In Zeiten der Zusammenschlüsse von Staaten in Westeuropa wird es für den Einzelnen immer notwendiger, sich einer überschaubaren Gruppe zugehörig zu fühlen, damit er sich selbst definieren und somit seine Identität finden kann. Bei diesem Identitätsfindungsprozess spielen kulturelle Institutionen eine tragende Rolle: Sie initiieren, produzieren, steuern Symbole und tragen somit zur Bewusstseinsbildung bei. Zudem bieten sie Identifikationsmöglichkeiten und Bezugspunkte.
In einer vom Tourismus stark geprägten Alpinregion wie dem Salzburger Land haben Identitätskonzepte, die auf einer idyllischen Welt aufbauen, eine identitätsverstärkende, stabilisierende Wirkung. Heimatmuseen sowie Volksmusik präsentieren eine Welt, die sich trotz rasanten Wandels scheinbar wenig verändert hat. Seit den 1970er-Jahren entstanden im Bundesland Salzburg vermehrt kulturelle Initiativen, die sich bemühen, differenziertere Bilder zu vermitteln. Die Analyse der Programme weist auf ein weltoffenes Kunst- und Kulturverständnis hin, das Identitätspotentiale für die Bevölkerung bietet. Diese Institutionen setzen sich mit den gesellschaftlichen Veränderungen auseinander und engagieren sich für einen offenen Diskurs.
Bei den „St. Johanner Lesezeichen“ (1991–1999) handelt es sich um eine Initiative von Prof. Hans Witke zur Vermittlung von Literatur. Sie können als Fortsetzung des jahrzehntelangen Engagements ihres Betreibers, Hans Witke, gesehen werden. Witke organisierte bereits in den 1970ern Lesungen und war bestrebt, einen offenen, fortschrittlichen und kritischen Kulturbegriff zu vermitteln. Die Programme der „St. Johanner Lesezeichen“ erschienen im Halbjahresrhythmus und kündigten ca. zehn Lesungen an. Gemäß dem Motto „freier Zugang zu freiem Wort“ war der Zugang zu den Veranstaltungen unentgeltlich, was von einem ausgesprochen demokratischen Verständnis zeugt. Zahlreiche Veröffentlichungen von und Gespräche der Autorin mit Hans Witke drücken eine Infragestellung der auf dem Land bisher verbreiteten Werte aus. Angestrebt wurde ein anspruchsvoller, avantgardistischer Literaturbegriff „ohne Edelweißromantik“,[226] umgesetzt durch leicht verständlich aufbereitete Lesungen.
Die Programmgestaltung der „St. Johanner Lesezeichen“ orientiert sich an einer überregionalen Weltliteratur (zahlreiche ausländische Autoren, zweisprachige Lesungen, visuelle Texte ...) und ist nicht auf den lokalen Raum beschränkt. Die verhältnismäßig hohen Besucherzahlen der Veranstaltungen veranlassen zu der Schlussfolgerung, dass das Angebot weitgehend angenommen wurde. Dies kann wiederum als Hinweis für einen Wertewandel bei einem Teil der Landbevölkerung gelten. So konnte der Besuch einer Lesung manchen Menschen dazu verhelfen, ihre Identität zeitgemäßer zu gestalten bzw. neu zu definieren, indem sie sich neuen Ideen öffneten. Für das kulturelle Leben auf dem Land bedeuteten die Aktivitäten der „St. Johanner Lesezeichen“ eine Steigerung der Vielfalt und ermöglichten die Verbreitung neuer Literaturrichtungen entgegen dem vermeintlichen Stadt-Land-Gefälle.
In der Pongauer Stadtgemeinde Radstadt konzentriert sich der „Kulturkreis Das Zentrum Radstadt“ seit 1981 darauf, kulturelle Akzente zur Geschichte der Stadtgemeinde zu setzen und diese nach außen zu vermitteln. Die Bemühung um die Bildung eines Identitätsbewusstseins für die Radstädter Bevölkerung sowie dessen Vermittlung nach außen drücken sich in einer engen Zusammenarbeit mit Stadtgemeinde und Tourismusverband aus.
Ein vielfältiges, ganzjähriges Kulturprogramm kennzeichnet die Arbeit des Vereins (Musikkonzerte zur Ehrung des Radstädter Musikers Paul Hofhaimer, Kunsthandwerksmarkt, Open Air-Inszenierungen ...), auch der Literatur wird ein hoher Stellenwert eingeräumt. Dem Verein ist ein Ehrenplatz inmitten der Altstadt in einem der erhaltenen Stadttürme gewidmet. Dieser befindet sich an dem Platz, der der ersten Architektin Österreichs und von den Nationalsozialisten verfolgten Margarete Schütte-Lihotzky (1897–2000) Rechnung trägt. 2001 wurde in Erinnerung an Margarete Schütte-Lihotzky das raumbezogene Projekt „Alpines Architektur Labor 01“ durchgeführt.
Die Belebung der historischen Altstadt zählt zu einem wichtigen Aufgabengebiet des Vereins „Kulturkreis Das Zentrum Radstadt“, deshalb nehmen zahlreiche Projekte des „Zentrums“ die Altstadt als Objekt bzw. Kulisse. Einige Projekte haben die Hervorhebung „Radstadt-spezifischer“ Merkmale zum Ziel. Zu nennen sind unter anderem die Open-Air-Aufführung „Parrochia Rastat“ 1998 zur Belagerung der Stadt durch die Bauernkriege, 2001 die Zusammenführung der ehemaligen Mitglieder des Radstädter Kinderchors, die Ausstellung zur Radstädter Kunstkeramik 2002 bis 2003, die Aktion „Wohnzimmer-Stadtplatz“ 2000.
Radstadt wird aber auch als Bestandteil einer alpinen Tourismusregion betrachtet und entsprechend in Überlegungen zur Besserung der Lebensqualität einbezogen (Projekt „Alpines Architektur Labor“). Diese Projekte tragen bei der Bevölkerung erheblich zur Bildung eines Raumbewusstseins und zur Identifikation mit dem Lebensraum, somit zu einem Zugehörigkeitsgefühl bei. Die Publikumszahlen und die Anzahl der fördernden Vereinsmitglieder belegen, dass die vermittelten Identifikationsangebote weitgehend angenommen werden.
Bei den vom „Kulturkreis Das Zentrum Radstadt“ organisierten Lesungen präsentieren sich größtenteils Autoren und Autorinnen aus Österreich, wobei auch ausländische Schriftsteller und Schriftstellerinnen eingeladen wurden. Die Frage, ob diese Autorinnen und Autoren oder ihr Werk einen Bezug zum geografischen Raum aufweisen, lässt sich nicht eindeutig beantworten.
Beispielsweise las Bodo Hell – selber Senner auf der Alm – im Rahmen einer Diskussion zur Almlandschaft. Ebenso las er auch aus anderen Werken, die mit der Region in keinem Zusammenhang stehen. Der Schriftsteller Peter Gruber stellte seinen Roman „Schattenkreuz“, eine Dachsteingeschichte über das Milieu der Wilderer, dem Publikum vor.
Man kann sagen, dass Autoren nicht nach regionalen Gesichtspunkten ausgesucht werden, um zu einer Lesung eingeladen zu werden. Andere Kriterien spielen eher einer Rolle: Von den eingeladenen Autoren erhielten zahlreiche eine Auszeichnung – Franzobel, Corinna Soria, Norbert Gstrein, Robert Schneider und andere mehr –, womit der Verein ein gewisses Qualitätsniveau gewährleistet.
Das „Freie Lesen“ (1992 initiiert) geht auf eine ursprünglich private Initiative von zwei Lungauerinnen, Manuela Gappmayer und Katharina Ferner, zurück und findet jährlich statt. Das Konzept basiert auf einer Bibliothek unter freiem Himmel.Drei wetterfeste Bücherschränke werden auf einem zentralen Platz (Stadtplatz, Marktplatz, Park ...) mehrere Tage lang aufgestellt, sodass jeder Passant hineingreifen kann. Liegestühle und Decken laden zum „Schmökern“ und Verweilen ein. Eine besondere Attraktion bildet der „Lesomat“: In diese Holzkonstruktion in der Größe einer Telefonzelle kann man sich zurückziehen, um zu lesen. Durch Lautsprecher ist die Lektüre auf dem ganzen Platz zu hören. Die Bestände der „mobilen Bibliothek“ wurden von unterschiedlichen österreichischen Verlagen zur Verfügung gestellt. Somit ist eine große Vielfalt (Kinderbücher, Jugendliteratur, Comics, Dichtung, Prosa, Sachbücher, Reiseführer, Kochbücher) vertreten. Diese Zusammensetzung der Bücher entspricht einem demokratischen Kulturbegriff. Den Initiatorinnen ist es wichtig, sämtliche Bevölkerungsschichten anzusprechen.
Ein Rahmenprogramm – bestehend aus Lesungen, Schreibwerkstätten, szenischen Aufführungen und Aktionen – begleitet die mobile Bibliothek. Als Gäste lasen im Rahmen des „Freien Lesens“ österreichische Autorinnen und Autoren wie Michael Köhlmeier, Elisabeth Reichart, Felix Mitterer, Robert Schindel, Christoph Ransmayr, die zur etablierten Literaturszene gehören. Auch Schriftsteller/innen aus Deutschland und fremdsprachige Autorinnen und Autoren wie Judith Kuckart, Dezső Tandori, Dževad Kaharasan, Herta Müller waren vertreten, was für einen Regionen übergreifenden Anspruch spricht.
Ein großes Verdienst des „Freien Lesens“ besteht darin, das Leseverhalten außerhalb der Schule zu fördern. Es schafft den Rahmen für einen spontanen und ungezwungenen Umgang mit Büchern. Beobachtungen zufolge wird der „Lesomat“ auch von Kindern genutzt, die Lesehemmungen haben. Durch Präsentationen/Bekanntmachungen in Schulen werden Schulklassen eingebunden und nehmen die mobile Bibliothek in Anspruch, was zeigt, dass seitens der Lehrkräfte die bildungsfördernden Aspekte des „Freien Lesens“ erkannt wurden.
In den letzten Jahren hat der Bekanntheitsgrad des „Freien Lesens“ stark zugenommen. Institutionen in der Stadt Salzburg wie der Verein „Salzburger Literaturhaus“ zeigten sich interessiert und konnten das Konzept des „Freien Lesens“ in ihr Kinder-Literaturfestival einbinden. Im Pongau hat der Radstädter Kulturverein „Das Zentrum“ seit 1998 das „Freie Lesen“ in ein Literaturfestival ebenfalls erfolgreich integriert. Im Sommer 2001 haben die Initiatorinnen des „Freien Lesens“, Manuela Gappmayer und Katharina Ferner, das 10. Jubiläum der Veranstaltung mit dem Ehrengast Christoph Ransmayr gefeiert.
Jährlich Ende März bzw. Anfang April ist das 2.000-Seelen-Dorf Rauris im Pinzgau Kulisse der „Rauriser Literaturtage“. Die 1971 ins Leben gerufene Veranstaltung bietet über fünf Tage ein Rahmenprogramm mit Lesungen, szenischen Aufführungen und kürt die beste Prosa-Erstveröffentlichung in deutscher Sprache sowie das Werk eines jungen Talentes. Der Anspruch der „Rauriser Literaturtage“ liegt im Bemühen um internationale Anerkennung: Journalistinnen und Journalisten aus dem deutschsprachigen Raum erhalten Einladungen. Auch das Sponsoring durch den Österreichischen Rundfunk ist ein Anzeichen für die Bedeutung dieses „Literaturevents“.
Jahr für Jahr reisen Fachleute von literarischen Institutionen und aus Universitäten an. Dadurch entsteht ein Netzwerk, aus dem sich ein großer Teil des Publikums zusammensetzt. Die eingeladenen Autoren und Autorinnen kommen aus den unterschiedlichsten deutschsprachigen Regionen. Auch unter den gekürten Autorinnen und Autoren ist das Verhältnis der Nationalitäten gemischt. Somit lässt sich sagen, dass kein Österreich-spezifischer Schwerpunkt bei den „Rauriser Literaturtagen“ hervorgehoben wird. Vielmehr sollen Brücken zum Verständnis fremder Welten geschlagen werden. Die Präsentation verschiedenster Literaturrichtungen und die damit verbundene Erweiterung des Horizontes steht im Gegensatz zur Geschlossenheit der Alpenwelt. In dieser Mischung besteht die Originalität der „Rauriser Literaturtage“.
Die „Rauriser Literaturtage“ wurden trotz prominenter Gäste wie Thomas Bernhard und Ilse Aichinger anfangs von der einheimischen Bevölkerung als befremdend empfunden. Einheimische blieben aus oder wurden gebeten, das Publikumsaufkommen aufzustocken. Die Bevölkerung der Gemeinde wurde sozusagen mit einer ihr unbekannten Literatur konfrontiert, die anfangs als aufgezwungen empfunden wurde. Das einzige gekürte Werk, das regionale Verbindungen aufwies und Identifikationsmöglichkeiten bei der Bevölkerung hätte bieten können, war der Roman von Peter Innerhofer „Schöne Tage“. Weit entfernt von einem idyllischen Bild schildert Innerhofer darin die Härte und Erbarmungslosigkeit der Bauernwelt. So kam eine Welle der Empörung bei der heimischen Bevölkerung auf, als 1975 der Roman den Rauriser Literaturpreis erhielt.
Seit Brita Steinwendtner die Leitung der Veranstaltung 1991 übernahm, wird versucht, die einheimische Bevölkerung verstärkt einzubeziehen. Dies drückt sich unter anderem in Form von Projekten von Schulklassenaus, die im Zusammenhang mit einem von einem anwesenden Autor/einer anwesenden Autorin behandelten Thema stehen. Ein Projekt wurde 2001 vorgestellt, bei welchem die Mundart im Mittelpunkt stand und zahlreiche Dichterinnen vorlasen. Schließlich stellt die wieder belebte Tradition der so genannten „Störlesungen“ – Bauernfamilien aus dem Ort veranstalten Lesungen in kleinem Kreis auf ihrem Bauernhof – eine weitere Möglichkeit für die lokale Bevölkerung dar, sich an diesem großen Literaturereignis zu beteiligen und einzubringen. Somit ist die örtliche Bevölkerung integriert; einer Identifizierung mit der Veranstaltung steht nichts mehr im Wege. Dass die Gemeinde Rauris diese Literaturveranstaltung als Teil ihrer Identität akzeptiert hat und nach außen vermittelt, belegen Tourismusinformationsstellen wie zum Beispiel das Prospekt des Tourismusverbandes oder die Internet-Homepage.
[225] Anm. der Redaktion: Es handelt sich hierbei um eine Bestandsaufnahme aus dem Ersterscheinungsjahr 2003.
[226] [Witke 1983].