Im Rahmen dieser Arbeit wurden Fragebögen zur Weihnachtszeit aus dem Nachlass von Bezirksschulinspektor Richard Treuer (1903–1982) mit den etwa zeitgleichen Fragebögen über die Weihnachtszeit zum Österreichischen Volkskundeatlas (ÖVA) verglichen. Treuer gab seine Fragebögen in den Jahren 1958 bis 1968 an landwirtschaftlichen und hauswirtschaftlichen Fachschulen in Salzburg – speziell in Bruck an der Glocknerstraße – aus und stellte dazu im Pinzgau selbst ausgedehnte Befragungen an, die er vorbildlich archivierte. So war eine Fülle an Fakten zu Bräuchen und Feiern der Weihnachtszeit im ländlichen Raum des Landes Salzburg aus den 1950er- und 1960er-Jahren zu erwarten. Die Fragebögen sollten durch Interviews mit den damaligen Ausfüllerinnen überprüft werden, um damit den Wandel der Bräuche darzustellen.
Tatsächlich sagten die Fragebögen nichts über den Ablauf der Weihnachtstage aus und auch die einstigen Respondentinnen hatten kaum Erinnerungen an die Fragebogenaktion. Es zeigte sich, dass Treuer die Fragen von Richard Wolfram (1901–1995) übernommen hatte und über das Korrespondenzverfahren (Belegsammlung per Briefwechsel mit Laien oder Forschern) mit Wolfram wesentlich zum ÖVA beitrug. Aus den Fragebögen geht nichts über das Weihnachtsfest in den Familien der Befragten hervor, aber alles darüber, was Forscher in diesem Umkreis für „traditionell“, „erkundenswert“ und „darstellungswürdig“ hielten. Heute muss die Verbreitung und Herkunft von Bräuchen mit anderen Methoden untersucht werden als zur Zeit von Richard Treuer und Richard Wolfram.
Aus den von Richard Treuer erhobenen Fragebögen zur Weihnachtszeit – die Fragen hatte Treuer von Richard Wolfram übernommen – gehen keine Informationen über das Weihnachtsfest in den Familien der Befragten hervor. Eine Methoden- und Theorienkritik des Verfahrens ergab, dass:
die Fragestellungen des Österreichischen Volkskundeatlas (ÖVA) dem „alten Kanon“ der Volkskunde entsprachen und als „traditionell“ und „wichtig“ bewertete Teilbereiche der Kultur abfragten;
innerhalb dieser Bereiche nur das gefragt wurde, was als „alt“, „überliefert“ und „bedeutsam“ vorbewertet galt. Das heißt, die Fragen filterten bereits einzelne Bräuche, Zeichen und Handlungen heraus; Abläufe und Zusammenhänge kommen nicht zum Tragen;
alle Fragen so gestellt wurden, dass ihre Ergebnisse in Karten, quantifiziert nach Belegorten, darstellbar wurden – Besonderheiten wurden dadurch nicht erfasst
und speziell alpine Traditionen mit einem Schwerpunkt Pinzgau gefragt wurden, das heißt, für Ausfüllende anderer Regionen war kein Raum, ihre eigenen Bräuche zu schildern.
Die Fragebögen geben nur wieder, was Forscher in diesem Umkreis für „traditionell“, „erkundenswert“ und „darstellungswürdig“ hielten. Da die Ausfüllenden Schüler/innen (Treuer) bzw. Lehrer/innen (ÖVA) waren, kam es wohl auch zu „Gefälligkeitsantworten“ – man verzeichnete, was Bekannte gehört oder erlebt hatten, auch wenn diese nicht aus dem Belegort stammten oder das Wissen über heimatkundliche Schriften zustande gekommen war.
Welchen Stellenwert haben die Ausfüllenden den von Richard Treuer in den 1950er- und 1960er-Jahren vorgelegten Fragebögen beigemessen? Bei den 2001/02 mit ehemaligen Respondentinnen durchgeführten Interviews stellte sich heraus, dass sich zwei der drei Befragten nicht mehr erinnern konnten. Die Fragen hatten damals keine Bedeutung für und keinen Bezug zu deren Leben.
Die Auswertung und Deutung dieser quantitativen Materialsammlung lag in den 1950er- und 1960er-Jahren bei geschulten Fachkräften (Volkskundler/innen, Geografinnen/Geografen), sie ist also systemimmanent „richtig“. Allerdings sind Symbole, Bräuche und Situationen des Alltags- und Festlebens nicht nur über naturwissenschaftliche Methoden zu messen, sondern sie sind stets mit Meinungen, Wertungen, Normen und Bedeutungen der Handelnden behaftet, die auf diese Weise nicht zum Tragen kommen. Daher bringen die Fragebögen keine relevanten Antworten zur Frage, was der Bevölkerung in Salzburg als „wichtig“ und „typisch“ für Weihnachten erschien oder wie die Bevölkerung am Lande Weihnachten gefeiert hat.
Eine Kritik dieser Methode (Fragestellung zum Ziel der quantifizierbaren Darstellung = Kartografie) hat Hermann Bausinger[268] 1971 mit seiner Arbeit über den Adventkranz vorgelegt und gezeigt, dass die Kulturwissenschaften ein multimethodisches Vorgehen brauchen. Grundsätzlich hat bereits Bausingers „Abschied vom Volksleben“[269] und der damit verbundene Paradigmenwechsel in den 1960er-Jahren den Menschen und nicht das Fortleben von Mythen in den Mittelpunkt der Untersuchungen gestellt und das Selbstverständliche und Alltägliche nach seiner Entwicklung und seiner Bedeutung im Leben untersucht und hinterfragt.
Für diese Arbeit standen Fragebögen aus dem Nachlass von Professor Richard Treuer im Archiv des Salzburger Landesinstitutes für Volkskunde (SLIVK) zur Verfügung. Diese Bögen stammen aus den Jahren 1958 bis 1968 und wurden an der Hauswirtschaftsschule Bruck/Glocknerstraße von Richard Treuer an Schüler und Schülerinnen ausgegeben und schließlich nach den Herkunftsorten der Ausstellenden archiviert. Nach Auswahl dreier Fragebögen aus dem Ordner „Andere Gaue“ wurden die damaligen Ausstellerinnen eruiert und befragt.[270] Weiters konnte ich in den Briefverkehr zwischen Richard Treuer und Richard Wolfram, dem Vorstand der Kommission für den Österreichischen Volkskundeatlas (ÖVA), Einsicht nehmen. Aus diesem Briefwechsel ergaben sich keine gravierenden Erkenntnisse zu Treuers Fragebogenaktion, die offensichtlich den Fragebögen zum ÖVA folgte. Die Arbeitsbeziehung war bereits in Gang und so enthalten die Briefe einen, für die damalige Zeit üblichen, Austausch von Wertschätzungen.
Richard Treuer wurde 1903 in Wien geboren und besuchte in Salzburg die Realschule. Nach der Matura wandte er sich zuerst der Malerei zu, legte bald auch die Matura der Lehrerbildungsanstalt ab. Nach Ausübung des Lehrerberufes an verschiedenen Hauptschulen wurde er Hauptschuldirektor in Zell am See. Nach Absolvierung des Kriegsdienstes im Zweiten Weltkrieg kam er in den Pinzgau zurück und wurde 1956 dort Bezirksschulinspektor. Nach Aussagen von Herrn Hofrat Dipl. Ing. Josef Stöger (dem Verfasser des Nachrufes) und nach der Art seiner Beurteilungen während der NS-Zeit war der streng katholische Treuer systemkritisch eingestellt.[271] Er war mit einer Pinzgauer Lehrerin verheiratet, die ihn bei seinen Erhebungen unterstützte. Neben seinem Beruf war er mit Leib und Seele Heimatpfleger des Pinzgaues. Er widmete sich nicht nur der Aufzeichnung von Bräuchen, sondern auch deren Erhaltung und Wiederbelebung. Als Schüler des steirischen Volksbildners Josef Steinberger kümmerte er sich um die Fortbildung im ländlichen Raum und gründete das Pinzgauer Bildungswerk.[272]
1901 geboren, studierte er an der Universität Wien Deutsche Philologie und Nordische Sprachen und promovierte 1926 in Germanistik. Ab 1928 wirkte er als Lektor der schwedischen Sprache in Wien. In diesen Jahren begann er seine Beschäftigung mit volkskundlichen Themen. 1934 habilitierte er sich für Germanische Volkskunde bei Rudolf Much, der in enger Beziehung zur Anthropologischen Gesellschaft in Wien stand und innerhalb der „Wiener Schule“ eine eigene „Much-Schule“ ausbildete, zu deren engsten Vertretern Prof. Wolfram gehörte. „[...] in dieser germanistischen Schule war Kontinuität in erster Linie Fortdauer der ‚völkischen Substanz‘, es ging um die germanische Kontinuität, die für die Vertreter einer nationalsozialistischen Volkskunde kein Problem war, sondern ein jeglicher wissenschaftlichen Untersuchung vorgeschalteter Glaubenssatz.“[273]
Wolfram war ab 1932 Mitglied der Anthropologischen Gesellschaft. Im NS-Regime stand er neben leitenden Stellen im „Ahnenerbe der SS Heinrich Himmler“ in Wien und Salzburg auch bis 1945 dem Institut für germanisch-deutsche Volkskunde an der Universität Wien vor.[274] Er leitete das 1960 als Extraordinariat und 1961 wieder errichtete Institut von 1963 bis 1971 als Ordinarius. Seine über 250 Publikationen zeigen die Fülle seiner Forschungsarbeiten auf, die den Themenkreisen der Wiener Mythologischen Schule – speziell der sogenannten „Männerbundschule“ unter Rudolf Much[275] – sowie dem alten „Kanon der Volkskunde“ folgten.
Nach der Mitarbeit am Salzburg-Atlas Egon Lendls gehörte Richard Wolfram zu den Initiatoren des Österreichischen Volkskundeatlas, dessen Kommission er ab 1959 vorstand. Nach der Auflösung dieser Arbeitsstelle befürwortete Wolfram die Überlassung des gesamten Werkes an das Land Salzburg; diese Zuwendung, wie der persönliche wissenschaftliche Nachlass von Wolfram waren u. a. ausschlaggebend für die Gründung des Salzburger Landesinstitutes für Volkskunde. Richard Wolfram war seit 1971 wirkliches Mitglied der Österreichischen Akademie der Wissenschaften, Ritter des schwedischen Wasa-Ordens und Träger vieler weiterer Auszeichnungen.[276]
Für viele Wissenschaften reicht die sprachliche Darstellung ihrer Bestände und Erkenntnisse nicht aus. Vornehmlich räumlich gelagerte und bedingte Forschungsbereiche verlangen eine Wiedergabe in räumlicher Darstellungsform. Diese Forderung erfüllt die kartografische Darstellung, doch bleibt sie stets quantitativ und lässt qualitative Aussagen nicht zu, wie Hermann Bausinger festgestellt hat.[277] Zur Methode der systematischen Aufsammlung volkskundlicher Erscheinungen sind viele namhafte Publikationen erschienen. Auch gab es schon sehr früh Diskussionen zum Für und Wider der Verfahren der Materialerhebung, wie etwa der quantitativen Methode. Die Geografin Ingrid Kretschmer – Kartografin des ÖVA – meint in ihrem Aufsatz „Vom Fragebogen zur volkskundlichen Karte“, es stünden sich schon sehr früh Fragebogenmethode einerseits und Feldforschung andererseits gegenüber, wobei lediglich letztere Methode qualitative Feststellungen zulässt, da in ihr Interviews mit den Handelnden sowie teilnehmende Beobachtungen der Erhebenden verglichen werden können. Als drittes Verfahren soll noch das Korrespondenzverfahren genannt sein, welches ein Mittelding zwischen den beiden bereits angeführten darstellt.[278] Hier ist aber anzumerken, dass eine Vorauswahl und Vorbewertung durch den Korrespondenten gegeben ist.
Eines solchen Verfahrens bediente sich Richard Wolfram u. a. mit Richard Treuer, welcher neben seinen in Schulen ausgeteilten Fragebögen auch Feldforschung vor Ort betrieb und die Ergebnisse Wolfram überließ bzw. berichtete. Dazu stellt Wolfram in seinem Kommentar zum Volkskundeatlas fest: „Hier konnte nur ein im Land selbst lebender Sammler und Heimatforscher helfen. Deshalb wandte ich mich an Herrn Schulrat Richard Treuer in Zell am See, der seit Jahren, vor allem im Pinzgau, eine umfangreiche volkskundliche Stoffsammlung betrieb und mit dem ich seit Jahren in Fühlung war.“[279] Im ÖVA wurden die Formen des Weihnachtsgrüns in Salzburg zur Gänze nach den Aufnahmen Richard Treuers in einer Karte dargestellt.
Die von Treuer offenbar am Vorbild des ÖVA bzw. unter Vorgabe Wolframs verfassten Fragebögen für die Hauswirtschaftsschule Bruck an der Glocknerstraße waren nicht anonym. Sie enthalten neben dem Titel „Weihnachtsbräuche und Jahrzahl“ den Namen der ausfüllenden Person, den Hausnamen des heimatlichen Bauernhofes, die Ortschaft und die Gemeinde. In allen Jahren wurden etwa dieselben Fragen gestellt.
Anklöckeln: Haben sie verschiedene Namen? Wie sehen sie aus? Wann kommen sie? Was tun sie? Meinungen?
Frauentragen: Wieviel Frauentafeln, wie lang bleibt die Frau? Wer trägt sie? Was ist damit in der Hl. Nacht? Wo ist die Tafel übers Jahr?
Brotperchten: Wann kamen sie? Wie sahen sie aus? Was machten sie?
Bachlschneid: Wer macht sie? Warum? Was wird geschärft?
Bachlkoch: Woraus? Wann gegessen? Bräuche und Meinungen? Bekommen auch die Bäume davon?
„Bäume zum Essen einladen“ oder „Bäume aufwecken“: Wann? Wer schickt wen hinaus? Wer macht es? Was wird mitgenommen, gerufen? (Bitte in direkter Rede) Meinungen?
Bachlboschen: Woraus war er und wie sah er aus? Wann geholt? Was geschah? Wann? Warum? Kommt etwas in den Brunnentrog? Was? Wann? Meinungen?
Rauchengehen: Wer geht, wohin und wie oft herum? Zutat zum Weihrauch? a. am Hl. Abend – b. zu Silvester – c. am Dreikönigvorabend.
Gibt oder gab es auch andere Bräuche am Hl. Abend, zur Hl. Nacht? Etwas mit den Tieren? Bachlpercht? Stroh in der Stube?
Besuche während der Hl. Nacht erwünscht oder nicht? Meinungen? Wer tut Gamen?
Was geschieht mit dem abgeräumten Christbaum?
Während der Weihnachten: Was darf nicht sein?
Dreikönigsvorabend und Dreikönig: a. kommen Gestalten?, b. Sprüche und Lieder?
Alle diese Fragen würde man heute als „lenkende“ bezeichnen. Sie lassen keine freie Schilderung des tatsächlichen Geschehens zu, sondern fragen die Existenz bestimmter Phänomene ab. Nur bereits vorausgewählte und vorbewertete Phänomene werden abgefragt. Richard Treuer, der Lehrer, hielt sich in der Abfassung seiner Fragebögen an den Ordinarius für Volkskunde in Wien, also an den Fachmann. So ist über Treuer zu sagen, dass er bemüht war, nach bestem Experten-Ratschlag zu handeln. Richard Treuers Unterfangen ist als großartige Leistung für das Land Salzburg anzuerkennen, auch wenn durch die Art der Fragebögen heute keine konkreten Erkenntnisse mehr daraus gezogen werden können.
In seinem Brief vom 22. März 1955 an Wolfram klagt Richard Treuer: „Obwohl ich die Bögen vorbesprach und zweimal zurückgab, sind sie doch nur recht teilweise ausgefüllt worden.“[280] Im Brief vom 22. Februar 1962 bittet er Wolfram um die Rücksendung der „hektographierten“ Blätter, da er diese benoten wolle.[281] Weiters klagt er im Schreiben vom 9. September 1959: „Leider ist die Dichte der Befragung durch mich sehr ungleich. Während ich im Pinzgau selbst systematisch von Ort zu Ort gehe und alle Schulen selbst abfrage, bin ich in den anderen Gauen auf die Antworten der Landwirtschaftsschüler angewiesen, die ganz unterschiedlich (einmal aus dem einen, dann aus dem anderen Ort) daherkommen und auch recht verschieden in Beobachtung und Fleiß sind.“[282]
Über seine Befragungen schreibt Richard Treuer in seinem Aufsatz „Weihnachtliches Brauchtum in den Salzburger Gebirgsgauen“: „Es wurde versucht, planmäßige Erhebungen bei den Kindern in allen Volksschulen des Pinzgaues und den Schülern der Landes-Landwirtschaftsschule und der landwirtschaftlichen Hauswirtschaftsschule Bruck/Glocknerstraße durchzuführen.“ Da für diese Arbeit lediglich jene Fragebögen der Hauswirtschaftsschule zur Verfügung stehen, wäre doch ein Vergleich mit z. B. den Schülern der Landwirtschaftsschule sinnvoll. Er meint hier nämlich auch: „Die Schüler [Anm. der Verf. er spricht stets in der maskulinen Form] würden sogar eine Scheu an den Tag legen, sich darüber zu äußern, wenn es um die Frage ‚warum‘ geht. Bemerkungen über die herrschende Meinung seien daher selten.“[283]
Die Frage nach dem „Warum“ des Tuns ist aus zweierlei Hinsicht interessant. Sie wurde im Bereich der Brauchforschung von Richard Wolfram und Karl Haiding seit den 1930ern verwendet, um auf mögliche germanisch-kultische Nachwirkungen zu stoßen. In der Volkskunde ab 1960 wird diese Frage hingegen eingesetzt, um die Meinungen und Begründungen der Akteure zu dokumentieren. Bei Treuer gaben selbst bei seiner Feldforschung und Befragung auf den Bauernhöfen, was mit dem abgeräumten Christbaum geschehe, lediglich drei einen „Grund“ für ihr Tun an. Das Selbstverständliche im Alltag wird niemals hinterfragt. Den Schülerinnen war offenbar auch keine Begründung bekannt oder sie scheuten sich, eine solche aufzuschreiben.
Ich habe für diese Arbeit aus den Fragebögen der „Anderen Gaue“ drei ausgewählt: 1959 Wals, 1962 St. Gilgen und 1966 Maria Pfarr. Die beiden ersten Befragten gingen noch in die einstige Winterschule in Bruck, die in der Zeit von Oktober/November bis April für Mädchen geführt wurde. Es gab eine Altersuntergrenze mit 16 Jahren. Einige der Schülerinnen waren aber auch weit über 20 Jahre alt. Die aus Maria Pfarr stammende Schülerin ging bereits in eine Jahresschule. Bei meiner ersten Kontaktaufnahme mit den Respondentinnen der ausgewählten Fragebögen fiel mir auf, dass sich die Dame aus Wals wohl an den Namen Treuer „irgendwie“ erinnern konnte, nicht aber an die Fragebögen. Die ehemalige Schülerin aus St. Gilgen konnte gar nichts damit anfangen. Lediglich die Lungauerin wusste noch genau Bescheid. Da sie aber die Jahresschule besucht hatte, war sie öfter mit derartigen Fragebögen befasst, denn Treuer sammelte das ganze Jahr hindurch Belege über Bräuche.
Als ich die Befragte aus Wals mit ihrem Fragebogen konfrontierte, bestätigte sie, diesen ausgefüllt zu haben und war sehr erfreut über ihre schöne Schrift. Bei Punkt 10 und seiner Frage nach den anderen Bräuchen in der Heiligen Nacht, eventuell Stroh in der Stube, brach sie in schallendes Lachen aus und meinte: „[...] was hab ich denn da zusammengeschrieben?“ Es war nämlich zu lesen: „Früher, zur Zeit meiner Urgroßmutter, wurde immer Stroh in die Stube getragen. Die Leute schliefen in der HL. Nacht auf Stroh, weil das Jesuskind auch auf Stroh gelegen war.“[284] Da nun bei ihrer Freundin aus Wals Ähnliches zu finden ist, kann angenommen werden, dass die beiden über etwas berichten wollten, das eine Besonderheit zu sein schien. (Erwarteten sie eine bessere Note? Richard Treuer hatte nämlich alle Abweichungen und Besonderheiten unterstrichen.)
Im Briefverkehr zwischen Treuer und Wolfram war von einem Sonderdruck über „Das Weihnachtsstroh“ von Prof. Wolfram die Rede, den ihm dieser zugesandt hatte. Nun wollte Treuer sich besonders auf die Suche nach Hinweisen in dieser Sache machen.[285] Einen Beleg des angeführten Strohbrauches fand ich noch auf einem Fragebogen aus Murau 1960. Dort steht geschrieben, dass, da man ja früher auf Strohbetten geschlafen hatte, deren Überzug vor Weihnachten gewaschen wurde und man deshalb nach dem 4. Advent auf reinem Stroh geschlafen hätte. Diese Antwort scheint mir, in Anbetracht des Lachens meiner Befragten, als ganz profane Erklärung durchaus verständlich. Offenbar waren Aussagen über diesen Bereich nur mehr über Großmütter zu erfahren.
Wolfram bat Treuer auch, Erhebungen über den abgeräumten Christbaum anzustellen.[286] Dies geschah ab 1958/59. Hier wurde bereits angenommen, dass jede Familie einen Christbaum besäße. Es ist als interessant zu betrachten, dass die Befragten aus St. Gilgen und aus dem Lungau erzählten, der Christbaum wäre immer klein, aber trotzdem schön gewesen. Die St. Gilgenerin meinte auf meine Frage nach dem Christbaum, dass der Vater einen großen Baum als zu schade empfunden hätte. Beide erinnerten sich an einen Baumschmuck in Weiß und Gold mit Engelshaaren. Die Walserin hingegen sah den Baum noch vor sich. Dieser war fast höher als die Stube und mit Glasschmuck und Glöckchen verziert. „Meine Mutter wollte das so.“ Diese Aussage weist deutlich auf die Stadtnähe und die Wichtigkeit eines schönen Baumes aus der bürgerlichen Inszenierung des Weihnachtsfestes hin.
Für die Vorauswahl und Bewertung der Fragen spricht wiederum, dass nicht nach dem Christbaum, seinem Schmuck und seiner eventuellen Verwendung nach den Feiertagen gefragt wurde, sondern ausschließlich nach der Behandlung und Verwendung des abgeräumten Baumes. Also nach jenen Handlungen, die Richard Wolfram für germanische Relikte hielt. Die Antworten meiner Nachbefragung zeigen aber, dass der Baum selbst wichtig war und nicht dessen Weiterverwendung.
Dass der abgeräumte Christbaum möglichst noch verwendet wurde und wird, bis man ihn schließlich verbrannte, zeigen die Antworten der Schüler wie auch der Bauern, die, wie bereits erwähnt, Treuer selbst befragte. Der Baum wurde ins Freie gebracht, eventuell mit Vogelfutter bestückt, Ziegen zum Fressen gegeben, im Lungau wurden auch verzweigte Wipfel und Äste von Nadeln und Rinde befreit und als Sprudler für die Milch verwendet. Sparsamkeit und Notwendigkeit sind oft Grundlagen für die Entstehung von Bräuchen. Sie haben sich vielfältig, je nach Bedarf ausgebreitet und sind auch wieder verschwunden, wie z. B. die Sprudler. Natürlich gibt es laut Richard Treuer und Richard Wolfram diesbezüglich eigene Interpretationen über Glück, Segen und andere germanisierende Deutungen.[287] Wenn ich hingegen die Antworten auf meinen drei ausgewählten Fragebögen lese, scheint mir nichts darauf hinzuweisen. Auch bei den Befragungen auf den Bauernhöfen durch Treuer finden sich lediglich drei Aussagen mit einer Deutungsmöglichkeit:
1. Die Verfütterung des Baumes an Ziegen, damit sie das ganze Jahr beschützt sind. 2. Der Baum wird auf den Dachboden verbracht, bis alle Nadeln abgefallen sind. Diese werden bis zur nächsten Weihnachtszeit aufgehoben. Warum und was dann damit geschieht, wird nicht erwähnt. 3. Er soll schon in der letzten Raunacht im Garten stehen und wird beim Rauchengehen als erstes angeräuchert. Warum und was dann?
Trotz dieser sehr vagen Aussagen über die offensichtliche Tatsache einer Nutzung des abgeräumten Christbaumes schreibt Treuer: „Im allgemeinen wird der Christbaum, der in gewissem Grade als geheiligt gilt, zu Dreikönig oder Lichtmess abgeräumt“.[288] Auch scheint er erfahren zu haben, dass das Aufstellen für die Vögel Glück bringe. Der Rauch soll ebenso eine besondere Wirkung haben. Das Verbringen des Christbaumes auf den Dachboden soll einen Schutz gegen Blitz und Hagel darstellen.[289] Dass der Christbaum, nachdem er anfangs von Geistlichen als „heidnisch“ eingestuft worden war, ab der Mitte des 20. Jahrhunderts auch in der Kirche Einzug hielt, deutet meines Erachtens noch nicht auf „Heiligung“ hin. Im Gegensatz zum Adventkranz und seiner üblichen Weihe ist bei Christbäumen hierfür nichts vorgesehen. Derartige subjektive, regionale bzw. volkstümliche Deutungen und Bewertungen zeigen aber die rasche Akkulturation und Adaption von Bräuchen auf. Man erkennt daraus, dass Dinge, Symbole oder Bräuche, sobald sie in den eigenen Lebenslauf integriert worden sind, mit neuen Deutungen befrachtet werden. Hier erweist sich jener Prozess der kreativen Aneignung und Anpassung, den Wilhem Fränger 1926 „Amalgamation“ (unauflösbare Verschmelzung) nannte und der heute wesentlicher Bestandteil moderner Brauchforschung ist.[290]
Aus der damaligen Sichtweise heraus war man sichtlich auch bemüht, genau zu erfahren, welche Gewächse als Christbaum verwendet wurden: ob Tanne, Fichte, Eibe oder aber Wacholder, und wo und wie der Weihnachtsbaum untergebracht wurde. Auch aus der Art der Anbringung (stehend am Tisch, im Flur, hängend im Raum) und aus der Gehölzart wollte man „Altersstufen“ eruieren.
Der abgeräumte Christbaum wurde mit den Fragen der Fragebögen in die Nähe des „Bachlboschen“ gerückt,[291] in welchem die NS-Forscher ein germanisches Relikt sehen wollten. Dagegen muss man der dichten Verquickung von Inhalten und Formen, die Bräuche jeweils ausmachen, heute Raum geben. Nicht alles, was ähnlich ist oder einzelne gleiche Bestandteile enthält, kann als Gleiches oder Abgeleitetes gesehen werden. Natürlich hängen die Erscheinungsformen mit der Freude am frischen Grün gerade zur Winterzeit zusammen. Frisches Grün kann als Hoffnungs-, Lebens-, oder auch als Fruchtbarkeitssymbol gedeutet werden – daraus aber lange „Quellströme der Kultur“ zu bauen, ist eine andere Sache. Das Antwortfeld nach der Frage nach dem Bachlboschen auf dem Fragebogen blieb bei meinen Befragten leer. Niemand kannte das Wort. Vielleicht wäre darüber etwas unter der Bezeichnung „Weihnachtsgrün“ zu erfahren gewesen. Doch darauf wurde noch nicht geachtet.
Bei Richard Treuer sowie in den Fragebögen des ÖVA finden sich oft sprachliche Barrieren zwischen den Befragten und den Befragern. Dies zeigt wiederum, wie sehr Fragestellungen Antworten steuern bzw. sogar verhindern können. Sicher hätte man schon damals, besonders aber heute, jene Kränze und Gestecke mit Weihnachtsgrün assoziiert, die man fast in jeder Wohnung und heute immer häufiger an Haustüren finden kann. Meist achtet kaum jemand darauf, woraus sie gemacht sind – auch jene aus Plastik zählen dazu –, denn sie entwickeln sich mit der Mode. Heute sind sowohl die Deutungen als auch die Verwendungszwecke individuell sehr unterschiedlich; der Bogen reicht vom Weihnachtssymbol bis zur jahreszeitlichen Dekoration. Selbst jene kleinen Zweige, die man hinter die Bilder in den Wohnräumen steckt – was in den 1950ern weithin verbreitet war – können als Weihnachtsgrün verstanden werden.
Nach Wolframs Kommentar stammte die älteste urkundliche Bezeugung des Weihnachtsgrüns aus Salzburg, was heute nicht mehr richtig ist: Der Bachlboschen wird für Salzburg 1729 erwähnt.[292] Wie so oft ist die früheste Nachricht, die wir aus behördlichen Quellen erhalten, ein Verbot. Die Salzburger Waldordnung von 1755 verbietet, „Weihnachts- oder Bächel-Boschen“ abzuhacken und bezieht sich auf ein gleiches, schon 1729 ausgesprochenes Verbot. Dieses Verbot scheint ein weiteres Mal in der Verordnung von 1796 auf und wurde von Pflegern und Forschern der NS-Zeit sofort mit dem Auftreten des ersten Weihnachtsbaumes in Salzburg in Verbindung gebracht. G. Trathnigg vermutet darunter eine einheimische Altform, da der Name Boschen = Zweigbuschen auch für einen kleinen Nadelbaum oder Strauch verwendet werden kann. Darin sah Wolfram Verbindungen zu den „Weihnachtsboschen“ in Kärnten und der Steiermark. Diese wurden schon vor Weihnachten vor dem Haus aufgestellt und sollen als „Gabenbaum“ für die Tiere gedient haben.[293] Der nächste Schritt, den abgeräumten Christbaum als „Nachkomme“ dieses Gabenbaumes zu deuten, lag nahe. Wolfram meint hier, dass durch ungenaue Benennung und örtliche Bezeichnung wichtige Erkenntnisse, die aus den Fragen gewonnen werden könnten, durch die Ausfüllenden unter den Tisch gekehrt würden. Das entspricht seiner Wertung von „guten“ und „schlechten“ Gewährsleuten.[294]
Dass jedoch jener Bachlboschen aus dem frühen Salzburg wohl manchmal Schmuck, aber kein Gabenbringer war, erkennen wir sofort aus seiner Hauptfunktion. Es ist heute nicht mehr so genau überprüfbar, ob der bäuerlichen Bevölkerung des 18. Jahrhunderts eine Schmuckfunktion überhaupt bewusst oder ob ihr Denken profaner ausgerichtet war. (Vgl. Grünschmuck der großen Residenzstädte im 16. Jahrhundert.[295]) Ein kleines Bäumchen, ein Strauch, gebundene Äste dienten am Land damals, in Ermangelung eines Rauchfangkehrers, dem Reinigen des Schornsteins – des bis in die 1950er-Jahre noch üblichen „schliefbaren Kamins“ – und war zu dieser Zeit noch üblich.[296] Dieses Rauchfangkehren als jährliche Hauptreinigung war immer am Bachltag, also am 24. Dezember üblich und nicht am „Abwaschltag“, am 23. Dezember, an dem das Haus gereinigt wurde.[297] Nun „Grün und Ruß“ brachten mit Sicherheit das „Glück“ eines funktionierenden Ofenabzuges und damit verminderter Brand- und Unfallgefahr. Dem allgemeinen Verbot der bereits erwähnten Waldordnung könnte man vielleicht sogar entnehmen, dass jenes Bäumchen zum Schornsteinfegen, der Einfachheit halber, das Jahr über mit Weihnachts- oder Bachlboschen bezeichnet wurde.
Bei den über zehn Jahre verwendeten Fragebögen stellt sich für mich die Frage nach ihrer Verwendbarkeit. Richard Treuers Fragebögen waren ausschließlich auf die historischen Bräuche im Pinzgau zugeschnitten. Damit fragte er jene von Richard Wolfram als „wichtig“ vorbewerteten Gepflogenheiten ab. Das heißt, es wurde nicht hinterfragt, was den Menschen im Alltag vielleicht sogar wichtiger gewesen wäre, denn dafür war kein Raum auf dem Fragebogen vorgesehen. Alle Nicht-Pinzgauer waren durch diese Fragen mit oft völlig unbekannten Bräuchen konfrontiert, hatten aber keine Möglichkeit, im Fragebogen ihre eigenen Bräuche zu schildern. Wenn schon Treuer meint, dass es oftmals an Fleiß fehle, die Respondenten Scheu hätten, andere wiederum Antworten der Note wegen geben würden, sich die ehemaligen Schüler nicht mehr erinnern könnten, kann an der Aussagekraft doch gezweifelt werden. Wenn Treuer in seinem Brief an Wolfram erwähnt, er hätte die Bögen wiederholt austeilen lassen, um brauchbare Ergebnisse zu erhalten, verstärken sich die Zweifel an dieser damals üblichen Methode. Meine Befragten haben zwar die Frage nach einer eventuellen Möglichkeit, die Fragebögen zu Hause auszufüllen, mit „Nein“ beantwortet. Die Frau aus St. Gilgen erklärte mir aber, dass in so einem Fall ihr Vater den Bogen ausgefüllt hätte. Andererseits deuten für mich die verschiedenen Schriftzüge auf den einzelnen Bögen sehr wohl auf eine Hausarbeit und familiäre Gemeinschaftsarbeit hin.
Weitere Diskrepanzen ergaben sich aus den Hinweisen der einstigen Ausfüllerinnen, dass man Erzählungen älterer Personen für das Ausfüllen berücksichtigte, auch wenn diese Leute nicht vom Ort waren. Wie sieht es also mit dem Beweis dafür aus, dass Bräuche in dem Ort und zu dem Zeitpunkt, für den sie eine Ausfüllerin angab, auch noch gelebt wurden? Als Belegort kann nur jener verwendet werden, an dem der Brauch auch gelebt wurde. Das bloße Kennen vom Hörensagen her kann nicht als Aussage für einen Bestand verwendet werden. Wenn also jemand aus dem Bezirk Salzburg Land das „Anklöckeln“ so beschreibt, wie es im Pinzgau üblich ist, da die Mutter eine Pinzgauerin ist und es in dieser Art erzählt, kann das nicht als Beleg für den Ort verwendet werden, an dem die Befragte jetzt lebt.
Wie bereits angeführt, standen mir an der landwirtschaftlichen Haushaltungsschule ausgegebene Fragebögen zur Verfügung. Die Befragten stammten aus dem ländlichen Raum und bäuerlichen Milieu. Es ist daher nicht verwunderlich, dass alle angaben, der 24. Dezember sei kein großartig anderer Tag gewesen. Auch sein Ablauf richtete sich nach den täglichen Gepflogenheiten der bäuerlichen Arbeit. Mittags wurde, je nach Gegend, das in Maria Pfarr, Wals und St. Gilgen übliche Fastenessen eingenommen. Nachmittags wurde in den meisten Fällen geräuchert und dazu wurden die drei Rosenkränze gebetet. Als Zutaten kamen neben den Kohlen geweihte Kräuter, Palmkätzchen, Waldgewürze und eventuell auch Weihrauch in die Räucherpfanne.
Auf dem Hof in Wals wurde nicht mehr dreimal – zu Weihnachten, Silvester und am Vorabend zu Dreikönig, also in allen „hohen Raunächten“ – geräuchert, sondern nur am 5. Jänner. An diesem Tag gab es auch für das Vieh die sonst am Heiligen Abend übliche Gabe von geweihtem Salz, Körnern, geweihten Kräutern etc. Auf meine Frage, warum dies denn so gewesen sei, wurde mir geantwortet: „Dem Vater war es wahrscheinlich zuviel, deshalb fand er, einmal genüge.“ Ob man dieses Verhalten auch der Stadtnähe und der damit verbundenen Brauchgewohnheit zuordnen kann, ob es in Wals vielleicht so üblich war, konnte nicht in Erfahrung gebracht werden. Nach der Stallarbeit wurde dann gejausnet und irgendwann gab es die Bescherung. Die Dienstboten, die meist im Verwandtenkreis gefunden wurden, waren immer dabei. Meistens besuchte man auch noch die Mette, aß vielleicht noch eine Kleinigkeit und ging zu Bett. Als Besonderheit erwähnte die Lungauerin, dass bei ihr zu Hause nicht das übliche Räucherpfandl verwendet wurde, sondern man ein richtiges Weihrauchgefäß wie in der Kirche hatte. Von ihr wurde besonders die Aufstellung der Krippe hervorgehoben.
Auf meine Frage, ob Weihnachten bei ihnen heute anders gefeiert würde, meinten alle, dass es kaum anders sei als in ihrer Kindheit. Lediglich der Stall würde wegfallen, statt drei Rosenkränzen würde nur mehr einer gebetet. Da die Familien nicht mehr so nahe zusammenlebten, seien Besuche und Weihnachtswünsche üblich geworden. Ansonsten liefe alles eigentlich so ruhig ab wie früher. Das durch das Bürgertum eingeführte „Weihnachtsfest“ mit seinen Symbolen kommt auch heute dort nicht zum Tragen. Es ist einfach ein Fest der Familie. Meinungen darüber, ob diese Inszenierung und der damit entstandene Brauch weiblichen Ursprungs ist – ich erinnere daran, dass es in Wals die Mutter war, die sich einen großen Baum gewünscht hat und die Männer eher nützlichen Bräuchen zugetan sind – bewegen sich im spekulativen Bereich.
Für die Ausbreitung eines Brauches spielen viele Faktoren eine Rolle: u. a. Vorbildwirkungen und Außenkontakte unterschiedlicher Milieus oder Migrationen aller Art. Als Beispiel soll ein junger, aber weithin verbreiteter Brauch erwähnt werden, der in unterschiedlichen religiösen wie weltanschaulichen Gruppierungen in wenigen Jahren bereits eigene Riten und Deutungen entwickelt hat: das „Friedenslicht“ aus Bethlehem. Der 1985 vom Rundfunk Oberösterreich initiierte Weihnachtsbrauch wurde bereits 1986 von der Aktion „Licht ins Dunkel“ übernommen. Das ORF Landesstudio hat damit einen neuen Weihnachtsbrauch begründet, der an den tiefen Sinn des Festes erinnert. Aufgrund der weltpolitischen Situation wurde das Friedenslicht 2001 bereits in 25 europäischen Ländern als besonderes Zeichen der Hoffnung auf den Frieden der ganzen Welt verteilt. Es wurde sogar dem Präsidenten der Europäischen Kommission in Brüssel überreicht. Das Friedenslicht will nicht als magisches Symbol verstanden sein, sondern als Symbol dafür, dass sich die Flamme als Zeichen der Zuneigung, von Hand zu Hand weitergegeben, ausbreitet und Frieden verbreiten soll.[298]
Um den genauen Weg der Verbreitung dieses Lichtes zu verfolgen und kartografisch aufzuzeigen, wäre vielleicht die alte Fragebogenmethode eine gute Möglichkeit. Dennoch könnten daraus kaum Erkenntnisse über Aktivitäten von und Bewertungen durch unterschiedliche Organisationen gewonnen werden, da sich die Ausbreitung des Friedenslichtes durch alle Schichten, Konfessionen und Organisationen zieht.
Bräuche sind als soziale Konstrukte vielerlei Ausprägungen unterworfen. Gerade durch diese Vielfalt leben sie. Werden sie aber generalisiert oder reglementiert, wird eine „Echtheit“ konstruiert oder heraufbeschworen, die nicht empfunden wird, laufen sie Gefahr, zum Zwang zu werden, zu erstarren und zu sterben – oder als stilisierte Relikte vorgeführt zu werden. Üblicherweise verschwinden Gepflogenheiten wie Bräuche dann, wenn ihr Zweck nicht mehr vorhanden ist. Werden Bräuche heute kreiert, wiedererweckt und gepflegt, erscheinen sie solange zur Freude aller, solange sie nicht zu Tode gepflegt bzw. als touristische oder wirtschaftliche Attraktionen marktwirtschaftlich genutzt werden. Gelebte Bräuche werden den ausübenden Personen so selbstverständlich, dass sie mit keiner Erklärung belegt werden.
Sowohl die Fragebögen von Richard Treuer wie jene des Österreichischen Volkskundeatlas fragten nach vorbewerteten Bräuchen, die als selbstverständlich und wichtig angenommen wurden. Sie waren nach der damals im Umfeld des ÖVA geltenden Lehrmeinung erstellt und dienten der quantitativen Darstellung von Handlungen, Meinungen, Objekten und „Phänomenen“ nach Belegorten. Diversifizierungen, die über die Fragekriterien hinausgingen, konnten und sollten nicht erfasst werden. Die Kartografin Ingrid Kretschmer war in Hinblick auf die Auswertbarkeit des gewonnenen Materials der Meinung, dass verschiedene Stoffgebiete, deren Beantwortung weitgehend auf das persönliche Interesse und den freiwilligen Einsatz des Gewährsmannes angewiesen seien, auszuschließen seien, da sie nur unbefriedigendes Stückwerk erbringen würden.[299] Damit wurden von vornherein alle Fragen so abgefasst, dass soziale, lokale oder persönliche Unterschiede in den Antworten gar nicht auftauchen konnten. Prämisse war zu dieser Zeit die größtmögliche kartografische Auswertbarkeit des gewonnenen Materials.[300] Die Zusammenarbeit mit dem ÖVA über Wolfram erklärt auch die Beharrung auf den einmal erstellten Fragebögen und die stereotype Fragestellung von Treuer. Es muss uns natürlich bewusst sein, dass gerade die Aufstellung und Formulierung der zu beantwortenden Fragen mehr als alles andere den Erfolg oder Misserfolg der Aktion bestimm(t)en.[301]
Auf das Weihnachtsfest bezogen heißt das, dass wir zwar erfahren, ob die Ausfüllenden oder deren Bezugspersonen die abgefragten Phänomene kannten, aber meist nicht, ob sie an ihrem Wohnort oder von ihnen selbst ausgeführt wurden. Diese Fragebögen sagen nichts über den tatsächlichen Ablauf des Weihnachtsfestes und die Wertigkeiten der Geschehnisse bei den Befragten aus. Im Wesentlichen erfahren wir aus ihnen, was den Erhebenden wichtig war.
Auch die Umstände bei der Beantwortung von Fragebögen spielen eine große Rolle: Die Schülerinnen bekamen sie als Haus- oder Schulaufgabe. Beim ÖVA wurden die Fragebögen teils jungen Lehrern und Lehrerinnen von der Direktion zugeteilt, wie die Seminare der letzten Jahre von Olaf Bockhorn zeigten. Nur in Einzelfällen wurden sie von heimatkundlich interessierten und gut informierten Personen ausgefüllt. In vielen Fällen müssen wir also damit rechnen, dass die Fragen nicht im Zentrum des Interesses der Ausfüllenden standen. Wir wissen heute nicht, ob die Antworten in irgendeiner Form aus Bemühen, Fleiß oder aus Gefälligkeit gegenüber dem Lehrer oder Direktor gegeben wurden. Der Stellenwert, der diesen Fragebögen von den Antwortenden beigemessen wurde, zeigt sich bei dem Ergebnis der ausgewählten Respondentinnen. Da drei bei der empirischen Sozialforschung als kleinster gemeinsamer Nenner gilt, kann gesagt werden, dass das Interesse bei den Schülerinnen so gering war, dass sich zwei der drei Befragten heute nicht mehr daran erinnern können. Das heißt also, dass auch damals die Fragen keine Bedeutung für deren Leben hatten, dass Dinge gefragt wurden, die nicht (mehr?) wichtig waren.
Wenn man bedenkt, dass es bei den Fragebogenaktionen um eine quantitative Materialsammlung ging und die Auswertung und Deutung bei geschulten Fachkräften (Volkskundler/innen, Geografinnen/Geografen) lag, muss immer betont werden, dass derartige Deutungen nur systemimmanent „richtig“ sein können. Es geht hier nicht um reines Zahlenmaterial, sondern um die Erfassung von volkskundlicher Materie, das heißt um Verhaltensweisen im Alltag und deren Bedeutung für die Ausübenden. Auch die Fachkräfte waren Kinder ihrer Zeit und den Lehrmeinungen der Atlaskommission verhaftet. Es wurden daher die Themenbereiche aus dem „alten Kanon“ der Volkskunde gesucht und die geografische Verbreitung von Phänomenen sowie vielfach deren mythische Herkunft und Kontinuität. Die prägende Lehrmeinung Richard Wolframs, der stets der Wiener Mythologischen Schule verhaftet blieb, prägt daher auch den Österreichischen Volkskundeatlas und Richard Treuers Fragebögen. Hermann Bausingers „Abschied vom Volksleben“ und der damit verbundene Paradigmenwechsel der Volkskunde in den 1960er-Jahren kommt darin nicht zum Ausdruck. Erst mit diesem Paradigmenwechsel wurde der Mensch in den Mittelpunkt der ihn umgebenden Kultur gestellt und das Selbstverständliche und Alltägliche nach seiner Entwicklung und seiner Bedeutung im Leben untersucht und hinterfragt.
Das von mir herangezogene Quellenmaterial sagt zwar aus, welche Bräuche Forscher des Erhebungszeitraumes als „bedeutsam“ für das Weihnachtsfest ansahen und welche als „bürgerliche Einflüsse“ und damit als unwichtig abgetan wurden. Die Fragebögen bringen aber keine wirklich relevanten Antworten zur Frage, was der Bevölkerung in Salzburg als „wichtig“ und „typisch“ für Weihnachten erschien oder wie diese Bevölkerung am Lande Weihnachten wirklich gefeiert hat. Diese Fragen stehen aber heute mehr im Vordergrund als jene quantitativen Auflistungen. Daher muss auch die Verbreitung und Herkunft von Bräuchen heute mit anderen Prämissen untersucht werden als zur Zeit von Richard Treuer und Richard Wolfram.
[268] [Bausinger 1971a]. – [Bausinger 1977].
[269] [Bausinger 1971b], S. 78.
[270] Fragebögen Richard Treuers „Andere Gaue“, ausgegeben in den Jahren 1958 bis 1968, Nachlass Treuer, SLIVK.
[271] Stöger, Josef: Nachruf auf Professor Treuer und Personaldokumente Treuer, Nachlass Treuer, SLIVK.
[272] Stöger, Josef: Nachruf auf Professor Treuer und Personaldokumente Treuer, Nachlass Treuer, SLIVK.
[273] [Bausinger 1971b], S. 78.
[274] [BockhornO 1994a]. – [BockhornO 1994b].
[275] [Weber-Kellermann/Bimmer 1985], S. 96 (sowie S. 102 und S. 127).
[277] [Bausinger 1971a]. – [Bausinger 1977].
[279] [WolframR 1965], S. 23.
[280] Briefverkehr Richard Treuer – Richard Wolfram aus den Jahren 1953 bis 1963, Salzburger Volkskundeinstitut, 22.03.1955, Nachlass Treuer, SLIVK.
[281] Briefverkehr Richard Treuer – Richard Wolfram aus den Jahren 1953 bis 1963, Salzburger Volkskundeinstitut, 22.02.1962, Nachlass Treuer, SLIVK.
[282] Briefverkehr Richard Treuer – Richard Wolfram aus den Jahren 1953 bis 1963, Salzburger Volkskundeinstitut, 09.09.1959, Nachlass Treuer, SLIVK.
[283] [Treuer 1963].
[284] Fragebögen Richard Treuers „Andere Gaue“, ausgegeben in den Jahren 1958 bis 1968, Nachlass Treuer, SLIVK, Fragebögen Eisl, Wals 1959.
[285] Briefverkehr Richard Treuer – Richard Wolfram aus den Jahren 1953 bis 1963, Salzburger Volkskundeinstitut, 18.10.1960, Nachlass Treuer, SLIVK. – Vgl. [WolframR 1960].
[286] [WolframR 1965], S. 23.
[287] [Treuer 1963], hier S. 135.
[288] [Treuer 1963], hier S. 135.
[289] [Treuer 1963], hier S. 135.
[290] [Fraeger 1926]. – Vgl. [JohlerR 2000], S. 11–18.
[291] [WolframR 1965], S. 23.
[292] [WolframR 1965], S. 21.
[293] [WolframR 1965], S. 22.
[294] Vgl. [Kammerhofer-Aggermann 2001b]. – [BockhornO 2002].
[296] [Treuer 1963], hier S. 144.
[297] [Treuer 1963], hier S. 144.
[298] ORF Landesstudio OÖ, Presseaussendung am 26.11.2001.
[299] [Kretschmer 1966], hier S. 70.
[300] [Kretschmer 1966], hier S. 71.
[301] [Kretschmer 1966], hier S. 71.