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8.22. „Samson” im Volks-Gebrauch. Deutungsmuster eines regionalen Brauches im Wandel[2003] (Klaus Beitl) - Langtext

Eine überregionale österreichische Tageszeitung brachte die Vorankündigung eines wissenschaftlichen Symposions „Riesenfiguren im europäischen Vergleich” unter dem Titel: „Die Wissenschaft entdeckt nun Samson & Co. Ein Symposion im Lungauer Mauterndorf soll den ‚Umgangsriesen' auf die Spur kommen.” Der Blick in die Zeitung belehrt den Leser über das Ziel des Tuns von Kulturwissenschaftlern. Aber nicht nur das! Das hier vorangestellte Zitat ist auch als Hinweis auf die „Zeitung als Quelle” zu verstehen,[2004] als Hinweis auf ein bewährtes Verfahren der Gegenwartsvolkskunde, das hier zu Diensten stehen soll bei der Beantwortung der Frage nach dem „‚Samson' im Volks-Gebrauch”, will heißen: nach Deutungsmustern eines regionalen Salzburger Brauches im Wandel der Zeit.

Die Veranstaltung des Symposions mit dem Thema der „Umgangsriesen” als jener für die inneralpine Talschaft des Lungaus charakteristischen Brauchgestalten fand 1996 statt – im Rahmen der salzburgischen Regionalfeiern anlässlich des 50jährigen Bestehens des Referates Salzburger Volkskultur bei der Salzburger Landesregierung und zugleich auch des gesamtösterreichischen Jubeljahres in Erinnerung an die erste urkundliche Bezeugung des Namens „Ostarrîchi” für „Österreich” vor 1000 Jahren. Ort und Anlass des Symposions weisen somit den Brauchgestalten der Umgangsriesen einen ausgeprägten regionalen und landesweiten identifikatorischen Symbolcharakter zu,[2005] was schließlich auch in dem zu dieser Gelegenheit veröffentlichen Sammelband „Riesen” und in den darin enthaltenen Einzeldarstellungen und Synthesen dokumentiert erscheint.[2006]

Vielfältige Beschreibungsformen – Schilderungen von Land und Leuten, Archivberichte, Zeitungsfeuilletons und Pressemeldungen, Befragungen von Gewährsleuten, volkskundlich-wissenschaftliche Fachprosa, insgesamt also „Ethno-Texte”, und künstlerische wie auch ethnographische Bildzeugnisse u.a.m. – verschaffen uns ein Bild des hier angesprochenen Volksbrauches. Sie lassen uns seine Morphologie, seine Form und Funktion in Gegenwart und Vergangenheit erkennen; erlauben uns die Feststellung seiner begrenzt kleinregionalen Verbreitung wie auch deren Gegenüberstellung mit Zonen verwandter Brauchvorkommen in Europa und über Europa hinaus; erhellen seine Geschichte und vielleicht auch seinen immer wieder nachgefragten Ursprung.[2007] Insgesamt ergibt sich daraus die Darstellung der „äußeren Schauseite” der brauchmäßigen Umzüge mit der Riesenfigur des „Samson”, die im salzburgischen Lungau und im benachbarten weststeirischen Murtal die weithin auffälligsten öffentlichen Brauchmanifestationen im Jahreslauf sind.

Die Belegorte im Lungau sind heute – um es an dieser Stelle gleich anfangs zu rekapitulieren – die Pfarrorte und Ortsgemeinden Mariapfarr, Mauterndorf, Muhr, Ramingstein, St. Andrä, St. Margarethen, St. Michael, Tamsweg, Unternberg, Wölting und einst auch Kendlbruck; im steirischen Murtal Krakaudorf und Murau.[2008] Der religiös- kirchliche Ursprung des Schaubrauches ist in der theatralisch-figürlichen Repräsentation riesenhaft gedachter biblischer Helden – Samson und Goliath – in barocken Prozessionen, somit im pastoral-volksliturgischen Umfeld der Rekatholisierung des Lungaus im Zuge der Gegenreformation im 17. und 18. Jahrhundert zu suchen. Alttestamentliche Szenen wurden in solchen Prozessionen als so genannte „Präfigurationen” den verbildlichten Heilsbotschaften des Neuen Testaments gegenübergestellt.

Bereits im Spätmittelalter entstanden und gleichfalls alttestamentlicher Thematik verbunden sind die „Umgangsriesen” in den beiden anderen großen Verbreitungsgebieten Europas: im heutigen Belgien, in Südholland und in Französisch-Flandern im Nordwesten; in Katalonien, Spanien und Portugal im Südwesten[2009] und – in historischer Übertragung von Kontinent zu Kontinent – in den von Spaniern und Portugiesen kolonisierten Ländern Südamerikas, ja sogar in Vorderindien (Goa).[2010]

Ohne an dieser Stelle den Ausblick auf die europäischen Verbreitungsgebiete der Umzugsriesen weiter verfolgen zu wollen, ist indes festzuhalten, dass der „Samson-Brauch” im Lungau im Gegensatz zu dem sehr differenzierten Erscheinungsbild und zu der in der Gegenwart äußerst dynamischen Entwicklung der entsprechenden Bräuche anderswo in Europa eine auffällige Statik erkennen lässt. Solche Beharrlichkeit, welche sich im Beibehalten des einmal getroffenen Namens („Samson”) der Brauchgestalt wie auch in der Bewahrung ihres ursprünglichen Spielstoffes kundtut, ist wohl bedingt durch die jahrhundertelange Abgeschlossenheit der inneralpinen Gegend ihres österreichischen Vorkommens. Veränderungen dieses Volksbrauches im Wandel der Zeit ergeben sich somit nicht oder kaum in seinem äußeren Erscheinungsbild als vielmehr in der Verschiebung seines kontextuellen Umfeldes, im Wechsel der Wahrnehmung desselben und in der Variation seiner Bedeutungsmuster.

Die Frage, die sich für eine weiterführende volkskundliche Betrachtungsweise stellt, gilt somit der „Innenseite” des Brauches. Gefragt wird nach dem jeweiligen „Volks- Gebrauch”, nach der Geltung des Brauches als Indikator gesellschaftlicher Kommunikation und nach den wechselnden Deutungsmustern, die der Erklärung des Brauches unterlegt werden. Im wissenschaftlich-volkskundlichen Diskurs wird in solchem Zusammenhang seit der griffigen Formulierung des Volksliedforschers Ernst Klusen von „Fund und Erfindung”[2011] gesprochen. Gemeint ist damit jener Prozess, der – wie im vorliegenden Fall – aus einem eher unwichtigen und zeitweilig bekämpften Anlassfall einen ehrwürdigen, allseits respektierten und für eine Region repräsentativen Brauch formt. Reinhard Johler spricht in seiner in dieser Hinsicht beispielhaften Dissertation anhand des Paradigmas des Vorarlberger Funkensonntags von der „Formierung eines Brauches”.[2012] Das ist in einem doppelten Sinn zu verstehen: Es handelt sich um die wissenschaftliche Formung des Konstrukts eines Volksbrauches wie auch um dessen Realitätswerdung im praktizierten Volksbrauch.

Bei den nachfolgenden Ausführungen handelt es sich um den Versuch der Rekonstruktion des „Volkskundlichen Blicks” – seiner Entstehung, Fixierung und Ausdehnung – auf eine spezielle Braucherscheinung oder, anders gesagt, um den Nachvollzug des Weges vom wissenschaftlichen Konstrukt zu den unterschiedlichen Brauch-Realitäten.

Im „Widerschein der Aufklärung” – also im zeitlichen Umfeld des aufgeklärten Absolutismus unter Hieronymus Graf Colloredo (1732–1812), dem letzten souveränen Erzbischof von Salzburg – enthalten Regierungserlässe – wie z.B. die kirchlichen Ordinariatsanweisungen betreffs Prozessionen und Kreuzgänge aus dem Jahre 1783 und die Ordinariatsanweisung unter Josef Graf Starhemberg von 1786 – Verbote des Mittragens von Figuren und Heiligenbildern bei Prozessionen wie auch Verfügungen drastischer Einschränkungen des kirchlichen Prozessionswesens.[2013] In den Erlässen der Obrigkeit, denen in Salzburg im 17. Jahrhundert und im beginnenden 19. Jahrhundert ähnliche Verbote vorangegangen bzw. nachgefolgt sind, kommt die Dichotomie von „Kultur des Volkes” und jener der „Eliten” zum Ausdruck: Etwa wenn die Generale vom 17. Oktober 1783 vorschreibt, dass „alles, was den Pöbel noch an vorigen Festlichkeiten erinnern kann, als die Segensmesse, Evangelienablesen, wie auch die auf Kosten der Kirche etwa noch gangbaren und von da aus nicht bewilligten Gastgebung an Schutzpatron, Haupt- und Bruderschaftenfesten unterlassen” werde. Es wurden für alle beteiligten Geistlichen, Figurenführer und -träger, Schützen sowie Zünfte die an die kirchlichen Festlichkeiten anschließende Verköstigung untersagt. Schon ein Jahrhundert zuvor, 1674, wurde in St. Michael im Lungau im Zuge von Sparmaßnahmen der aufgewandte Betrag für „diejenigen Personen, so im Fest Corporis-Christi bey der Prozession daselbst gebraucht werden, bishero zu einer Zöhrung ausgevolgten 10 fl auf 5 restringiert”.

Es zeigt sich wie noch im Vorfeld der volkskundlichen Entdeckung des „Samson”- Brauches im 19. Jahrhundert durch obrigkeitliche Disziplinierungsmaßnahmen der spätere Volks-Brauch wesentlich und nachhaltig strukturiert wird. Das entnehmen wir den Aufschreibungen des ländlichen Chronisten Andrä Kocher, Reiterbauer am Lasaberg, der in seiner einzigartigen Tamsweger „Kapuzinerchronik” aus dem Jahr 1786 vermerkt: „Die Figuren hat schon der Kommissär Johann Senninger (1761–69) abkommen lassen. Es hat ihm alles viel zu lang gedauert [...] Da haben sie das Figurenführen sein lassen und nicht mehr geführt. Die alttestamentlichen Geschichten und Figuren vorstellen, als nämlich: Den Moises und Aron, Abraham und Isaak, den Goliath und die Judith und noch vieles anderes mehr. Und es war wohl recht schön und dauert bis auf das Jahr 1786. Da sind abgeschaffen: die Prozessionen und Prangtag.”[2014]

Die Chronik des Andrä Kocher schildert auch den bisherigen Ablauf der Prozession, in der die Samson-Figur mitgeführt wurde: „7. Gehet Sämson. Diesen muß ein starker man tragen, der hat 1 Gulden Lohn. Dieser Trager muß auch einen Firer haben, der ihn weisen mus, weil er nur bei zwei Löchern sehen mus. Dieser Sämson ist groß und bei 12 Schuach hoch, er ist gekleidet als ein Mensch. In der einen Hand hat er einen Spieß auf der Axel, in der anderen hat er ein Koiwangenbein. Auch einen Säbel hat er auf der Seiden. Den Kopf hat der Träger auf einen Stangel, das er ihn hin und her trähen kann, das der Kopf hin und her schauet. Der Trager hat über den Rugen eine Eisenstang und ist um die Mitten zusammengedornet. Auf St. Lienhard gehet er nicht hinauf. [...] Der Samson mach auch allzeit sein Schwänk.”

Der Brauch, der in dieser Form praktiziert und dabei bestimmten externen Kontrollen durch die Obrigkeit (Kirche und Staat) unterzogen wurde, erfährt alsbald publizistische Beachtung und findet in weiterer Sicht eine frühe wissenschaftliche Erklärung infolge des Widerstandes durch das Volk. Die Einschränkungen der religiösen Umzüge riefen an einigen Orten als Reaktion sogleich Unruhen hervor, wobei vor gewaltsamen Ausschreitungen nicht zurückgeschreckt wurde. Das Konsistorium ließ daraufhin in den einzelnen Pfarren Gutachten erstellen, die sowohl über die religiösen Verrichtungen als auch über die Reaktion des Kirchenvolkes berichten sollten. Gemäß Hofratsprotokoll vom 23. Juni 1784 haben in Tamsweg „drittens: die meisten (Bürger) ohne einige Gewalt zu gebrauchen, oder sich der unterlassenen Herumtragung in der Art zu widersetzen, nur dann wieder gemurrt und bitter Klagen ausgestoßen.”

Zu einer nachhaltigen Thematisierung des „Samson”-Umtragens im Lungau ist es vollends im Jahr 1802 gekommen, als im II. Band der „Deutschen Justiz- und Polizy- Fama” gegen den „Salzburger Simson zu Tamsweg – ein Überbleibsel unanständiger Volksfeste”[2015] publizistisch heftig polemisiert wurde und dadurch der fürsterzbischöfliche Hofrat sich abermals zu einer Enquête im Lungau veranlasst sah:„Im Markte Tamsweg des Erzstiftes Salzburg trägt man jäh an den sogenannten Prangtagen nach der Prozession ein Ungeheur in Menschengestalt herum, das 17 Schuhe langen und aus steifem Papier gemacht ist. Es strömt alles herbey, um den Simson in seinem Hanswurstenkleide, welches wenigstens 100 fl kostete, zu sehen. [...] Die Fenster des zweyten Stocks sind vor dem Helden nicht sicher. Sein Aussehen giebt zu den unanständigsten Possen Anlaß”.

Diese öffentliche Kritik veranlasste die Behörde, unverzüglich Erklärungen der tatsächlichen Sachverhalte aus den Gemeinde des Lungaus einzuholen. Das Pfleggericht Tamsweg in der Person des Marktrichters Peter Prandstatter berichtet erst nach einer weiteren Mahnung: „Das Herumtragen einer so großen Puppe kann man keineswegs widersprechen. Es geschieht aber dieses ohne die Feyerlichkeit des hohen Fronleichnamsfestes zu stören zur Belustigung der dadurch herbeygelockten Fremden und Inländer, welche die ungeheuere Maschine anstaunen und die Kräfte ihres Trägers bewundern. Es ist dieses zwar eine Posse, die dem Markt aber keinen Heller kostet, und wo in aller Welt trift man deren nicht an [...].”[2016] Erläuternd dazu meldet der Pfleger von Tamsweg, Ferdinand von Pichl, weiters in die Residenzstadt Salzburg, dass die Erscheinung der Riesengestalt eine relativ alte Sitte sei, die wahrscheinlich auf die Kapuziner zurückgehe und auch in Mauterndorf, Muhr und Kendlbruck zu finden ist.

Die hier gekürzt wiedergegebenen archivalischen Zeugnisse stellen zu Beginn des 19. Jahrhunderts den eigentlichen „Fund” der Samson-Figur als Angelegenheit des Volkes dar. Die Brauchgestalt erschien damals bereits aus dem früheren Kontext der religiösen Begehung in Form von barocken Spielprozessionen herausgelöst. Sie hatte sich fortan in einer zeitlichen und auch schon inhaltlichen Distanz zur bisherigen Tradition als Element eines nunmehr profanen Umzugsbrauches verselbständigt.

Der „Fund” eines Brauches „zur Belustigung der dadurch herbeygelockten Fremden und Inländer” bildet im Weiteren den Ausgangspunkt für die alsbald wissenschaftliche und populäre „Entdeckung”, für die von Eric Hobsbawm so benannte „invention of tradition”[2017] des „Samson”-Volksbrauches in seiner für den Lungau regionaltypischen Ausprägung. Der einsetzende fachliche Diskurs vollzieht sich auf verschiedenen Ebenen: Einerseits auf dem Niveau einer sich formierenden Volkskunde, die mit der Beschreibung und Erklärung volkskultureller Erscheinungen in ihre Aufgabe als Deutungswissenschaft hineinwächst, und andrerseits auf dem Feld des amateurhaften Dilettantismus, der die Popularisierung wissenschaftlicher Deutungsmuster betreibt. Neben der volkskundlichen Fachliteratur ist es fortan vornehmlich die Zeitung mit ihren meist sehr knappen tagesaktuellen Schilderungen, die einerseits als Kommunikator und andererseits als Quelle in diesem Spannungsfeld von Forschung und Popularisierung fungiert.

Die hier anstehende Geschichte der „Formierung des Brauches”, der wissenschaftlichen „Erfindung” (der „Entdeckung” und „Fixierung”) des „Samson”- Brauches kann sich auf eine inzwischen beträchtliche Datenmenge stützen.

Erste Ansätze für eine Deutung des „Samson”-Brauches waren bereits in den Berichten des Pfleggerichtes Tamsweg zu finden, als dort der Ursprung möglicherweise auf die Kapuziner-Mission zurückgeführt und auf eine Verbreitung auch in anderen Lungau-Pfarren verwiesen wurde. Der um die Wende vom 18. zum 19. Jahrhundert nachfolgend praktizierte, von seiner bis dahin religiösen Bindung losgelöste Brauch, erfährt wissenschaftlich und publizistisch Erklärungsbedeutungen, die inhaltlich, aber auch zeitlich in verschiedenen Phasen in Erscheinung treten. Inhaltlich werden Deutungsmuster entwickelt, was die Ursprungsfrage, die christliche oder heidnische Herkunft, die Integration in ein regionales bzw. lokales Beziehungssystem und das Verbreitungsgebiet betrifft. In den in der Folge beigebrachten Belegen finden sie sich als „Fixierungen” tradiert.

Die folgenden Ausführungen sind kurz gehalten, da die 1966 von Birgit Höplinger erstellte Dokumentation „Der Lungauer Samson. Archivalische Quellen über eine geliebte Brauchgestalt” die bislang vollständigste Übersicht bietet.

In der von Ignaz von Kürsinger noch in kameralistischer Sichtweise verfassten Darstellung „Lungau. Historisch, ethnographisch und statistisch aus bisher ungenützten Quellen” (1853)[2018] hat sich die Einschätzung des Brauches – dem gleichfalls nachwirkenden romantischen Zeitgeist entsprechend – in begeisterte Bewunderung dieser regionalen Besonderheit gewandelt. Dürlingers „Historisch-statistisches Handbuch der Erzdiözese Salzburg in den heutigen Grenzen ” (5. Auflage 1862)[2019] indes führt hin zu den einsetzenden wissenschaftlichen Beschreibungsformen wie E. Eisles Beitrag, „Der Samson-Umzug in Krakaudorf bei Murau”, im 1. Jahrgang der „Zeitschrift für österreichische Volkskunde” (1895). Alsbald meldet sich zu diesem Thema auch die landeskundliche Forschung mit den Beiträgen von Karl Adrian „Salzburger Volksspiele, Aufzüge und Tänze” (1905),[2020] Michael Dengg „Lungauer Volksleben. Schilderungen und Volksgebräuche, Geschichten und Sagen aus dem Lungau” (1913)[2021] und, später noch, von Franz Martin „Vom Lungauer Samson” (1944/45),[2022] zu Wort. Spätere einschlägige Heimatkunden wie die „Chronik des Marktes Tamsweg, Lungau, Salzburg” (1955) von Michael Hatheyer[2023] 21 und das Heimatbuch „Das tausendjährige Mauterndorf” (3. Auflage 1987)[2024] sind, um nur diese zu nennen, hinzuzufügen.

Die in diesen historischen und volkskundlichen Publikationen enthaltenen Darlegungen und Hypothesen über den Ursprung und die Sinngebung des Samson-Brauches lassen sich zu folgenden popularisierten Deutungsmustern zusammenfassen. Neben der

  1. durchgängigen und heute dominanten Interpretation des „Samson” und „Goliath” als Repräsentationen biblischer Helden und christlicher Präfigurationen in den gegenreformatorisch-barocken Figurenprozessionen steht die

  2. lokalgeschichtlich-historisierende Deutung auf der Grundlage der aitiologischen Sage von der Zuerkennung eines erzbischöflichen Privilegs für das Herumtragen der Samson-Riesenfigur in Anerkennung der heldenhaften Abwehr des Kriegszuges der Tiroler „Gräfin Margarete Maultaschin”.

  3. Deutungsversuche im Sinne der Konstruktion eines vorchristlichen Ursprunges des Brauches könnten in der Auffassung einer liberalistischen Altertumswissenschaft um die Jahrhundertwende ihre Grundlage haben; in gleicher Weise auch die

  4. Ethnisierungstendenzen, die auf der Annahme von ungebrochenen Brauchkontinuitäten beruhen. Sie werden mit der Besiedlungsgeschichte des Lungaus im Frühmittelalter durch die Slawen, respektive durch die Bajuwaren begründet.

  5. In der Nachfolge von Jakob Grimms „Deutscher Mythologie” und des bedeutenden theoretischen Entwurfs der „Wald- und Feldkulte” von Wilhelm Mannhardt[2025] hat Viktor Geramb im Sinne der von ihm vertretenen neuromantischen Volkskunde die Verknüpfung des im Steirischen sprachlich belegten Namens „Kornvater” für den „Samson” mit der Vorstellung von einem keltischen agrarischen Naturdämon als Beschützer von Saat, Ernte und Flur versucht.[2026]

  6. In diesem Zusammenhang ist schließlich auch die mythologische Deutung des „Samson” und der Umgangsriesen in Europa insgemein als kosmologische Weltschöpfer- und Himmelträger-Riesen anzuführen, wie sie in meiner anfangs zitierten, in den fünfziger Jahren aus der spätmythologischen Schule von Leopold Schmidt hervorgegangenen Dissertation auszuarbeiten war und die ihrerseits bisweilen Eingang in popularisierenden Erklärungsversuche gefunden hat.

Ende August des Jahres 1905 fand in Salzburg die „IV. Gemeinsame Versammlung der Deutschen und Wiener Anthropologischen Gesellschaft” statt. Der Salzburger Lehrer und Heimatforscher Karl Adrian, der in demselben Jahr in den „Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde” seine „Salzburger Volksspiele, Aufzüge und Tänze” einschließlich einer Beschreibung des „Samson”-Brauches veröffentlicht hatte, ließ sich zu diesem Anlass die Organisation eines „Parkfestes im Franz Josephparke” angelegen sein. Die „Herren Anthropologen” bekamen mit den Perchten, einem Hochzeitswagen, dem Aperschnalzen, der Samsonfigur und Trachtenträgern in Tanz und Umzug ein wahrlich recht vollständiges, alle Gaue des Landes einschließendes Bild des „alten Volkslebens in seiner natürlichen, nicht gekünstelten Gestalt” vorgeführt, das von den Trägern dieser „Sitten, also durch die ländlichen Bevölkerung selbst in ihrer ureignen Form dargestellt wurde.[2027]

Solche Verfügbarkeit von Bräuchen und Brauchgestalten außerhalb ihres genuinen Umfeldes verändert diese zu Versatzstücken, die ein bestimmtes Repertoire des „Salzburgischen” verkörpern. Dieser Prozess kommt nicht ohne den Rückgriff auf reaktivierte Brauchfiguren aus: „Unvermeidlich ist es freilich, daß im geschäftigen, gleichmachenden Hasten der Gegenwart [um 1905] mancher Brauch schon verloren gegangen ist oder in nächster Zeit zu verschwinden droht. Insofern demselben aber tatsächlich zur Kennzeichnung der Eigenart des Volkes ein ethischer Wert, fern von jener oft übergroßen Derbheit vergangener Zeiten, innewohnt, wäre es Aufgabe verschiedener Faktoren, helfend einzugreifen, das wirklich Wertvolle vor dem Verfall zu beleben.”

So stimmt es, dass viele prominente und heutzutage bereinigte typische Braucherscheinungen zur Jahrhundertwende erst wieder eingeführt werden mussten. Wie dieses im Lande Salzburg beispielsweise für die Stiftung eines Ranggler-Preises zur Förderung dieses traditionellen landesüblichen Kraftsportes oder für die Wiederbelebung des Dürrnberger Schwerttanzes durch die Intervention der Salzburger Gesellschaft Salzburger gilt, ist dieser Umstand gleichermaßen für die Wiedererstehung etwa des Mauterndorfer „Samsons” ins Treffen zu führen. Die aus dem Jahr 1900 stammende originalgetreue Kopie der damals abhanden gekommenen älteren Riesenfigur befindet sich heute in der Volkskundlichen Sammlung des Salzburger Museums Carolino Augusteum, wohin sie seinerzeit als Geschenk des Ritters von Eppenstein, des früheren Besitzers von Schloß Mauterndorf, gelangt ist. In der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts musste diese Kopie noch zwei weitere Male als Vorlage für neuerliche Anfertigungen der inzwischen in den wiedererstandenen Brauch integrierten Mauterndorfer Riesenfigur dienen: 1912 nach dem Brand Wörlehauses in Mauterndorf für die abermals durch Herrn von Eppstein materiell unterstützte Wiederherstellung durch den örtlichen Verschönerungsverein und 1949 nach dem Krieg neuerlich erforderliche Neuanfertigung durch den lokalen Trachtenverein.[2028]

Das solcher Art erwachte rege Interesse vornehmlich städtisch-bürgerlicher und adeliger Kreise und das Streben, Aneignungsformen des Volkskulturellen zu fördern, brachte in der Zwischenkriegszeit auf der Grundlage der neu erstandenen „Heimatschutz”-Bewegung Begriffe und Inhalte der Kulturbewahrung und -pflege hervor, deren Umsetzung zu zahllosen Anlässen auch die Landgemeinden erreichte. Zum gewohnten ländlich-bäuerlichen Brauchrepertoire, dessen „Tradition” und „Bodenständigkeit” zur Beförderung der „Vaterlandsliebe” und des Heimatgefühls gepflegt wurde, gehörten auch die „Samson”-Umzüge, deren Anzahl – nach Rückschlägen bereits im 19. Jahrhundert – zuletzt während der Jahre des Ersten Weltkrieges und in der folgenden Notzeit beträchtlich zurückgegangen war.

Die Bilanz der ersten bundesweiten Tagung des neu gegründeten „Österreichischen Heimatschutzverbandes” im Dezember 1921 in Wien gibt dem II. Vorstandsvertreter des „Vereins für Heimatschutz in Salzburg”, Karl Adrian, die Gelegenheit zu einer erstaunlichen Erfolgsbilanz: „Seit dem Schlusse des unseligen Krieges sind nun drei Jahre verflossen und mit großer Befriedigung kann man beobachten, daß aus dem Volke selbst heraus wieder die Freude an seinen alten Bräuchen erwächst. Von den in den letzten zwei Jahren wieder geübten Bräuchen seien genannt: Der Schwerttanz der Dürrnberger Knappen, das Fahnenschwingen der Metzger am Faschingssonntag in der Stadt, das Himmelbrotschutzen, der Piratenkampf und das Fischerstechen der Oberndorfer Schiffer, der Umzug des Samson und Goliath im Lungau, der Tanz der Pinzgauer Perchten, der Stelzentanz der Unkener Perchten, die großen Reithochzeiten im Gebirge, das Rankeln, das Aperschnalzen im Vorland, das Ladumtragen bei der Bürgermeisterwahl im Lungau und noch anderes mehr.”[2029]

Das spezifisch brauchtümliche Kulturinventar, das auch heute das für die Salzburger Gaue konventionelle Bild prägt, ist damit frühzeitig benannt. Der nachhaltige Erfolg des Heimatschutzes bewirkte – nicht zuletzt durch die längst erfolgte Verankerung des Brauchvollzuges in organisierter Vereinsform – die Festigung der „Samson”-Riesenfigur im regionalen und lokalen Symbolsystem. Dem „Umzug des Samson und Goliath”, wie er als typisch für den Lungau angeführt wird, wird schließlich in dem hier analysierten Prozess der „Formierung eines Brauches” in einer veränderten, offenen Gesellschaft der gefragte Wert einer in der Tradition verankerten Symbolgestalt zugeschrieben, die nach innen wie nach außen Identität, Unterscheidbarkeit und kulturelle Wurzeln signalisiert.

Als „ästhetisch-emotionelles Vehikel” des Heimatbewusstseins dient der „Samson” auch zu Beginn der Herrschaft des Nationalsozialismus in Salzburg. So etwa in Mauterndorf, als zum vierzigjährigen Bestandsjubiläum des Mauerndorfer Musikvereins am 17. Juli 1938 auf Initiative von Kuno Brandauer das Wiederauftreten der Bürgermusikkapelle in Alt-Lungauer Tracht von einem Festzug mit Almabtrieb, Samson und Zwergen, Musikkapellen, St. Johanner Stachelschützen, Hitlerjugend, Bund deutscher Mädel und Trachtengruppen begleitet wird. Den akribischen Nachforschungen von Gert Kerschbaumer, „Rekonstruktion und Dokumentation. Volkskunde und Brauchpflege im Nationalsozialismus in Salzburg”,[2030] zufolge scheint die Lungauer Brauchfigur weiterhin jedoch von einer Indienstnahme für die nun massiv einsetzende NS-Feierpraxis verschont geblieben zu sein. Das noch andauernde terminliche und handlungsmäßige Nahverhältnis zur ursprünglichen kirchlichen Feier und besonders wohl die traditionelle alttestamentliche Benennung und Ikonographie ließen den „Samson” wohl wenig tauglich erscheinen für die Einvernahme in ein germanisch-rassistisches Deutungsmuster, wie es für die Einfügung von anderen volkskulturellen Elementen in nationalsozialistische Feiern zu dienen hatte. Der Kriegsdienst der wehrtauglichen männlichen Bevölkerung und die kriegswirtschaftlichen Mangelerscheinungen führten vielmehr zum Rückgang und temporären Verschwinden dieses Volksbrauches, der sich auch auf diese Weise der zeitgeistigen politischen Instrumentierung entzog.

Die Heimatschützer kreierten Traditionen oder setzten solche wieder ein, die das 20. Jahrhundert mit den Werthaltungen ihrer Zeit ausgestattet und somit zur Bildung nationaler, regionaler und lokalen Geschmackskulturen geführt haben. Die Tendenzen nach 1945 zeigen, dass der „Samson”-Umzug als Landesbrauch, als volkskulturelle Repräsentation des historischen Landesteiles Lungau sich nicht nur behauptet, sondern durch einen neu einsetzenden konjunkturellen Fremdenverkehr deutlich angespornt wurde. Die regionale und überregionale Presse ist ein verlässlicher Indikator für den Ausbau des Brauches zum reinen, letztlich verbindlichen Landessymbol, dem gegenwärtig in der Praxis der europäischen Ortspartnerschaften ein neu erwachtes internationales Interesse entgegenwächst.

Das vom Referat Salzburger Volkskultur anlässlich des „Riesen”-Symposions 1996 erstellte Sample von Presseinformationen über den „Samson”-Umzug im Lungau aus den Jahren 1981 bis 1995 enthält nicht nur die regelmäßigen Ankündigungen, Berichte und Beschreibungen der jährlich wiederkehrenden Brauchbegehungen, sondern erweist sich auch als dauerhafter Spiegel aller möglichen, während der nun schon bald zweihundert Jahre währenden „Entdeckungsgeschichte” der von der Wissenschaft produzierten und im so genannten Rücklauf popularwissenschaftlich fixierten Deutungsmuster. So werden wie vor zweihundert Jahren in der Aufklärung auch in der Gegenwart in Bezug auf den „Samson”-Brauch kritische Stimmen vernehmbar. So etwa, wenn Wolfgang Bauer in seinem pointierten Essay „Samson als Werbeträger?” auf die Polemik des Lungauer Gauverbandes der Heimat- und Brauchtumsvereine gegen die kommerzielle Vermarktung des „Samson” als Markenzeichen für den Lungau durch das Gastgewerbe sowie touristische und sportliche Amateure und dergleichen verweist: „‚Es ist traurig, wenn eine historische Figur für derlei Mißbrauch herhalten muß!'”, sagen die Heimatschützer, und es wird empfohlen: „‚Gerade in Zeiten der EU sollten wir versuchen, unsere angestammten Werte, unsere ureigenste Volkskultur rar zu machen, anstatt sie brutal zu kommerzialisieren.'”[2031]

In der Kritik an solcher jüngsten Form des „Volks-Gebrauchs” der Identifikationsfigur des „Samson” bekundet sich offensichtlich ein weiterer inhaltlicher Wertewandel angesichts eines veränderten lebensweltlichen Umfeldes. Ein abermals neuer Brauchrigorismus verschafft sich als verstärktes Deutungsmuster Geltung. In der in der allerletzten Zeit geführten öffentlichen Polemik zwischen Brauchpflege und Hoteliergewerbe um die Frage der Berechtigung oder des Missbrauches des Symbols „Samson” hinsichtlich der Benennung und der Fassadenverzierung eines Appartementhotels in Obertauern – somit außerhalb der Talschaft des Lungaus – haben sich die Gemüter erhitzt. „Höhepunkt des Protestes”, so wird vermeldet, „soll im Juni 1996 eine internationale Tagung zu diesem Thema auf Schloß Mauerndorf werden! Dabei will [man] sich der Solidarität der Vertreter von Riesenfiguren aus aller Herren Länder versichern ...”[2032] Gemeint sind damit auch die „Experten” der Wissenschaft, die in dieser Kontroverse zur Stellungnahme und Parteinahme herausgefordert werden sollen.

Aber das ist bereits eine weitere „Geschichte” in der langen Reihe der Geschichten, die als Deutungsmuster für den Lungauer „Samson” elaboriert worden sind und die, solange solche „Geschichten” erfunden und erzählt werden, von der Vitalität des „Samson” im Volks-Gebrauch Zeugnis ablegen.



[2003] Überarbeiteter Wiederabdruck. Erstveröffentlicht unter: [Beitl 2001].

[2004] Die Wissenschaft entdeckt nun Samson & Co. Ein Symposion im Lungauer Mauterndorf soll den „Umgangsries" auf die Spur kommen. In: [Die Presse], 1996-05-21; [Beitl 1988]; darin der Beitrag [Scharfe 1988]); vgl. auch [Beitl 1998].

[2008] [Luidold 1996b]; – Zum „Samson” aus Murau vgl. [Friesz/Maroschek 1994], S. 50–65.

[2012] [JohlerR 1994]; Hingewiesen sei auch auf: [Weber-Kellermann 1973].

[2013] [Höplinger 1996b].

[2016] [Höplinger 1996b], S. 21.

[2022] [MartinF 1964].

[2027] [JohlerR/Nikitsch 1996], hier und nachfolgend S. 219.

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