Wie der Archäologe braucht der Fotografieforscher Zeit und Geduld. Nur wenige Fotografien sind nach wissenschaftlichen Kriterien verzeichnet. Im Gegensatz zu Museumsobjekten besitzen die meisten Fotografien nicht einmal eine Inventarnummer; auch Findbücher gibt es kaum, von klimagerechter Lagerung ganz zu schweigen. Um so beglückender ist der Augenblick, wenn aus verstaubten Schachteln Bilder ans Tageslicht gelangen, die seit fünfzig, vielleicht hundert und mehr Jahren kein Mensch mehr gesehen hat. Manche litten unter Zeit und schlechter Lagerung. Posierende Menschen sind nur noch verblasste Schatten und lassen die Jahre erahnen, die seit der Aufnahme vergangen sind. Andere fotografische Bilder erscheinen frisch und klar wie am ersten Tag. Da viele Bilder sich ins Nichts auflösen werden, scheint es um so dringender, sich verstärkt mit ihnen zu beschäftigen: mit den zu Dokumentationszwecken archivierten Fotografien, aber auch mit jenen, die bei der visuellen Feldforschung entstanden sind oder noch entstehen werden.
In einer Fotografie spiegelt sich immer die Zeit, in der sie entstanden ist. Fotografien sind wichtige Quellen zu Kultur und Lebensweise der Menschen. Dazu zählen die privaten Knipserbilder und Atelieraufnahmen genau so wie Fotografien, die Wissenschaftler angefertigten oder jene Bilder, die wir in illustrierten Büchern und in Zeitschriften finden. Sie können vermitteln, wie sich Städte, Dörfer und Landschaften verändert haben, sie geben Einblicke in Familienleben, in die Geschichte einer Region, eines Landes, in politische Umstände oder in Krieg und Not. Sie lassen vergangene Arbeitsabläufe und längst nicht mehr produzierte Gegenstände erkennen und sie können Biografien nachzeichnen.
Die volkskundliche Forschung teilt der Fotografie in ihrer fachgeschichtlichen Tradierung drei Rezeptionsebenen zu: Fotografie sollte erstens volkskundliche Objektivationen bewahren und dokumentieren. Dies geschieht von der Öffentlichkeit abgeschlossen im Museumsarchiv. Das Medium vermittelt, so scheint es, kaum neue Sachverhalte, sondern gibt bereits erörterte fototechnisch wieder. Die zweite Rezeptionsebene erhebt die visualisierten Zeugnisse zum Forschungsgegenstand. Die Fotografie erlangt den Status einer Quelle, die im Wesentlichen illustrativ verwendet wird und mit deren Hilfe sich wissenschaftlich relevante Fragen erörtern lassen. Über die Reproduktion in Ausstellungen und illustrierten Printmedien bekommen diese Bilder eine breite Öffentlichkeit. Schließlich tritt die Fotografie über ikonografische Aspekte, Fragen der Visualisierung oder fachgeschichtlichen Tradierung sowie ästhetische und kompositorische Komponenten selbst als Forschungsgegenstand auf. In der Praxis freilich gelingt eine Abgrenzung der Ebenen voneinander nicht immer. Dennoch können die drei Varianten fachgeschichtlich sehr wohl nebeneinander bestehen, wobei letztere im Prozess der Verwissenschaftlichung volkskundlicher Methoden erst spät ihren Anfang nahm.
Eine Eigenschaft, die der Fotografie zugeschrieben wird, ist ihr Wahrheitsgehalt. So gingen denn auch Generationen von Forscherinnen und Forschern wie selbstverständlich davon aus, dass eine Fotografie sehr nahe an der Realität liege, ja mehr noch, die Realität selbst widerspiegele und dementsprechend nicht weiter zu erklären oder zu interpretieren sei. Der Glaube ans reale Abbild wurde in der Frühzeit kulturhistorisch-dokumentarischer Fotografie so euphorisch geäußert, dass dabei oft das Abgebildete selbst auf der Strecke blieb. Diese Praxis demonstriert ein Briefwechsel von Heinrich Schliemann mit Rudolf Virchow. Der Archäologe berichtet dem Allroundgelehrten von seinen Grabungen am Mittelmeer: „Vielen Aufenthalt haben wir durch die massenhaften Komplexe griechischer Häuser, die nicht ohne die größte Mühe gereinigt werden können, um darauf [...] photographiert und endlich abgebrochen zu werden.”[3091] Wir wissen heute, dass der Glaube von der realistischen Abbildungsweise des Mediums Fotografie in die Irre führt. Mit meinem Text möchte ich das Bewusstsein schärfen, mit der Fotografie kritisch umzugehen. Wie jede historische Quelle erfordert auch das visuelle Medium für denjenigen, der mit ihr arbeiten will, eine eigene Herangehensweise und Methode zur Interpretation. Ebenso sind besondere Aspekte bei der Sammlung und Aufbewahrung von Fotografien zu berücksichtigen. Zunächst soll gezeigt werden, wie die Fotografie als bewahrendes und illustrierendes Instrument von der Volkskunde genutzt wurde.
Wesentliche Impulse für die volkskundliche Fotografie gingen von Fotografen, nicht von Wissenschaftlern aus. Sowohl ästhetische als auch inhaltliche Maßstäbe setzten die britischen Fotografen David Octavius Hill und Robert Adamson bereits am Anfang der Fotogeschichte. Sie fotografierten um 1850 schottische Fischer in deren gewohnter Umgebung, gemeinsam mit Booten und Arbeitsgeräten. Aufnahmen mit folkloristischem Inhalt wurden in städtischen Kunstgalerien, regionalen Gewerbeausstellungen sowie auf internationalen Expositionen gezeigt und gelangten so an eine größere Öffentlichkeit. Überdies entwickelte sich die volkskundliche Fotografie parallel zur ethnologischen und anthropologischen Fotografie, wobei letztere in den illustrierten Publikationen stärker zum Zuge kam. Der Grund hierfür liegt in der großen Publikumswirkung der Bilder, die zumeist mit Exotismen von fremden Menschen und Ländern aufgeladen waren oder aber makabre Abnormitäten ins Bild setzten.,
Die Volkskunde des 19. und frühen 20. Jahrhunderts war vom Bewahrungswillen geprägt. Hierzu diente die Fotografie als wichtigstes visuelles Hilfsmittel. In diesem Zusammenhang erweist sich eine Forderung des Volkskundlers Otto Homburger als programmatisch. Dieser bezog sich auf die museale Bedeutung volkskundlicher Fotografie und erhob das „Erhalten und Bewahren vergänglicher Werte” zur „ethische(n) Aufgabe”. Tauglich dafür seien beispielsweise die „kinematographischen Aufnahmen” genauso wie ein „Archiv von phonographischen Platten (...), in dem die verschiedenen Dialekte und Volksweisen festgehalten werden”. Am wirkungsvollsten zur Wiedergabe von „Äußerungen einer Kultur, die von Tag zu Tag im Rückgang begriffen ist”[3092] eigneten sich Fotosammlungen, die jedes größere volkskundliche Museum einrichten solle. Laut Homburger hatte Fotografie weniger eine didaktische Funktion, sondern sollte Aspekte einer früheren Volkskultur für die Nachwelt speichern. Hierbei sei eine eigene wissenschaftliche Methode entbehrlich. In diesem Ansatz spiegelt sich ein Wissenschaftsverständnis wider, nach dem sich volkskundliche Forschung in erster Linie um Dokumentation, Gliederung und Inventarisation zu kümmern habe und nicht um „eine theoretische Analyse, die von der Frage hätte ausgehen müssen, wer hier objektiviert, was objektiviert wird, und was diese Objektivationen dann jeweils für die Leute bedeuten”.[3093]
Den entscheidenden Schritt zu einer systematisierten Handhabe der Fotografie im volkskundlichen Forschungsfeld leistete 1896 Michael Haberlandt in einem Beitrag, der zum ersten Mal die Begriffe „Photographie” und „Volkskunde” gemeinsam im Titel erwähnt. Haberlandt (1860–1940), einer der Gründungsväter des Museums für Österreichische Volkskunde in Wien, vertrat eine ethnografisch-komparatistische Methode, die er auf ethnologische und volkskundliche Themen gleichermaßen anwandte. Haberlandts Intention war es, die „Schärfe und Genauigkeit” des Mediums in verstärktem Maße für die Belange der noch „jungen Wissenschaft der Volkskunde” einzusetzen. Dabei stand auch bei ihm eine bewahrende, dokumentierende Zielrichtung an erster Stelle: „Das ländliche Leben verstädtelt und mit ihm gehen die wertvollsten Zeugnisse unserer Entwicklung, der nationalen Vergangenheit unwiederbringlich verloren. Da gilt es in elfter und zwölfter Stunde einzugreifen; es gilt die Dinge selbst, und wo dies nicht angeht, wenigstens ihr Bild festzuhalten und für die Wissenschaft aufzunehmen.”[3094]
Angesichts unüberschaubarer volkskundlicher Themenfelder bedürfe es dringend der Klärung der ethnografischen Herangehensweise. Hierzu entwickelte er motivische Schwerpunkte fotografischer Abbildungspraxis, anhand derer sich der Lichtbildner im Feld orientieren solle: Erstens „anthropologische Aufnahmen von Typenbildern der ländlichen Bewohner.” Diese Bildgattung hätte der Forschung bislang zwar eine „größere Zahl von guten, wissenschaftlichen Abbildungen der schwarzen oder rothen Haut” beschert, nicht aber von den Menschen im eigenen Land. Im Weiteren gibt er deutliche Direktiven, wie zu fotografieren sei: „Erwünscht sind zwei Aufnahmen von jeder Person. a) strenge Enfacestellung, b) strenge Profilstellung. Womöglich Kopf und ganze Figur. Heller Hintergrund, vollständige Symmetrie der Körperhaltung. Mitphotographieren des Bandmaßes oder Maßstabes ist dabei unerlässlich. Dazu notiere man natürlich Name, Familie, Stamm, Wohnort, Alter, Stand etc. des photographierten Individuums.”[3095] Haberlandts Anweisungen entsprechen den Vorstellungen des französischen Kriminologen Alphonse Bertillon, der in den letzten beiden Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts ein standardisiertes „anthropometrisches System” entwickelt hatte, um damit die systematische Erfassung von Straftätern voranzutreiben. Neben fotografischer Ablichtung sah er zum Beispiel die Registrierung von Körpermaßen, besonderen Kennzeichen sowie die äußere und charakterliche Beschreibung der Delinquenten vor.[3096]
Zwei weitere Gruppen des fotografischen Feldes beinhalten nach Haberlandt die „Aufnahmen zur Hauskunde” und „Trachtenbilder”. Erstere seien weniger pittoresk als vielmehr neutral zu gestalten. Architekturen wie Kleidung könnten, so Haberlandt, verstärkt „Amateur-Photographen” ins Bild setzen, deren „Mithilfe (...) schon mehrmals, leider ohne sonderlichen Erfolg erbeten worden” sei. Von der Fotografierweise der „malerischen und ehrwürdigen Volkstrachten” hatte Haberlandt klare Vorstellungen: „Man beachte hierbei die charakteristischen Unterschiede zwischen Werktagstracht und Sonntags- oder Festtracht; ebenso achte man auf besondere Trachten bei verschiedenen Anlässen, wie Hochzeit, Taufgang, Firmung, Begräbnis u.s.w. Von jedem Costüm sind zwei Ansichten erforderlich: Vorder- und Rückenbild (...). Den Details (...) widme man ebenfalls besondere Aufnahmen.”[3097]
Haberlandts Text ist ein Beitrag zum frühen Gebrauch volkskundlicher Fotografie. Als einer der Ersten setzte er bewusst den Untersuchungsgegenstand in Verbindung zu seiner Visualisierung. Hier erkannte der Ethnograf die Notwendigkeit einer systematischen Vorgehensweise, wobei er freilich dem Sammelaspekt stets Priorität einräumte. Was Herangehensweise und Methode betrifft, so ließ sich Haberlandt von der Anthropologie inspirieren, welche als erste Disziplin damit begonnen hatte, die Fotografie von Menschen in einen wissenschaftlichen Funktionszusammenhang zu setzen. Indem Haberlandt den Prozess des fotografischen Abbildens als „fixieren” bezeichnet, kommt einmal mehr eine bewahrende Komponente zum Ausdruck. Fotografie ist für Haberlandt – dies zeigt der Titel des Textes – in erster Linie eine nützliche Hilfswissenschaft, die etwa im musealen Bereich fehlende Originale zu „vertreten” habe. Hierzu beruft sich der Autor auf die verbreitete Meinung, Fotografie bilde Wirklichkeit realistisch ab. Er fügte seinen Ausführungen fünf fotografische Wiedergaben ländlicher Architektur sowie eine Darstellung von „Rumänischen Bauernmädchen” hinzu, ohne im Text darauf Bezug zu nehmen.
Haberlandts Beitrag verdeutlicht eine ambivalente Entwicklung innerhalb des Findungsprozesses des Faches Volkskunde. Während sich die wissenschaftlich- museale Deutungselite zunehmend professionalisierte, wurde im Bereich der Kameratechnik, auf den „vaterländischen Eifer” der Amateure gebaut.[3098] Diese Gruppe von Fotografen, die Knipser also, folgt nach Pierre Bourdieu im Wesentlichen einer motivischen Tradition. Ihre Themenwahl verstieß nicht gegen „die Normen der kanonischen Ästhetik”.[3099] In der Tat lagen die volkskundlich interessierten Amateurfotografen in Österreich mit ihren ins Museum gesandten Arbeiten im Trend der üblichen volkskundlichen Bildthemen und richteten die Kamera nicht auf Motive, die soziale und technische Aspekte oder die städtische Kultur und Lebensweise wiedergegeben hätten.[3100]
Die formierende Wissenschaft bemühte sich um das Sammeln, Bewahren und Inventarisieren mit dem Fotoapparat. Überdies fungierte die Fotografie immer stärker als ein Medium, das dem wissenschaftlichen und öffentlichen Vortrag unterstützend zur Seite stand. Mehr und mehr volkskundlich orientierte Forscher traten mit ihren Bildern an die Öffentlichkeit und praktizierten damit eine neue Art der Rede, die sich nicht allein an rhetorischen Gesichtspunkten orientierte, sondern auf visuelle Eindrücke baute. In einem ähnlichen Kontext spielten volkskundliche Aufnahmen eine Rolle, die in einer wachsenden Zahl von fachlichen und populärwissenschaftlichen Periodika und Schriften abgedruckt wurden und die zudem auf eine kommerzialisierte volkskundliche Fotografie deutet.
Im Vorfeld des Ersten Weltkrieges wurde die verstärkte nationale Sinnstiftung mit Volkskultur in Österreich wie auch anderswo ideologisch vor allem innerhalb der Funktionalisierung von Volkskunst wirksam, die eng an die Möglichkeit einer öffentlichen Vervielfältigung gekoppelt war.[3101] Die Fotografie leistete dabei insofern einen Beitrag, als sie über Illustration und Reproduktion erst die Grundvoraussetzungen für die Verbreitung volkskundlicher Themen lieferte. Darüber hinaus erschlossen sich über das Visualisierungsmedium innerhalb der sich konstituierenden Volkskunde neue Präsentationsformen, die zunächst eng an eine illustrative Rolle in Zeitschriften und Büchern gekoppelt waren und dann nach 1918 verstärkt in volkskundlichen Ausstellungen zum Zuge kommen sollten. Währenddessen hatte die Fotografie weiterhin die Aufgabe der visuellen Bewahrung im Museum.
Den neugegründeten Volkskundemuseen in Wien, Basel oder Berlin schien die Fotografie zwar sammelnswert, die Ausstellungsqualitäten des Mediums wurden jedoch noch kaum erkannt. Dies mag verwundern, denn immerhin gehörten Fotoexponate von Trachtenmodellen und Objekten der Volkskultur bereits seit Beginn der Weltausstellungen 1851 zum Repertoire der Ausstellungsmacher. Die Museen wiesen entlang zu Originalexponaten. Die Ausstellungspräsentation beim volkskundlichen Museum sollte sich nach Rudolf Virchow im Wesentlichen an den Kunstmuseen orientieren,[3102] die ja ebenfalls noch keine reproduzierte Kunst ausstellten. So wird verständlich, warum der Fotografie in den volkskundlichen Museen hauptsächlich eine Depotfunktion zugewiesen wurde. Allerdings ist davon auszugehen, dass gerade die neue Institution der temporären Ausstellung sich – auf nationaler wie internationaler Ebene – selbstverständlicher des neuen Mediums bediente, war die Fotografie doch sowohl in handwerklich-innovativer, als auch künstlerisch-ästhetischer und kulturgeschichtlich-inhaltlicher Hinsicht gleichermaßen reizvoll.
Genau wie das Fach Volkskunde im „Kreuzungsbereich”[3103] der Disziplinen einem langen Selbstfindungsprozess unterzogen war, der wiederum konträre Herangehensweisen zutage förderte, sollte es einige Zeit dauern, bis das visuelle Medium bewusst als Quelle für die volkskundliche Arbeit eingesetzt wurde. Trotz der verstärkten Visualisierung volkskundlicher Themen mit Hilfe des Fotoapparates gab es, abgesehen von den erwähnten, wenig Schriften, die methodische Probleme im Umgang mit Fotografie problematisiert hätten – ein Umstand, der die von Hermann Bausinger erkannte Theoriefeindlichkeit des Faches Volkskunde um einen weiteren Aspekt erweitert. Hierbei entsprach die Herangehensweise einer diffusen Position der Volkskunde, die insbesondere ihr Verhältnis zu den Bildquellen noch bis in die 1960er Jahre charakterisierten sollte. Dies und die Tatsache, dass Völkerkunde und Anthropologie die Fotografie wesentlich früher zur Methode in der Feldforschung erhoben, führt uns zur Frage nach den charakteristischen Merkmalen volkskundlicher Fotografie.
Volkskundliche Fotografien sind hauptsächlich Zeugnisse materieller Objektivationen der Kultur. Sie gleichen damit völkerkundlichen Aufnahmen. Allerdings geht es bei der volkskundlichen Fotografie weniger um das Illustrative, Spektakuläre und Exotische, sondern um den dezent authentisierenden Blick auf die Volkskultur. Bis in die 1960er Jahre orientierte sich die volkskundliche Fotografie weitgehend an den Themen des Kanons – Handlungen wie Brauch, Fest und Fastnacht oder Objektivationen wie Tracht, Hausformen, bäuerliches Gerät sowie Volkskunst.
Die völkerkundliche Fotografie war durch ihre Außensicht geprägt. Sie stabilisierte ein Fremdenbild in Europa, das sich im Wesentlichen innerhalb eines kulturellen Gefälles bewegte. Gleichzeitig suchte sie über die Negation von Technik die betreffenden Kulturen visuell zu konservieren. Die Fotografie des volkskundlichen Kanons dagegen wirkte durch ihre Eigensicht auf Objektivationen und Menschen sinnstiftend nach innen. Die fotografierten und dann reproduzierten Gegenstände der heimischen Volkskultur weckten erst das Bedürfnis für den nostalgischen Blick zurück und trugen damit zur romantisierenden Sichtweise auf das kulturelle Artefakt bei. Dieser Prozess förderte eine Tendenz zur Mythisierung von der Volkskultur und konnte für den Rezipienten als Kompensationseffekt gegenüber bürgerlichen Verlustängsten wirksam werden.
Im Vergleich zur Völkerkunde sucht die volkskundliche Fotografie über die visuelle Distanz zum Objekt eine (kulturelle) Nähe des Forschers zu seinem Feld auszugleichen. Damit wiederum relativiert sich das Kennzeichen der Eigensicht volkskundlicher Fotografie im Vergleich zur völkerkundlichen Fremdwahrnehmung. In der völkerkundlichen Fotografie entsteht Distanz weniger durch das Weggerücktsein des Bildmotivs als über ein ethnozentristisches Grundverständnis, das sich durch kulturelle Polarisierung ausdrückt. Davon zeugen etwa Fotos von nackten „Eingeborenen” neben einem herrschaftlich posierenden weißen Forscher.
Die Gemeinsamkeit der beiden Fotogenres besteht darin, dass sie nur in Ausnahmen Formen der geschichtlichen, kulturellen und gesellschaftlichen Veränderungen thematisieren. Beide leisteten so einer Fiktion Vorschub, die kulturelle Belange, trotz des jeweils komplex wahrnehmbaren Wandels, als nicht berührt sah.[3104] Die neuere Auseinandersetzung mit der Rolle der Fotografie in der Volkskunde gibt dem Plädoyer für die Ergänzung des traditionellen Kanons um neue Themen, Kategorien und Forschungsfelder den Vorzug. Somit würde sich auch im visuellen Medium das veränderte Forschungsinteresse des Faches widerspiegeln.
Der entscheidende Impuls, welcher in der Europäischen Ethnologie und Volkskunde dazu führte, die Fotografie stärker in die Forschung mit einzubeziehen, stammte sicherlich von Jean Brunhes (1869–1932). Der französische Geograf verknüpfte seinen interdisziplinären Anspruch mit einer volkskundlich-ethnografischen Zielsetzung. Bereits vor der Jahrhundertwende begann er zu fotografieren und erwarb mit der Zeit umfassende, fast professionelle Kenntnisse in der Bildgestaltung. In seinem 1910 erstmals erschienenen Werk „La géographie humaine” druckte er über 270 Fotografien ab. Für Brunhes zählte das visuelle Medium zum „appareil d'observations”,[3105] dem er in der Präsentation einen gleichwertigen Platz neben den schriftlichen Zeugnissen einräumte. Brunhes' ethnografischer Ansatz wird auch bei den Bildunterschriften deutlich, die von der bloßen Beschreibung hin zur vergleichenden Interpretation führen.
Die erste, die seit Michael Haberlandt in bedeutenderem Umfang methodische Überlegungen in ihre Arbeit einfließen ließ, war Julie Heierli (1859–1938). Die Begründerin der Schweizerischen Trachtenforschung hatte schon lange vor der Jahrhundertwende in den eidgenössischen Alpengegenden Material für ihre ethnografischen Studien gesammelt. Heierli bediente sich virtuos verschiedener Bildquellen. Vor Ort arbeitete sie mit Atelierfotografen zusammen und bat ihre Gewährsleute um alte Fotografien, anhand derer sie die nicht mehr vorhandene ländliche Kleidung zurückverfolgte und in einen Gebrauchszusammenhang rückte.
Im Text geht sie immer wieder auf methodische Probleme ein: „Ich bemerke (...) ausdrücklich, dass es sehr am Platze ist, Aussagen alter Leute Vorsicht entgegenzubringen, da sie Sage und Wirklichkeit nur zu oft vermengen”; im Vergleich zur Befragung von Zeitzeugen sei eine Bildquelle eindeutig im Vorteil, da sie oftmals Objektivationen „wahrheitsgetreuer”[3106] überliefere. „Die Photographien geben die beste Erklärung”,[3107] dennoch müsse man immer genau hinsehen, ebenso seien stets Vorkenntnisse zu den abgebildeten Gegenständen erforderlich. Die gelernte Pädagogin hatte im Gegensatz zu den meisten zeitgenössischen Volkskundlern keine Berührungsängste mit der Fotografie und mit anderen visuellen Techniken. In Bezug auf eine kluge und durchdachte Methodik – die Volkskundlerin praktizierte bereits in den 1890er Jahren eine Form von Oral History – war sie ihrer Zeit lange voraus. Blättert man in den Mappen ihres Nachlasses, so erstaunt der unbekümmerte und doch souveräne Umgang mit den Bildern. Heierlis Kartons erinnern stark an die berühmten Bildkreationen Aby Warburgs, der zu selben Zeit den ikonografischen Ansatz für die Kunstgeschichte entwickelte.
Unter der Federführung des Ökonomen Roy E. Stryker (1893–1975) schwärmten zwischen 1935 und 1944 rund achtzig Fotografen in den Staaten der USA einschließlich Puerto Rico aus, mit der Vorgabe, das ländliche Amerika, die Arbeits- und Lebensbedingungen der Landbewohner, Gebäude, Siedlungen, Artefakte und kulturelle Objektivationen in den Städten, aber auch den technischen Fortschritt und die angesichts des Zweiten Weltkrieges zunehmende Bedeutung der Rüstungsindustrie mit dem Fotoapparat aufzunehmen.[3108] Die Regierung Roosevelt hatte diese wohl umfangreichste foto-visuelle Feldstudie des 20. Jahrhunderts der Farm Security Administration (FSA) im Zuge der New-Deal-Politik ins Leben gerufen.
Stryker ging davon aus, dass nur ein wohl informierter Fotograf Bilder produzieren kann, die Verständnis und Mitgefühl zugleich ausdrückten. Die Fotografen hatten zunächst die Aufgabe, sich ausführlich über ihr zugewiesenes Feld – Menschen, Siedlung, Landschaft, Geschichte – zu informieren. Danach sollte am Schreibtisch ein „Shooting Script” als Arbeitsgrundlage erstellt werden. Hinzu kamen Trainingseinheiten für Kontakte mit Einheimischen und Interviewsituationen. Die Fotografen wurden ermuntert, auch über ihr eigentliches Thema hinausgehende scheinbare „Nebensächlichkeiten” der Alltagskultur, wie Kleidung, Automobile, Arbeitsgeräte, Nahrung, Werbung etc. zu berücksichtigen und verweilten oft mehrere Monate im jeweiligen Aufnahmegebiet. Schließlich war für jedes einzelne Bild ein exaktes Aufnahmeprotokoll zu erstellen, in dem Daten wie Zeit, Ort, Name und Funktion der Abgebildeten fixiert wurden. So unterschiedlich die vielen tausend Fotografien sein mögen, allen ist doch eines gemeinsam: Die am FSA-Projekt beteiligten Fotografinnen und Fotografen entwickelten einen kollektiven Duktus in der Bildauffassung, der bis heute prägend für eine ethnografisch orientierte Richtung in der Dokumentation von ländlicher Lebenswelt und Alltag bleiben sollte: Die Bilder idyllisieren nicht, sie wirken uninszeniert; sie personalisieren die Menschen und zeigen sie in ihrer gewohnten Umgebung.
Während der 1930er Jahre unterschieden sich die Arbeitsweisen der Fotografen zum Beispiel in Österreich grundsätzlich vom dokumentarischen Ansatz der amerikanischen Feldforscher. Zudem waren jene Fotografinnen und Fotografen, die mit einem ähnlichen Blickwinkel wie Strykers Leute arbeiteten, durch die Nazis gezwungen, das Land zu verlassen, oder mit Arbeitsverbot belegt worden. In der Schweiz hingegen kristallisierte sich eine Hand voll Fotografen heraus, in deren Arbeitsweise ebenfalls sozialdokumentarische Anklänge zu finden sind. Einer von ihnen war Ernst Brunner (1901–1979). Beeinflusst von der Formensprache des Neuen Bauens und der Neuen Fotografie wanderte der Einzelgänger und Perfektionist für seine Aufträge mit seinem Fotoapparat tagelang in abgelegenen Bergtälern umher. Für eine Aufnahme konnte er stundenlang auf den geeigneten Stand der Sonne warten. Brunner lernte Arbeits- und Lebensweisen der Menschen kennen, indem er diese immer wieder besuchte und sich mit ihnen unterhielt.
In Brunners fotografischem Werk spiegeln sich zwei dokumentarische Herangehensweisen wider. Einerseits ist es die rückwärtsgewandte, aber unprätentiöse Sichtweise auf die „Scholle”, auf Objektivationen der Volkskultur, auf die arbeitende Landbevölkerung: „Seine Bilder verleiten immer wieder zur Annahme, die vorindustrielle Welt habe sich während Jahrhunderten nicht verändert. So haftet ihnen ein unauflösbarer Widerspruch an: Der Photograph, der mit seinen Dokumenten das historische Bewußtsein zu schärfen trachtete, zementierte mindestens teilweise ein ahistorisches Bild der Vergangenheit.”[3109] Wenn Brunner die ländliche Arbeit oder die Gegenstände des täglichen Bedarfs darstellt, so tut er dies, ohne die Arbeit zu idealisieren oder die Gegenstände zu isolieren. Seine Arbeitsdarstellungen zeigen Menschen, die sich in stetem Kampf mit den ungünstigen geografischen Bedingungen befinden, die sich für eine karge Ernte den Rücken krumm schuften. Auch die Kinder bleiben von der Plackerei nicht verschont. Stets ist sein von der Neuen Fotografie geschulter Blick für Details präsent. Etwa, wenn er die armseligen, aber blank geputzten Essbestecke einer Alpfamilie ablichtet, die an einer hölzernen und zudem mit Darstellungen von Gämsen verzierten Türe befestigt sind, oder wenn er Licht und Schatten als graphisches Leitmerkmal in seine Kompositionen einfließen lässt.
Anlässlich der Berliner Ausstellung „Die Kamera” hatte Heiner Kurzbein, Referent am Propagandaministerium, die Bedeutung der volkskundlichen Fotografie für das sich etablierende Hitler-Regime postuliert. Im Sinne einer völkischen Ethnisierung müsse die Fotografie „als die berufene Vertretung einer hohen deutschen Volkskunst” angesehen werden. „Die Förderung der Fotografie im rassischen Sinne wird dem Berufsfotografen überdies in ganz besonderen Maße zukommen.”[3110] Wichtigstes Standbein der ideologisch verbrämten volkskundlichen Fotografie[3111] war ihre massenhafte Verbreitung in der gleichgeschalteten Presse und in einer Reihe pseudowissenschaftlicher Zeitschriften,[3112] sowie in den Buchveröffentlichungen der Autorenfotografen wie Erna Lendvai-Dircksen, Hans Retzlaff, Erich Retzlaff und Erika Groth-Schmachtenberger, mit denen der Markt in den 30er Jahren überschwemmt wurde.[3113]
Dass es im Bereich der Ideologiebildung nicht um den wissenschaftlichen Diskurs im Allgemeinen und um einen ethnografisch-kritischen Umgang mit dem Medium Fotografie im Besonderen ging, zeigen Engagement und Einbindung der Volkskunde in die Forschungs- und Lehrgemeinschaft „Das Ahnenerbe”.[3114] Die Leitung der „Außenstelle Süd-Ost” des SS-Ahnenerbe hatte im September 1938 der Volkskundler Richard Wolfram (1901–1995) an der „Lehr- und Forschungsstätte für germanische Volkskunde” in Salzburg übernommen.[3115] Bei seinen umfangreichen Forschungen im Salzkammergut nutzten Wolfram und seine Mitarbeiter die fotografische und filmische Aufnahme als primäre Erhebungsmethode.[3116] Nachdem im Oktober 1939 Himmler von Hitler per Erlass beauftragt worden war, die „Zurückführung der Reichs- und Volksdeutschen im Ausland”[3117] in die Wege zu leiten, begann Wolfram umfangreiche fotografische und filmische Feldstudien in Südtirol, die mit Requirierungsaktionen von Kulturgütern einhergingen.[3118] Wolfram Sievers, Reichsgeschäftsführer des „SS-Ahnenerbe”, erstellte im März 1940 im Rahmen der „Kulturkommission der Amtlichen Deutschen Ein- und Rückwandererstelle” mit Richard Wolfram einen Organisationsplan für die Aufnahme der ländlichen Kultur – von Bräuchen, Volkstänzen, Baudenkmälern – in Südtirol. Die Ergebnisse wurden im Juli 1943 in Innsbruck in der unter anderem mit fotografischem Material bestückten Wanderausstellung „Das deutsche Bauernhaus an der Südgrenze des germanischen Lebensraumes” der Öffentlichkeit vorgestellt. Nach eigenen Angaben hatte Wolfram in Südtirol innerhalb von zweieinhalb Jahren circa 5.000 volkskundliche Aufnahmen geknipst.[3119] Im Vergleich zu den Bildern eines Ernst Brunner wirken Wolframs Fotografien amateurhaft. Die Momentaufnahmen sind öfters unscharf, manchmal ist die Belichtung misslungen. Der Fotograf nimmt auf ein motivisches oder ästhetisches Timing scheinbar wenig Rücksicht. Die Bilder verraten einen unpersönlichen und distanzierten Blick auf Mensch und Brauch.
Dennoch wird aus den Aufnahmen bisweilen eine Arbeitsweise ersichtlich, die sich ansatzweise am modernen Bildjournalismus orientiert. Volkskulturelle Praktiken etwa werden in Bilderfolgen wiedergegeben. En passant geknipst sind die Bilder unprätentiöse Dokumente einer frühen, wenn auch politisch instrumentalisierten, ethnografisch-visuellen volkskundlichen Feldforschung. Demgegenüber überzeugen die Fotografien von Erika Groth-Schmachtenberger mit ihrer professionellen Bildauffassung. Im Verlauf der 30er und 40er Jahre hatte die freie Fotografin mehrere Reisen in Österreich unternommen, um volkskundliche Bräuche und Menschen mit ihren Leica- und Rolleiflex-Kameras aufzunehmen. Aus dem Jahr 1939 überliefert ist eine Serie von Bildern über die Sternsinger in Ebensee/Oberösterreich. Die Nachtaufnahmen sind zum Teil ohne Blitzlicht in der vor Ort vorgefundenen Lichtsituation entstanden. Groth-Schmachtenberger dokumentiert nicht nur die Akteure des Brauches, sondern hält auch die Zuschauer der Zeremonie fest: Ein Mann mit Hut beobachtet neben anderen Schaulustigen das Treiben der Akteure. Regentropfen, Rauchschwaden und ein Sternenrequisit zeichnen stimmungsvolle Konturen im Gegenlicht. Groth-Schmachtenbergers Fotografien sind eher im Duktus der modernen Reportagefotografie gehalten, die nicht zuletzt auf Licht-und-Schatten-Effekte setzt. Im Gegensatz dazu tendierten Hans Retzlaff und Erna Lendvai-Dircksen zu einer monumentalisierenden Typenfotografie einer Trachtenherrlichkeit, die in den 30er Jahren längst nicht mehr existierte: Zu sehen sind Menschen, die in ihrer Verkleidung namenlos bleiben, deren Identität zugunsten einer Ideologie des „Volkskörpers” geopfert wird.
Der Blickwinkel auf volkskundliche Motive wurde sowohl in publizistischer als auch in volkskundlich-wissenschaftlicher Hinsicht fast ausschließlich von einigen wenigen Fotografinnen und Fotografen geprägt. Sie vermittelten ein Bild der Volkskultur, das in ihrer idyllisierenden Rückwärtsgewandtheit, ihrer germanozentrischen Sichtweise und in ihrer an völkischen Idealen ausgerichteten Grundtendenz die volkskundliche Bildrezeption in eine einzige Richtung bündelte. Das Medium Fotografie leistete somit der Gleichschaltung von volkskundlicher Wissenschaft, ihrer öffentlichen Präsentation in Vortrag, Publikation und Ausstellung, entscheidenden Vorschub, wie er über die textlich-sprachliche Ebene allein kaum möglich gewesen wäre. Für ihre Feldstudien hatten Volkskundler wie Richard Wolfram mit ihrem „Beweis- und Agitationstrieb”[3120] in der Fotografie ein probates Aufnahmeverfahren gewählt, das die rassistisch- expansiven Ziele des Regimes in Einklang bringen konnte mit eigenen (pseudowissenschaftlichen) Forschungen.
Obwohl die Trachtenfotografie seit den 1950er Jahren als volkskundliches Bildgenre keine Rolle mehr spielte, hat sie bis heute überlebt. Bei ihren Besuchen in der Provinz nutzen nicht selten vor allem hochrangige Politiker die Gelegenheit, sich mit feschen Trachtenmaderln ins Bild rücken zu lassen. Auch die Fremdenverkehrsvereine verwenden „einheimische” Frauentracht, wenn etwa für kulinarische Spezialitäten, Baudenkmale oder landschaftliche Besonderheiten geworben werden soll. Die Ergebnisse lassen – um mit Gerhard Jagschitz zu sprechen – zumeist auf einen illustrativen bis nostalgischen Zugang[3121] schließen: altväterliche Illustrationen als etwas Urtümliches, als etwas „jenseits aller kulturellen Spezifik” Stehendes oder „auch etwas genetisch sehr Frühes vor aller kulturellen Differenzierung”,[3122] als etwas volkskundlich und visuell Authentisches – etwas, das man nicht auszusprechen braucht. Gerade Hermann Bausinger hatte bereits zu Beginn der 1960er Jahre die Gefahren dieser Praxis allgemein erkannt: „Die Darstellung des ‚Malerischen' aus der Vergangenheit bedeutet oft nicht nur eine Flucht aus dem geschichtlichen Augenblick der Gegenwart, sondern paradoxerweise aus der Geschichte überhaupt.”[3123]
Das Fach seinerseits hat die Fotografie als Quelle sozial-historischen Argumentierens erst spät entdeckt. Noch als sich die Volkskunde bzw. Empirische Kulturwissenschaft oder Europäische Ethnologie längst inhaltlich auf eine neue Marschrichtung festgelegt hatte, stellte gerade der fachliche Umgang mit Fotografie, sei es in ihrer Eigenschaft als wissenschaftlich-praktisches Hilfsmittel im Feld, sei es als methodischer Ansatz, eine rückwärtsgewandte Kontinuität dar, die in anderen inhaltlichen Bereichen bereits vehement hinterfragt worden war. Es scheint so, als hätte sich die Volkskunde/Empirische Kulturwissenschaft/Europäische Ethnologie aller progressiven inhaltlichen Innovationen zum Trotz die Fotografie als Guckfenster zurück in eine damit unkritisch wahrgenommene Vergangenheit bewahrt. Gleichzeitig blieben die Möglichkeiten der weiterhin meist nur illustrativ gebrauchten Fotografie als Quelle unausgeschöpft.
Amerika und Frankreich. Der Fotograf und Anthropologe John Collier (1913–1992)[3124] ging als erster den Fragen nach, welche anderen Funktionen die Fotografie außer der Illustration übernehmen könne und wie die Fotografie unmittelbar als Quelle für die Forschung zu nutzen sei. Der Begründer der Visual Anthropology wählte eine Kombination von narrativer Befragung und Fotointerview, die bei biografischem oder sozialhistorischem Forschungsinteresse zu erhellenden Ergebnissen führen kann. Starken Einfluss auf die Fotokundler des Faches übte die Studie von Pierre Bourdieu aus, der in den 1960er Jahren mit einer Arbeitsgruppe die sozialen Gebrauchsweisen der Fotografie untersucht und sich dabei mit Fotografierweise, Fotoalben und der Rezeption von Fotografien im privaten Kontext befasst hatte.
Demgegenüber wurde in der deutschen Volkskunde das visuelle Medium weiterhin hauptsächlich illustrativ verwendet. Die Fotografieforschung begann sich erst aus der Bildforschung der 1960er Jahre zu entwickeln. Als einer der ersten stellte Wolfgang Brückner quellenkritische Überlegungen an. Bei seinen Forschungen, die sich hauptsächlich auf Fotoalben und Bildnachlässe konzentrierten, lag ihm vor allem ein „sozio-kultureller Erkenntnisertrag”[3125] am Herzen. In Anspielung auf ein Zitat Benjamins forderte er einen allgemeinen, fachwissenschaftlichen Umgang mit der Fotografie: „Wir sind bislang allesamt Analphabeten gegenüber der Lesbarkeit von Zeugnissen aus 150 Jahren Existenz des Mediums Fotografie.”[3126] Angesichts der zumeist „oberflächlichen Art” in der Praxis und der Tatsache, dass die „Geschichtsschreibung der Fotografie (...) noch völlig am Anfang” stehe, seien verstärkt „quellenkritische Kategorien zu entwickeln”.[3127]
Der Regensburger Kongress der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde im Jahr 1981 brachte die Wende für die Akzeptanz des Mediums Fotografie in der deutschsprachigen Volkskunde. Diskutiert wurden zum ersten Mal die Zusammenhänge von „Fotografie und Wirklichkeit” sowie quellenkritische Fragestellungen. Bernward Deneke etwa erkannte dabei die Fotografie als ein wichtiges Dokument zur Darstellung des Alltags. Das Private stand in Form des Portraitfotos bei ihm im Vordergrund der Betrachtungen. Die Fotografie sei stets „retrospektiv” ausgerichtet und liefere einen „erstarrte(n) Moment der Geschichte, dem ein technisches Gerät, dem technische Vorgänge Authentizität und Gegenwärtigkeit verliehen.”[3128]
Damit hatte Deneke den Sonderstatus der Fotografie gegenüber anderen Bildgattungen angesprochen. Er führte so die vor allem im 19. Jahrhundert geführte Debatte um den Stellenwert des technischen Mediums Fotografie sowie um die Realitätsnähe der Darstellung innerhalb der Kunst weiter und übertrug sie auf volkskundliche Themen. Insgesamt maß Deneke den Bildern innerhalb der Erinnerungsarbeit nur geringen Stellenwert zu. Er akzeptierte Fotografie zwar „zur Veranschaulichung von Situationen und Ereignissen der Vergangenheit” als „eine vorzügliche Quelle”.[3129] Die Ergebnisse seien verknüpft mit weiteren Bildinformationen, die wie die beistehenden Texte erläuternd, dokumentierend oder interpretierend herangezogen werden sollten. Deneke erweiterte zwar die volkskundlichen Möglichkeiten der Fotografie um den Aspekt des ‚Alltags'. Ausgespart bleibt bei ihm aber der gesamte Bereich der öffentlichen Fotografie wie auch der Bereich der sozialhistorischen Fotografie. Zudem findet die für volkskundliche Belange überfällige Klarstellung der methodischen Vorgehensweise nicht statt.[3130]
Einen wichtigen Schub für die theoretische Beschäftigung mit Fotografie und Volkskunde brachte Utz Jeggles Kritik über die Praxis der Verwendung fotografischer Quellen. Jeggle sprach sich dagegen aus, Fotografie lediglich als Anschauungsmaterial zu produzieren, denn sie sei ihrer jeweiligen Entstehungszeit entsprechend manipulierbar. So seien die Ergebnisse volkskundlicher Fotografie oft „markante, rassebewußte Bauernschädel, die man jeglicher Lebendigkeit beraubt; sie sitzen da als Träger eines Ausdrucks, das Foto macht sie zu Masken und erweist eine Wissenschaft, die sich solcher Bilder bedient, als desinteressiert an menschlichen Verhältnissen”.[3131] Die Stärken der Fotografie würden von den betreffenden Forscherinnen und Forscher meist nicht wahrgenommen. In der Praxis komme eine Spaltung zwischen Feld und Forscher zum Ausdruck, die sich über den falschen Gebrauch der Fotografie noch verstärke: „Man sammelt volkskundlich Relevantes auf und hält es fotographisch fest, ohne seine Bedeutung verstehen zu können.”[3132] Jeggle fordert eine Methode, die den drei Faktoren Fotografie, Forschung und Objekt gerecht werden könne. Hierzu wäre zunächst eine Beschreibung des betreffenden Bildes zum Beispiel nach kunstgeschichtlich-ikonografischen Mustern vorzunehmen; erst danach könnte die Analyse und Interpretation der Fotografie erfolgen.
Utz Jeggle war mit seinem quellen- und forschungspraktischen Ansatz einer der fachlichen Wegbereiter für die fotokundliche Studie von Ernö Kunt (1948–1994), eine Untersuchung, welche die bis dahin stärksten Auswirkungen auf die Diskussion über die Relevanz der Fotografie als Quelle innerhalb der Volkskunde auslöste. Kunt verwendete für sein Konzept der Visuellen Anthropologie sowohl ethnologische, soziologische als auch kunstgeschichtliche Modelle der Bildanalyse.[3133] Hierbei dehnte er das Forschungsfeld Fotografie erheblich aus, das sich an der umfassenden Visualisierung des Alltags sowohl in ländlichen als auch in industriellen und städtischen Gesellschaften sowie des öffentlichen Lebens orientierte. Die Fotografie habe seit ihrer Entstehung die Kulturforschung zwar „revolutioniert”, als methodisches Mittel aber mit der rasanten Entwicklung im Fach kaum Schritt halten können. Als Forschungsgegenstand eigneten sich nach Kunt nicht nur sämtliche private Fotografie, sondern auch Sekundärquellen wie Zeitungen und Zeitschriften, die ja einen erheblichen Teil zur Vervielfältigung von Bildern beitragen und deren Bilder sich neben anderen im visuellen Gedächtnis der Rezipienten einlagerten.
In seinem von der Ethnologie geprägten Zugang zur lebensgeschichtlichen Fotografie unterscheidet er deren Gebrauchsweisen methodisch und definiert für die Herangehensweise drei Bedingungen. Erster Zugang ist eine ikonologische Herangehensweise, die „Vorbilder” erfassen und entschlüsseln soll. Genauestens müssten dann die Aufnahme und der entstehungsgeschichtliche Kontext – die eventuelle bildliche Inszenierung von Ritualen – untersucht werden. Schließlich seien die Zusammenhänge des Bildgebrauchs, also die ideelle oder wirtschaftliche Nutzung und Verwertung der Fotografie in die Fragestellung miteinzubeziehen. Sein Gebrauchs- und Umgangsinstrumentarium berücksichtigt neben der systematischen Inventarisation und der Beschreibung des fotografischen ‚Environments' auch die Datenerhebung vor Ort anhand von Interviews und Fragebögen sowie die Einbeziehung eventueller schriftlicher Quellen.
Wie Kunt ging auch Nils-Arvid Bringéus von einem weitgefassten Bildbegriff aus, als er zu Beginn der 1980er Jahre für die Einführung des Begriffes „Bildlore” im volkskundlich- bildwissenschaftlichen Kontext plädierte und damit innerhalb der Diskussion um die Rolle der Bilder in der Volkskunde neues Terrain betrat. Als Forschungsrichtung müsse die Bildlore, so Bringéus, wie die Folkloristik international ausgerichtet sein, soziale Grenzen überschreiten und mit einer uneingeschränkten zeitlichen Perspektive arbeiten. Die Hauptaufgabe der Bildlore sei die Offenlegung von wertenden Bildbotschaften sowie das Studium der Bildwirkung in sozialen Interaktionen. Hierzu zieht Bringéus ein ikonografisches Vorgehen in Betracht. Überdies misst er der Bildbeschreibung und -analyse sowie der Darlegung des Entstehungskontexts im Rahmen eines „Traditionsprozesses”[3134] fundamentalen Wert zu. Konsequenterweise hat Bringéus bei der Auswahl der Bildquellen keine Berührungsängste. Je nach Forschungsintention seien genuin volkskundliche Bildmedien wie Bilderbogen und Knipserbilder genauso heranzuziehen wie Werbe- oder Illustriertenfotos.
Die Fotografie trug insbesondere vor 1945 dazu bei, den volkskundlichen Kanon für das wissenschaftliche Fachverständnis thematisch festzuschreiben. Während des Nationalsozialismus wäre ohne eine massenweise Verbreitung der volkskundlichen Fotografien die Zementierung einer rückwärtsgewandten, am Ländlich-Bäuerlichen und am Schollegedanken orientierten völkischen Ideologie kaum möglich gewesen. Sowohl die bekannten Autorenfotografen mit ihren typisierenden und idyllisierenden Bildern, als auch volkskundliche Laienfotografen an deutschen und österreichischen Universitäten und Museen wirkten daran aktiv mit. Der völkische Blick auf das Feld überlagerte dabei die ethnografischen und sozialdokumentarischen Zugangsweisen. Vom visuellen Medium maßgeblich beeinflusst wurde nach 1945 die Akzeptanz ‚neuer' Forschungsfelder wie Arbeiteralltag, Umgang mit Technik und Jugendkultur. Hierbei kommen im Forschungsfeld interdisziplinäre Ansätze wie teilnehmende Fotobeobachtung, Fotointerview und substituive Fotobefragung zum Einsatz, die den Methodenpluralismus des Faches Volkskunde auf internationaler Ebene widerspiegeln. Der fundierte wissenschaftliche Zugang orientiert sich insbesondere am analytisch- ikonologischen Verfahren, das einige Kunsthistoriker seit Beginn des 20. Jahrhunderts entwickelt hatten.
Der amerikanische Fotohistoriker Alan Trachtenberg postulierte in Anlehnung an Ernst Gombrichs Theorem vom Sehenlernen: „To read an image is to write upon it, to incorporate it into a story.”[3135] Außer dem, was im Bild direkt sichtbar sei, gelte das Interesse vor allem jenen Faktoren des Bildes, die im Verborgenen liegen. Unverzichtbar für das Verstehen von Fotografien sei die Herstellung des Kontextes als Teil eines Prozesses, in dem die Fotografie in ihren visuellen und inhaltlichen Teilen einer Art Revision zu unterziehen sei: Kontextualisierung als Grundvoraussetzung für die Analyse, die Trachtenberg mit rewriting bezeichnet. Helmut Eberhart konkretisierte dies für die Volkskunde, als er forderte, „das Foto nicht nur hinsichtlich seines Inhaltes, sondern auch seines gesellschaftlichen Kontextes zu untersuchen oder anders gesagt: Welche Funktion übt das Foto in einer bestimmten Gruppe von Menschen aus (für das Familienalbum, als Geschenk, Festtagsgruß, Werbeträger, Wandschmuck usw.), und welche Rolle spielt die Fotografie in der alltäglichen Lebenswelt?”[3136] In jedem Fall müsste die Frage nach dem ursprünglichen Gebrauchszusammenhang und dem historischen Kontext gestellt werden.
Eberhart nennt ferner motivliche, inhaltliche und funktionale Aspekte, die bei der Arbeit mit Fotos zu beachten seien. Innerhalb der Kontextualisierung von Fotografien ist es hilfreich, das visuelle Medium einem bestimmten Genre zuzuordnen. Hierzu bieten sich an: die „öffentliche” Fotografie, die „kulturhistorische” Fotografie, die „private” Fotografie und die „künstlerische” Fotografie. Kennzeichen der „öffentlichen” Fotografie ist ihr Ursprung in Zusammenhang mit einer publizistischen Verbreitung via Presse, Werbung, Internet etc.; möglich ist aber auch eine Präsentation in öffentlichen Räumen wie etwa Museen und Galerien. Die „kulturhistorische” Fotografie betrifft all jene Lichtbilder, die zu Dokumentations- und Inventarisierungszwecken oder im wissenschaftlichen Auftrag entstanden sind. Die „private” Fotografie will biografische Stationen zum persönlichen Gebrauch in visueller Form dokumentieren. Hierzu zählen sowohl Profiaufnahmen als auch[3137] Thematisiert werden aber auch Arbeit und Freizeit. Zu finden sind diese Fotografien meist im privaten Archiv von Fotoalbum, Fotokiste oder Diamagazin. Die „künstlerische” Fotografie schließlich ist Teil eines kreativen Prozesses. Sie wirkt grenzüberschreitend und kann sowohl in öffentlichem als auch in sozial- und kulturhistorischem Zusammenhang stehen.
Erwin Panofsky[3138] entwickelte Aby Warburg folgend einen ikonologischen Ansatz für die Bildanalyse. Sein Modell umfasst im Wesentlichen die Beschreibung, die ikonografische Betrachtung sowie die Interpretation und Analyse. Unbeachtet ließ Panofsky individuelle Sehgewohnheiten, die aber teilweise in erheblichem Maße in die Rezeption von Fotografien mit einfließen. Hierzu lieferte Roland Barthes ein schlüssiges Konzept: Sein bildphänomenologischer Ansatz spaltet die Sinnfrage nach den Codes in der Fotografie auf in Nachrichten der Konnotation und Denotation. Unabhängig von der ikonografischen Qualität der Fotografie schlug Barthes sein Modell für all jene Fotografien vor, die „nachdenklich machen”[3139] und die das Merkmal eines Bedeutungsüberschusses aufweisen, der jenseits des sichtbaren Potentials einer Fotografie liege. Bei der Vergegenwärtigung von Vergangenheit übernimmt nach Barthes die Fotografie die Zeugenschaft, allerdings nicht über die jeweils abgebildeten Personen, Objekte etc. sondern über den Faktor der Zeit. Dies wiederum kann dann entscheidend sein, wenn die betreffende Fotografie historisierende Assoziationen weckt.
Folgendes Analysemodell greift die von Panofsky und Barthes aufgestellten Theoreme auf und bündelt sie. Als Prämissen gelten folgende Voraussetzungen: 1. Die Fotografie als volkskundliche Quelle steht gleichberechtigt neben anderen Bildmedien. 2. Die Realitätsnähe in der Wiedergabe sollte zugunsten einer qualitativen und diskursiven Strategie von[3140] Bildwahrnehmung und Bildinterpretation jeweils in Abhängigkeit des Erkenntnisinteresses gewichtet werden.
Tabelle 10.1.
Deskription (Informationen, die vom Foto resultieren) | Wahrnehmungskontext - Thema, Inhalt, Maße - Bildbeschreibung - ikonische, direkt vom Bild ausgehende Nachricht (codierte: Symbole, Allegorien; uncodierte: Bildgenre), Konnotation |
Analyse (Informationen, für die weitere Quellen notwendig sind) | Visueller Kontext - politisch-gesellschaftlicher Zusammenhang - Autor, Fotograf, Herkunft des Bildes - Intention der Fotografie - Beschriftung und Bildlegende - Quellenkritik, Verwertung, Rezeption |
Konnexion (Informationen aus weiteren Bildquellen) | Ikonologischer Kontext - Vergleich - Bedeutung innerhalb einer Reihe - Bezüge zur Bildgeschichte - historischer Zusammenhang - Interpretation |
Zunächst soll in einer Phase der Deskription die jeweils vorliegende Fotografie möglichst exakt beschrieben und ihr formaler Aufbau sowie die Komposition bezeichnet werden. Weitere Merkmale betreffen das Thema des Bildes, Inhalt und Maße, sowie das Genre (uncodierte Nachricht). Dazu gehört auch die Aufnahme von schriftlichen Vermerken auf der Fotografie, die etwa Hinweise auf ihre Provenienz liefern. Den Abschluss der Wahrnehmungsphase bilden die verschiedenen Möglichkeiten der Konnotation, die allerdings je nach Kenntnisstand und Intention des Rezipienten unterschiedlich ausfallen können. Benannt werden müssten sichtbare Symbole und Allegorien (codierte Nachricht).
In der Analysephase kann der textliche oder grafische Inhalt einer illustrierten Publikation mit den darin abgedruckten Fotos in Beziehung gesetzt werden. Auch eventuelle Belege in anderen Quellen und Archivalien, die sich entweder auf eine vorgefundenen Fotografie, das Bildmotiv oder den Autor beziehen, sind von Bedeutung. Dann sollte der allgemeine wissenschaftstheoretische Diskurs zu identischen oder ähnlichen Fotografien in anderen Medien beachtet werden. Zur Sprache kommen muss außerdem eine etwaige Einbindung der Fotografie in den Text, die Funktion der Bildunterschrift und die Quellenkritik.
Die Konnex-Phase schließlich konzentriert sich auf den historischen Zusammenhang, in dem die Fotografie steht. Zu berücksichtigen sind andere Bildquellen mit ähnlichen Motiven oder schriftliche Quellen, die Bezüge zur betreffenden Fotografie aufweisen. Erst nach der stufenweisen Kontextualisierung kann eine Interpretation des fotografischen Beispiels erfolgen.
Neben dreidimensionalen Objekten sowie Grafiken, Zeichnungen und Ölgemälden stellt das Medium Fotografie die dritte Säule in den Museumsammlungen dar. In den In den Kommunalarchiven gehören Bilder ebenso wie Urkunden, Akten und Plänen zu den bedeutendsten historischen Quellen. Die Aufgabe der betreffenden Behörden und Institutionen ist es, den fotografischen Bestand zu sichern, zu ordnen und zu erschließen. Die Bilder gelangen über private Nachlässe, Schenkungen oder vom Sperrmüll gerettet ins Archiv. Allein das Österreichische Museum für Volkskunde in Wien besitzt über 60.000 Fotografien. Obwohl bisweilen Eingangsbücher existieren, ist die genaue Herkunft der Bilder nach einer gewissen Zeit oft kaum mehr rekonstruierbar. Aber auch im privaten Umfeld ist die Fotografie nach wie vor das vielleicht wichtigste Medium der biografischen Eigendarstellung. Im Folgenden soll anhand einiger Regeln gezeigt werden, was zu beachten wäre, wenn in einem Museum, öffentlichen Archiv oder in einer Privatsammlung Fotografien aufbewahrt werden sollen.[3141]
Es kommt immer wieder vor, dass wertvolle Fotografennachlässe aus dem privaten oder professionellen Bereich in den Müll wandern. Dabei werden Zeugnisse der Alltagskultur unwiederbringlich zerstört. Hinterbliebene, Amateur- und Profifotografen wenden sich deshalb, sofern kein eigenes Interesse an der fotografischen Hinterlassenschaft besteht, an das Salzburger Landesinstitut für Volkskunde oder an das Österreichische Museum für Volkskunde in Wien. Herausragende Experten in Sachen privater und öffentlicher Fotografie sind Timm Starl und Anton Holzer (beide Wien) sowie Ulrike Kammerhofer-Aggermann (Salzburg).
Wenn möglich werden die Nachlässe vom Museumsarchiv komplett übernommen. Äußerst bedeutend sind überdies die Negative. Ein thematisches Aussortieren sollte unterbleiben: Motive, die in der heutigen Zeit unwichtig erscheinen, können sich in 50 Jahren als um so bedeutender herausstellen.
Für die Sichtung von fotografischen Abzügen, Negativen, Dias oder Platten sollten unbedingt Baumwollhandschuhe getragen werden.
Obwohl von den Museen oder kommunalen Archiven oft personell schwer zu bewerkstelligen, ist die fortlaufende Inventarisierung – analog zu jener der dreidimensionalen Objekte – unabdingbar. Hierbei kann man sich zunächst auf wesentliche Informationen beschränken: Name des Fotografen, Entstehungsdatum, Ort, Maße und Eingangsnummer. Zur genaueren Klärung der Herkunft und biografischen Zusammenhänge eines Nachlasses oder einzelner Fotografien wäre die Befragung des betreffenden Fotografen oder dessen Hinterbliebener ideal. Die Erschließung erfolgt bei kleineren Sammlungen anhand von Karteikarten oder Inventarverzeichnissen. Bei einem größeren Bestand empfiehlt sich die Aufnahme per EDV.
Für die Aufbewahrung von Fotografien zu je 30 bis 50 Stück und Glasplatten zu je 10 bis 15 sind säurefreie und ungepufferte Kartons empfehlenswert. Großformatige Glasplatten sollten unbedingt stehend gelagert werden. Zudem sind vor allem Glasplatten einzeln in Archivpapier einzuschlagen oder in entsprechende Umschläge einzusortieren. Negative werden in Folien aus Polypropylen gesteckt. Die weit verbreiteten Pergamin- oder Glarsichthüllen aus Plastik sind bedenklich, da die unter anderem darin enthaltenen Weichmacher die Negative mit der Zeit schädigen können. Für gerahmte Dias empfehlen sich Klappjournale aus Acrylglas.
Da auch die Originalkartons und sonstigen Behältnisse, in denen Fotografien ins Museum gelangen, meist von kulturgeschichtlicher oder biografischer Bedeutung sein können, sollten diese ebenfalls mit einem Verweis auf die Herkunft gesammelt werden.
Idealerweise sollten die Schachteln mit Fotografien und Glasplatten, die Klappjournale mit Dias und die Negativhüllen in Metallschränken aufbewahrt werden. Dabei sind Raumtemperatur und Luftfeuchtigkeit möglichst konstant und niedrig bei etwa 11 Grad Celsius bzw. 30 bis 40 % zu halten. Ungeeignet für die Lagerung sind Dachkammern und Speicher oder Feuchträume wie Keller.
Die entzündungsgefährdeten Nitrozellulosenegative und das übrige Fotomaterial muss getrennt in zwei Räumen archiviert werden.
Sofern keine Negative vorhanden sind, wäre eine Sicherheitsverfilmung des fotografischen Bestandes oder Auszüge daraus auf Kleinbildnegativfilm oder CD-ROM empfehlenswert. Letztere erleichtert zudem die Nutzung des Bestandes, ohne dass die Originale in Mitleidenschaft gezogen werden können. Neuabzüge in Schwarzweiß sind als solche zu kennzeichnen und sollten auf archivfestem Gelatine-Silber-Papier (Baryt-Papier) erfolgen. Bei Prints von Farbdias hat sich Cibachrome-Papier als ein dauerhaftes Trägermaterial erwiesen.
Historische Fotografien sind nicht nachträglich zu beschriften. Informationen zu den Bildern sollten in das Inventarbuch oder auf eine Karteikarte eingetragen werden. Kugelschreiber, Filzstifte und Füllhalter für Beschriftungen von Negativtaschen sind ungeeignet. Optimal, weil leicht entfernbar, wäre die Beschriftung mit einem weichen Bleistift.
Sollten sich an manchen Fotografien und Dias Alterungsspuren wie Aussilberung, Verwerfungen oder Farbveränderungen zeigen, so ist dies kein Grund, die betreffenden Bilder wegzuwerfen. Manche Schäden lassen sich recht einfach beheben.
In Ausstellungen präsentierte Fotografien sollten nicht dem Tageslicht oder zuviel Kunstlicht ausgesetzt werden. Zur Beleuchtung empfehlen sich UV-freie Lichtquellen oder Schutzfolien und Filter. Faustregel: Fotografien vor 1900 und kolorierte Bilder bis 50 Lux; Fotografien nach 1900 bis 100 Lux Lichtstärke.
[3091] Schliemann an Virchow, 19. Mai 1890. In: [HerrmannJ/Maaß 1990], S. 543.
[3092] [Homburger 1924], S. 26.
[3093] [Bausinger 1968], hier S. 56.
[3094] [HaberlandtM 1896], hier S. 183.
[3095] [HaberlandtM 1896], hier S. 184.
[3096] Vgl. [Regener 1990], hier S. 26f.
[3097] [HaberlandtM 1896], S. 184f.
[3098] Vgl. dazu [Kaufhold 1986]; [Griffin 1987], hier S. 246f; [Göttsch 1995].
[3099] [Bourdieu 1983b], hier S. 87.
[3100] Zur Amateurfotografie und ihrer Rolle in der Heimatbewegung um 1900 siehe vor allem [Göttsch 1995], S. 395–405.
[3101] Vgl. dazu [KorffG 1992].
[3102] [Virchow 1889], hier S. 436.
[3103] [Bausinger 1968], S. 56.
[3105] [Brunhes 1925], o.S.
[3106] [Heierli 1922], S. 9f.
[3107] [Heierli 1922], S. 143.
[3108] Die FSA war eine Unterbehörde des US-Landwirtschaftsministeriums und wurde in den 1940er Jahren mit dem Zusatz Office of War Information (OWI) versehen, das Aufnahmeprogramm mit der Kriegsindustrie erweitert. Das Fotoarchiv der FSA-OWI befindet sich in der Library of Congress in Washington, D.C.
[3109] [Pfrunder 1995], S. 94.
[3110] [Niemann 1934], hier S. 24. Vgl. dazu auch [Sachsse 1982]; [Sachsse 2003].
[3111] Zur Diskussion über mögliche Merkmale der Fotografie im NS, vgl. [HoffmannD 1997].
[3112] Zu diesen zählen „Volk und Rasse“ (seit 1926), „Nationalsozialistische Monatshefte“ (seit 1930), „Neues Volk“, „Rasse“ und „Völkischer Wille“.
[3113] Vgl. dazu [Hägele/König 1999].
[3114] Das „SS-Ahnenerbe“ wurde am 19. Oktober 1935 gegründet.
[3115] Zu Wolframs Rolle in der NS-Volkskunde siehe vor allem: [BockhornO/Eberhart 1996].
[3116] Vgl. [WeißA 2002].
[3117] [Kater 1974], S. 150.
[3118] Vgl. [Oesterle 1991] sowie [Südtiroler Landesmuseum für Volkskunde 2001].
[3119] Vgl. dazu [BockhornO 1991], hier S. 107. Der wissenschaftliche Nachlass Wolframs befindet sich im Landesinstitut für Volkskunde in Salzburg. Einen Teil seiner Fotografien überließ er dem Institut für Europäische Ethnologie in Wien.
[3120] [Assion 1985], hier S. 241.
[3121] Vgl. [Jagschitz 1992], hier S. 39.
[3122] [Bausinger 1971], S. 74f.
[3123] [Bausinger 1961], S. 131.
[3126] [Brückner 1975], hier S. 13.
[3127] [Brückner 1975], hier S. 20–21.
[3128] [Deneke 1983], hier S. 248.
[3129] [Deneke 1983], hier S. 248.
[3130] Deneke beruft sich auf Pierre Bourdieu und beschreibt den Ansatz der „historischen Bildkunde“ von Ernst Schlee, ohne dabei jedoch für das Fach relevante Schlüsse zu ziehen.
[3131] [Jeggle 1984b], hier S. 55.
[3132] [Jeggle 1984b], hier S. 54.
[3134] [Bringéus 1982], S. 118.
[3135] [Trachtenberg 1988], hier S. 45.
[3136] [Eberhart 1985], hier S. 2.
[3137] Vgl. [Weinlich 1988]; [Starl 1995].
[3138] Vgl. [Panofsky 1932]; [Panofsky 1979].
[3139] [Barthes 1985], S. 47.
[3140] Vgl. [Hägele 1998], S. 54f.
[3141] Vgl. dazu [SchmidtM/Hesse 1995].