit uns vorhat. Im Katholischen geht es um die große, zwei Jahrtausende alte Tradition, in der sich das Evangelium und die christliche Kultur geformt und ausgefaltet hat. Diese Tradition stellt einen unwahrscheinlichen Reichtum dar. Romano Guardini (1885–1968) sagte einmal: „Die Kirche tut sich der Welt von heute in dreifacher Weise kund: in ihrem Dogma, in ihrer Liturgie und in ihrem Recht“; ich möchte hinzufügen, ganz besonders aber auch in ihrer Zuwendung zu den Menschen im karitativen Bereich und in den vom Evangelium inspirierten Bräuchen und Lebensgewohnheiten.
Das Kirchenjahr mit seiner wunderschönen Pädagogik hilft uns, dass wir in vielfältigen religiösen Ausdrucksformen den Glauben im eigenen Hause, im Kreise der Familie, zusammen mit Freunden, im größeren Ganzen der Vereine und der Pfarrgemeinschaft leben und mit allen Sinnen gestalten. Wie wir aus der Geschichte wissen, wurde die oft etwas nüchtern und starr empfundene römische Liturgie auf fränkischem Boden durch volksnahe Feierelemente ergänzt. Viele Bräuche „durch das Jahr und durch das Leben“ ergänzen die Liturgie im Gotteshaus und bringen Farbe und Wohlklang in die zwischenmenschlichen Beziehungen, stärken das Miteinander und Füreinander und helfen den Menschen, ihr Leben als „von guten Mächten wunderbar geborgen und getragen“ zu erfahren. Der liturgische Kalender wurde im Laufe der Zeit zu einer reich gefüllten Schatztruhe von „Brauchterminen“. Die Sonn- und Feiertage – dazu ganz besonders auch die Patrozinien- und Heiligenfeste – prägten den Alltag der Menschen und gaben dem Wechsel von „Werktag“ und „Festtag“ einen ganz eigenen Rhythmus.
Das „Benediktionale“ der Kirche mit seinen vielfältigen Segens- und Weihegebeten ist einerseits ein Spiegelbild der Anliegen, Sorgen und Ängste der Menschen, andererseits aber noch mehr ein eindrucksvolles Kompendium der Hoffnungen und Sehnsüchte, die viele Menschen auch unserer Zeit bewegen. Hierin liegen schon immer viele Wurzeln zur Pflege von Bräuchen. Gott ist die Quelle alles Guten und allen Segens (Gen 1, 22.28).
Ihre Amtseinführung hat einen Bogen geschlagen zwischen historischen und gegenwärtigen Bräuchen und Ritualen, ebenso wie zwischen öffentlicher Präsentation und fürsorglicher Seelsorge der katholischen Kirche. Wie verstehen Sie Ihr Amt in seiner Doppelfunktion als Repräsentant der Erzdiözese Salzburg wie als erster Seelsorger im Lande?
Es war ein großartiges Fest, mit dem meine Amtseinführung am 19. Jänner 2003 im Salzburger Dom gefeiert wurde. Die Herzlichkeit, mit der ich in Salzburg aufgenommen wurde, war und bleibt getragen von der Freundlichkeit der Menschen. Salzburg hat eine große geschichtliche Tradition; seit dem segensreichen Wirken unserer Landespatrone Rupert und Virgil ist viel Gutes und Schönes gewachsen. Das Mittelalter und später dann die Fürsten der Barockzeit haben nicht nur schöne Denkmäler und prächtige Bauten hinterlassen, die Jahr für Jahr aus aller Welt viele Besucher anziehen und zum Staunen führen, im Lande selbst lebt eine vitale und froh machende Volkskultur. Ich staune, wie viele junge Menschen dabei ihre Talente zur Entfaltung bringen. Bei meinen Besuchen in den Pfarrgemeinden spüre ich eine großherzige Bereitschaft und Offenheit für das Schöne und Gute.
Als Wahlspruch für meinen bischöflichen Dienst habe ich das Wort der Heiligen Schrift gewählt: „Die Wahrheit in Liebe tun!“ Es geht um die Wahrheit, die letztlich Christus ist, mit allem, was er gebracht hat; in Liebe, das heißt im Licht und in der Kraft des Heiligen Geistes, miteinander tun. Nicht nur als Einzelne, sondern im Miteinander aller Charismen, Dienste und Ämter, um das eine Ziel der Sendung Christi zu verwirklichen: alle Menschen in die Gemeinschaft durch Christus im Heiligen Geist mit Gott, dem Vater, zu führen.
Manche modernen Existenzphilosophen sprechen davon, dass der Mensch heute in einem „zerstreuten Dasein“ lebt. Er lebt in so vielen verschiedenen, miteinander kaum verbundenen Bereichen, dass er immer mehr seine Sammlung, den inneren Zusammenhang, die Tiefe seines Lebens verliert. Sein Leben verkommt in der Oberflächlichkeit. Die christliche Botschaft zeigt viele Wege auf, dass Menschen wieder zu sich kommen, aber auch aufeinander zugehen. Vom Evangelium inspirierte Bräuche sind immer Ausdrucksformen für ein fruchtbringendes Selbstwert- und Wir-Gefühl der Menschen, spenden Trost und vermitteln dankbare Freude am Dasein.
Ein positives Kennzeichen unserer Zeit ist – für mich – die allenthalben spürbare Suche nach Begegnung. Gerade aus den angesprochenen Zwängen heraus beginnt eine neue Suche nach Zuwendung, nach Begegnung der Menschen und nach Gemeinschaft. Vor allem unter jungen Menschen zeigt sich das Bedürfnis nach mehr Wahrhaftigkeit und Echtheit.
Ein weiteres positives Kennzeichen unserer Zeit ist die Möglichkeit der Kommunikation und der Begegnung mit vielen unterschiedlichen Kulturen. Die Universalisierung des Lebens bringt eine größere Offenheit sowie Bereicherung durch andere kulturelle Visionen und durch andere Lebensformen. Es gibt auch ein neues Bewusstsein für die Natur und die natürlichen Grundlagen des Menschen. Das führt zum neuen Entdecken der Schöpfung. Die Volkskultur hat diesbezüglich – meines Erachtens – geradezu eine prophetische Funktion. Denn viele Bräuche sind geprägt vom Wechsel der Jahreszeiten, von der Beobachtung des Kosmos, vom Werden und Vergehen in der Natur, von Aussaat und Ernte, von Bitte und Danksagung.
Schließlich darf die neue religiöse Sehnsucht nicht vergessen werden. Konkret ist sie sicherlich ganz unterschiedlich formuliert und ausgeformt. Aber das Grundbedürfnis nach Spiritualität in einer sehr nüchtern gewordenen und von vielen Zwängen beherrschten Gesellschaft ist ungemein stark spürbar. Hier braucht es ein tragfähiges und unverrückbares Fundament. Das gibt uns der christliche Glaube. Jesus hat dies sehr schön mit dem Gleichnis vom klugen Mann angesprochen, der sein Haus auf Fels gebaut hat. Die Frage nach dem Ort der geistlichen Heimat des Menschen ist so alt wie die Menschheit selbst. Die Beheimatung geschieht aber letztendlich nur im tiefsten Geheimnis, im Mysterium Gottes mit den Menschen. Wo der Mensch kein Geheimnis mehr hat, das ihn trägt, verliert er auch die Heimat, die ihn begleitet.
Ich wünsche der Salzburger Volkskultur diese Sensibilität für die Beheimatung des Menschen. Von Herzen wünsche ich aber auch die Kraft des „Salzes“, von dem Salzburg seinen Namen und seine kulturelle Identität hat. Denn wie nirgendwo sonst auf der Erde haben die Menschen ein Wort des Evangeliums so deutlich in ihre Geschichte, in ihr Dasein geschrieben: „Ihr seid das Salz der Erde!“ Dieses Wort aus der Bergpredigt hängt zutiefst mit der Geschichte der Erzdiözese und damit des Landes und seinen Menschen zusammen. Ich möchte es auch deuten im Sinne der vom Evangelium geprägten Pflege der guten und schönen Bräuche. Möge der Salzburger Volkskultur diese Kraft des Salzes nie abhanden kommen. Der Segen Gottes begleite alle Gemeinschaften und ihre Verantwortlichen in eine gute und schöne Zukunft!