Walking, Jogging, Radfahren, Schwimmen, Inline-Skating, Tai-Chi; die Liste könnte noch einige weitere Trendsportarten umfassen. Die neue Wohlfühl-Fitness oder auch Wellness kennt da kaum noch Hindernisse. Der Körper boomt, seine Grenzen werden ausgetestet, im Studio, im Wald, an Bergen, in der Wüste oder auf wilden Flüssen. Die Tourismusindustrie hat die Zeichen der Zeit erkannt, entsprechende Angebote werden mundgerecht präsentiert: Wellness-Wochenenden auf der Wellnessfarm, Fitnessangebote rund um die Uhr, Sportreiseangebote in allen Schattierungen und für alle Geldbeutelklassen.
Doch das alles hat auch seine Schattenseiten: Siebenmal die Woche steht im Fitnessplan von Günter Z. ein Acht- bis Zehn-Kilometer-Lauf auf dem Programm. Ein entsprechendes Fitnessprogramm im Fitnesscenter, gelegentliche Bergtouren und Wellnesskuren ergänzen das. Der Fettgehalt seines Körpers sinkt kontinuierlich, die Waage zeigt immer geringere Werte, das Idealgewicht ist in Sicht. Während der Sportfanatiker dem Wunsch nach mehr Gesundheit und Jugendlichkeit hinterherläuft, bemerkt er nicht, dass seine Wangen eingefallen wirken und tiefe Augenfalten seinem Gesicht die Frische nehmen. Während Günter Z. sich so fit wie noch nie fühlt, wirkt er für Außenstehende ausgemergelt, dringend ruhebedürftig, ja sogar krank.
Fitness ist als soziales Phänomen von einer eigenartigen Dialektik, von einem Widerspruch zwischen Körperaufwertung und neuen Körperzwängen geprägt. Der Fitness- und Wellnessboom bewegt sich zwischen diesen beiden Polen. Um ihn in seiner sozialen Praxis verstehen zu können, ist eine Thematisierung des Körpers, die ich in zwei Schritten vornehmen werde, notwendig. Zum einen soll der Körperdiskurs in seinem Kontext reflektiert werden, zum anderen soll am Beispiel der Lauftherapie, einem der zentralen Aspekte neuer Fitness, die Pragmatik dargelegt werden. Am Ende werde ich eine generelle Einschätzung versuchen.
Der „Körper” erlebte in den letzten Jahren eine furiose Karriere: Es brach nicht nur ein vorher noch nie gekannter Boom an Körperaktivitäten aus, es wurde auch noch nie so viel über den Körper nachgedacht und geschrieben. Dabei ging das gesteigerte kommerzielle Interesse am Körper Hand in Hand mit der inflationären Rede von der „Wiederkehr des Körpers”; die apostrophierte Gefahr eines „Verschwindens des Körpers” ließ eine unübersehbare Fülle von Rettungsversuchen keimen, in denen verführerische Konzepte eines „anderen Körpers” aufschienen. Die Wissenschaften vom Menschen beteiligen sich bis heute an der Suche nach diesem „anderen Körper” jenseits zivilisatorischer Vernichtung, Zurichtung und Fabrikation.
Das Objekt der Betrachtung, der Mensch und sein Körper, wurden immer mehr zu einem Spielball von Denk- und Interpretationssystemen, von therapeutischen Techniken und Konzepten, von emanzipatorischen Versprechungen und fragwürdigen Aufbruchsphantasien, von Selbsterfahrungsindustrien. Der Körper wurde darin vor allem als kulturelles Bild entworfen, in dem entweder Mythen eines besseren oder anderen Lebens sich verdichten oder Mächte zum Ausdruck kommen, mit denen die Welt in Visionen eines besseren, natürlicheren oder spannenderen Lebens gezwungen werden soll.
Der menschliche Körper als Werkzeug und Zeichen entfaltet sich in einer eigenartigen Dialektik: Welt erfahren wir einzig durch den Körper und nur durch ihn können wir auf diese Welt real einwirken. Wir werden ausschließlich über den Körper und seine Kontakt- und Ausdrucksmöglichkeiten „wissende Körper”. Zugleich wirken im kulturellen Rahmen, in dem wissende Körper werden und agieren, kulturell geformte Bilder über die Aktions- und Seinsweisen des Körpers, die seine Möglichkeiten einengen und in bestimmte Bahnen lenken. Der Körper ist so eine Dialektik von Möglichkeiten und Wirklichkeiten, von Realität und Fiktion, von Natur und Kultur; er ist eine Rückkopplung des Kulturellen an das Biologische und umgekehrt.
Volker Rittner[3282] hat früh die soziale Bedeutsamkeit moderner Körperlichkeit als Bild diskutiert: „Mit der Durchsetzung körperbezogenen Handelns in den Interaktionssystemen einer bewegungsarmen und durch Normen der Körperdistanzierung charakterisierten Umwelt werden Person-Umwelt-Bezüge reinstalliert, die für die individuelle Selbstbehauptung unverzichtbar sind."[3283] Durch Ausübung der richtigen Sportart dekoriert man den individuellen Lebensstil; der Körper wird sichtbares Zentrum der Ich- und Welterfahrung, neue Körperbilder, die auf einem Sockel angestrengter physischer Aktivität ruhen, stellen funktionale Persönlichkeits- Ideale öffentlich vor Augen – die Physis übernimmt somit Interpretationsleistungen für das Selbst.
Die neue Form der Selbstdarstellung transportiert symbolisch die Kraft des Individuums zu eigenen Entschlüssen, demonstriert impressionistische Detailfreude in der abstrakten Gesellschaft, entwickelt in der Visualisierung von Gesundheit und Fitness ikonographische Kraft, setzt die schnelle Verfügbarkeit von Energien, die Fähigkeit der Subjekte zum Gestalten von Situationen und zum Beherrschen des Körpers wirkungsvoll in Szene. Im Zeichen von Fitness und Wellness erscheinen Aufbrüche der Subjekte aus persönlichen Krisen und Ängsten, aus Zwängen und Niederlagen. Doch was steht am Ende dieser Phantasien, was umranken diese Girlanden wirklich?
Der sichtbar intakte Körper avanciert lediglich zum Leitbild von Arbeitsfähigkeit, Leistung, Erfolg und Effizienz; das „beste Selbst” lässt sich nur noch über den „besten Körper” darstellen. In diesen Bildern schlanker und sportlicher Körper liegt große suggestive Macht: sie künden von der Kraft des Besonderen im Alltäglichen, in die, angesichts des Körperbooms und der ausufernden Breitensportbewegungen, Subjekte offensichtlich eine Menge Hoffnung investieren. Dabei schwanken sie zwischen den tatsächlichen Möglichkeiten, die ich unten noch darstelle, und den banalen Wirklichkeiten, die vielfach eine neue Fremdbestimmung durch Körperstyling im Fitnessboom darstellen.
Die neuen Formen der Selbstdarstellung basieren auf einem grundlegenden Wandel moderner Gesellschaften, die wesentlich den Status des Subjektes berühren. Mit dem Beginn reflexiver Modernisierung wurde eine neue Runde der Vergesellschaftung eingeleitet, das Individuum wird darin immer mehr zur „lebensweltlichen Reproduktionseinheit des Sozialen”. Der Kurswert des Besonderen steigt. Jemand sein, heißt sichtbar sein, die eigene Existenz gekonnt und unverwechselbar in Szene setzen und sie demonstrativ gegen andere behaupten.
Doch neben der Erhöhung subjektiver Freiheitsspielräume greift eine vollkommene Marktabhängigkeit, Standardisierung des Ausdrucksverhaltens und überwältigende Ausdruckskontrolle. Die Lebensstile scheinen „jene Leerstellen zu füllen, die der gegenwärtige Modernisierungsschub im Austausch zwischen Individuum und Gesellschaft hinterläßt, indem sie sowohl die Individualisierungsstrategien der Subjektivität als auch die Standardisierungszwänge des Sozialen zu tragen vermögen."[3284] Lebensstile garantieren, dass man jemand ist, es aber nicht allein sein muss. Dabei entwickeln sie magische Qualitäten: „Angesiedelt irgendwo zwischen kritischem Animismus und handfestem Fetischismus, regulieren moderne Lebensstile den Austausch mit der Welt der Objekte, die – nun ausgestattet mit der magischen Kraft des Besonderen – zur persönlichen Note erklärt und als symbolische Grenzen für die Territorien des Selbst wie der Gruppen und Klassen fungibel gehalten werden."[3285]
Vor allem jüngere und gut ausgebildete Teile der neuen Mittelschichten setzen in der „Politik der Lebensstile” Zeichen; die Stadt wird ihnen zum Abenteuerspielplatz des Selbst. Die Inszenierungen der Stadt und des Selbst verschieben sich ineinander. Darin reduziert sich Körperlichkeit zur Dekorierung des Lebensstils. Die Faktizität der Körper prädestiniert diese für die Übernahme expressiver Funktionen[3286]: soziale Distinktionen und „feine Unterschiede” im Sinne Bourdieus[3287] können an ihnen besonders drastisch und mit ikonographischer Macht vorgeführt werden; die Körperhülle als Trägerinstanz für Zeichen und Botschaften lässt sich dabei sowohl für Anpassungs- als auch für Oppositionsbereitschaft einsetzen.
So demonstriert die gegenwärtige Körperaufwertung ein Doppeltes; einerseits machen die Subjekte auf sich selbst aufmerksam, andererseits zeigt sich, wie bestimmte Lebenslagen Gesellschaft wahrnehmen und interpretieren. Um „in” zu sein, muss sich das einzelne Subjekt auf seinen Körper festlegen, der zugleich ein „Lebensstil-Körper” ist. Dies geschieht entweder im mythischen Sinne, indem es seine Zugehörigkeit zeigt und zeichnet, rituell durch Sport oder Körperästhetik zum Ausdruck bringt und festigt; oder es geschieht im machttheoretischen Kontext, indem es durch den besten Körper Leistung, Effizienz und Überlegenheit demonstriert und schließlich durchsetzt.
Die moderne Sportästhetik, in der die Körper „zucken und sich winden”, visualisiert mit Zauberkraft die ikonographische Bedeutsamkeit dieser Bilder, nach denen die Körper heute entworfen werden. Die Umsetzung dieser Baupläne ist vom „Terror gegen das Fleisch” begleitet. Sich auf seinen Körper festzulegen, ist Mode und Wagnis zugleich. Die Ambivalenz dieser Entscheidung generiert die Gefahr, dass in der Festlegung zwar die Zugehörigkeit zu Milieus und somit Fragmente von Identität symbolisiert und sichtbar werden, sich zugleich aber Alternativen verschließen und Prozesse einer stetigen und auch beliebigen Neuorientierung, den chaotischen Pfaden des Modischen folgend, sich zunehmend schwieriger gestalten. Das Freihalten für weitere Zugehörigkeitsqualen (alles körperliche, so auch Bewegung und Sport, ist eine Arbeit am Sperrigen und Widerständigen), die der Körper neuerdings und in stetig zu wiederholender Monotonie zu erbringen und zu erdulden hat, wird schwieriger und damit widersprüchlicher.
Wenn man Identität aus dem Körper bezieht bzw. wenn sich Identität über den Körper herstellen soll – wie es die „Körper”-Wissenschaftler als Spezifikum der Moderne reklamieren -, dann liegt hierin eine spezifisch neuzeitliche Aporie: Im Wettbewerb der Patchwork-Identitäten (oder im Sprachgebrauch einer postmodernen Anthropologie: im Nebeneinander der Bricolagen) kann eine Festlegung, eine körpergebundene Identität (so des Joggers, des Bergsteigers, des Bodybuilders, etc.) zum sozialen Tod des Subjekts führen. Wenn nämlich die einmal erkorene und unter Schmerzen eingebrannte Körper-Mode, der Lebensstil-Körper, sich im Fortschreiten modischer Bilder verbraucht, kann das Hinterherhinken als „Neu-Arrangement des Körperlichen” durch Übernahme anderer Bilder zur rasanten Fahrt in den Abgrund werden. Der gepeinigte Körper versagt angesichts des neu auferlegten Nachhilfeunterrichts seine Pflicht; die körpergebundene Identitätsarbeit (Arbeit im Sinne von neuerlichem Schwitzen beim Einarbeiten bisher fremder Bewegungsabläufe) bereitet Schmerz, Leid und mitunter ein elendiges Versagen.
Unmodisch zu werden, da das Werkzeug nicht mehr richtig feilt, bedeutet aber zugleich „out” zu sein. Als Relikt einer überholten Geschichte wird der Einzelne zwar in der kollektiven Melancholie über vergangene Bewegungen (im dialektischen Sinne des sich Bewegens und Bewegtwerdens, des tatsächlichen Geschehens und der Fiktion davon) musealisiert und zum Märtyrer erkoren, damit aber still gestellt, abgekoppelt, ausgemustert, abgewickelt. Die anderen machen längst etwas Neues, die ehemals Modernen staunen starr. Die Körperästhetik wird in ihrer inflationären Bilderflut zum Wagnis; ihr Wechselbad ist Risiko und Chance zugleich.
Die neuzeitliche Aporie von Gleichzeitigkeiten im Ungleichzeitigen, die Beliebigkeiten des Lebensgefühls, könnten in der Tat auch als Chance von Körper-Vielfalt, einer Entfesselung von Möglichkeiten gesehen werden. Doch trotz aller Freisetzungen ist es nicht eine Gleichzeitigkeit körperlicher Möglichkeiten und Fähigkeiten, sondern lediglich ein Wettbewerb der Bilder. Das Körper-Wagnis reduziert sich somit einzig auf ein Bilder-Wagnis! Im Konzert dieser Patchwork-Instrumente wird der Körper immer wieder entworfen und entwurzelt. Er basiert zwar auf seiner biologischen Physis, doch ist diese lediglich Abbildfläche von Bildern, Visionen und Fiktionen.
Das vielfach beschriebene und betörende (weil intellektuell so schicke) Schweigen und Verschwinden des Körpers ist eigentlich kein Verlust, der zu beklagen wäre, sondern Normalität im phasischen Wechsel sozialer und kultureller Überschreibungen gesellschaftsgebundener Bedeutung von Körperlichkeit, die als Prozess in der angedeuteten Dialektik schon immer fraglos zugegen war. In historischer Regelmäßigkeit fanden und finden nach Körperentwertungen immer wieder Körperbetonungen statt, die in der Literatur vielfach als „Grüne Wellen” diskutiert werden und die sich im Kontext sozialer und kultureller Krisentendenzen bzw. Anpassungsprozessen der Moderne bewegen. Allerdings, und das ist die Absurdität des körperlosen Körpers, des Bildes von ihm, und der eigentliche Skandal, wird dieser darin zum Spielball, zum Ambivalenzphänomen modischer Beliebigkeiten und Bildproduktionen verengt. Er wird austauschbar und schweigt, da er angesichts seiner Peinigung nur noch ächzen kann, er verschwindet stumm und taucht unverhofft und vehement mit achtlosen Pinselstrichen entstellt und einzig Lust erheischend wieder auf. Doch wir erkennen keine Körper, wir sehen nur Schatten, die auf einer Leinwand tanzen, vor der die Subjekte sich als Zuschauer selbst begaffen, ohne sich zu erkennen.
In einem dialektischen Entwurf wäre der Körper im gesellschaftlichen „Hier und Jetzt” auf eindeutige Weise festgelegt: als Absolutheit und Ruhe in der chaotischen Produktion und Reproduktion sozialen Lebens. Um den Körper herum und durch ihn hindurch würde sich Alltäglichkeit entfalten, aus der Normalität wachsen und Entdeckerfreude keimen könnte. In diesem „Hier und Jetzt” der Körper zeigt sich zudem eine Chance, die – trotz allen Bilderwahns, der sich durch die Körper zieht -, ebenfalls in der modernen Fitness- und Wellnesswelle liegt. Diese Chance soll am Beispiel der Laufbewegung, die als das Besondere im Alltäglichen verstanden werden kann, veranschaulicht werden. Die Bedeutsamkeit von Fitnessanstrengungen im Alltag wird darin deutlich.
Laufen als individuelle, ökologische und soziale Erfahrung setzt Haltepunkte in einer zersplitterten Welt, die von Prozessen der Selbstaufwertung zu sozialen Erfahrungen der Wirk- und Bedeutsamkeit sozialer Netzwerke bis hin zu Sinn- und Orientierungs- Erfahrungen gehen. Laufbewegte können als „Bastler” begriffen werden, als Menschen, die sich mit Hilfe der Besonderheiten des Lauferlebnisses innerhalb ihrer verworrenen Alltäglichkeit Ruhepunkte schaffen, aus denen ihre Biographien stabiler werden, sich um Orientierungspunkte gruppieren und dadurch gegen die Unwägbarkeiten des Alltags strategische Bedeutung entfalten. Läufer sind folglich moderne Sinnbastler, die sich ein Medium erlaufen, das gegen Aporien der alltäglichen Dissonanzen Orientierung und Lässigkeit zugleich setzt.[3288]
Der Ausgangspunkt einer Hinführung zu den alltagsorientierten Aspekten des Lauf-Erlebnisses, zu Wirkungen und Chancen, zur Dynamik des Laufens, beginnt bei den Erzählungen der individuellen Geschichten, die in der frühen Laufbewegung vielfältig waren, aber auch heute durchaus noch existent sind. Erzählen heißt, die eigene Geschichte in die Hand nehmen: weiter laufen, wieder kommen, wieder erzählen, weiter erzählen und weiter laufen; sich und andere stark machen, indem man seine Stärke anderen erzählt und diese neugierig macht. In diesen Geschichten wird verdichtet, was die eigentlichen Wirkungen und Bedeutungen des Alltagslaufs sind. Er „schafft” Sensationen und Erfahrungen, er stärkt den Menschen und gibt ihm ein neues Tüchtigkeitsgefühl, eine größere Freude am Leben; schlicht: er steigert das Wohlbefinden. Das lässt sich „operationalisieren”, in Einzelteile zerlegen, obwohl es ein ganzheitlicher Prozess ist und auch nur so gesehen und verstanden werden kann.
Im Überblick lässt sich das zunächst so darstellen: Laufen produziert eine größere Freude an körperlicher Bewegung und eine größere innere Ausgeglichenheit. Laufen vermehrt Frische und Spannkraft und schafft größere Selbstachtung. Es führt zu einer höheren Belastbarkeit, verbessert die äußere Erscheinung und vermittelt eine intensive Beziehung zur Natur. Durch das Laufen entsteht ein „gutes” Körpergefühl, soziale Kontakte werden vermehrt und verändert. Die tiefgreifenden Veränderungen im seelischen und körperlichen Bereich können folgendermaßen auf den Punkt gebracht werden können:
Aus dem Spaß am eigenen Können wird ein Mehr an Lebensfreude entwickelt. Es bildet sich eine neu entdeckte körperliche „Tüchtigkeit” heraus. Vor allem aber sind psychische Wirkungen erkennbar und belegbar: ein größeres Wohlbefinden stellt sich ein, eine größere Zufriedenheit durchzieht den Alltags, das Selbstbewusstsein wächst, Langeweile schwindet, Melancholie wird abgebaut, Depressionen können gemildert werden, Ängste und Spannungen werden weniger, der Alltagsstress kann reduziert werden.
Dies alles führt in seinen kumulativen Effekten zu einer größeren Handlungsfähigkeit und steigert die Kompetenz, das eigene Leben zu bewältigen. Darüber hinaus verändert sich durch die Schärfung der Sinne die Beziehung zu Natur und Landschaft. Man erfährt die Witterung – Regen, Schnee und Hitze – in veränderter Weise und nimmt Vögel und Tiere wahr. Man erfährt aber auch natürliche und künstliche Grenzen, die von den Räumen, in denen man lebt und läuft, gesetzt werden. Zeit und Raum relativieren sich. Man nimmt Entfernungen, die man selber bewältigt, völlig anders wahr als im Auto, Zug oder Flugzeug zurückgelegte Distanzen. Durch das Laufen werden Weite und Enge des Raumes auf menschliche Maße zurückgeführt und damit wieder lebbar. Nicht nur den Raum, auch die Zeit erfährt man neu, indem sich Sekunden und Minuten in ihrer relativen Länge und Wichtigkeit neu zeigen, indem sie als Teil unseres rhythmischen Lebens und unserer Eingebundenheit in die zyklische Natur erkennbarer werden. Daraus formt sich ein neues Gefühl für den Rausch der Geschwindigkeit und die Lust der Langsamkeit, die Einförmigkeit der linearen Zeiterfahrung wird angenehm kontrastiert.
Der „Körper” wird in seinen Möglichkeiten und Grenzen immer wieder neu erfahren. Die Ernährung wird in ihrer Wichtigkeit erlebbar und sie wird allmählich körpergerechter und somit auch umweltgerechter. Schmerzen werden in ihrer Bedeutsamkeit für das menschliche Leben erfühlbar. Man verabschiedet sich vom zivilisatorischen Ideal einer „schmerzfreien Welt” – welches letztlich nur der Pharma-Industrie dient -, und nimmt die wichtige und heilsame Wirkung des Schmerzes an, indem man ihn als Signal und Nachricht des eigenen Körpers begreift, auf ihn zu hören und ihn zu verstehen beginnt.
Die sozialen Kontakte können über das Laufen neu komponiert werden; das Laufen selbst wird dabei zu einem großen sozialen Netzwerk, das Unterstützung aktivieren und Freundschaften bilden kann. „Networking” – eine Methode der Sozialpädagogik, welche die Belebung und Formung von Netzwerken anstrebt, um Unterstützungsprozesse für das Subjekt zu aktivieren -, kann dem Alltagslauf dann immanent sein, wenn die Läuferin oder der Läufer es zulässt. Es bedarf hier keiner künstlichen „networking- Arbeit”. Läuferinnen und Läufer sind eigentlich, außer sie wollen es, nie allein und einsam. Netzwerke entstehen zwangsläufig und können so stabil werden, dass sie gegenseitige Hilfe realisieren.
Das Lauferlebnis formt unterschiedlich und individuell differierende Motiv-Räume. Diese reichen von Gesundheit (die oftmals das Einstiegsmotiv darstellt), über abgeleitete und erweiterte Motive – wie Wohlbefinden, Selbstbestätigung, Spaß und Lust, Tüchtigkeit und Leistung, Egoismus, Suche nach Sinn, „Flucht” aus Eintönigkeit und Abstraktheit, innere Sensationen, Ehrgeiz und Leistung, soziale Kontakte hin zu sportlichen Karrieremotiven wie Wettkampf, Sieg und Niederlage.
Es sind immer auch die sportimmanenten Erfahrungsräume der Sportvereine, Wettkämpfe und Lauftreffs, die das Lauferlebnis begleiten und es verführerisch umgarnen. An diesem Aspekt der sportlichen Definition unseres Alltags kann und darf das Lauferlebnis nicht vorbei. Auch die Wettkampf-Erfahrung kann bereichernd und prägend sein; zeigt sie doch, dass jeder Sieg und jeder Rekord nur für den Moment gilt und immer wieder zur Disposition steht. Die Wettkampf-Erfahrung symbolisiert somit Wandlungsfähigkeit.
Es sind aber auch und vor allem Lebensräume, die das Lauferlebnis prägen und auf die es Einfluss nimmt: das häusliche Umfeld bleibt ebenso wie das je spezifische Arbeitsfeld nie außen vor. Laufen ist auch ein Aspekt der Freizeit und darin ist es ein Distinktionsmerkmal moderner Gesellschaften – wer läuft, „gehört” einem spezifischen Lebensstil an und will damit auch etwas Spezifisches „ausdrücken”: Individualität, Tüchtigkeit und soziale Zugehörigkeit. Insgesamt ist das Laufen in Alltags- und Lebenswelten eingebettet und entfaltet hier seine essentiellen Wirkungen. Laufen formt Erlebnisräume, die in ihrer Wirkung Kompetenzen fördern wie entwickeln und therapeutische Funktion erlangen können. Es schafft Abenteuer, bietet Grenzerfahrungen, produziert Beziehungen, stiftet neue Freundschaften und hinterlässt unvergessliche Bilder von Natur und Landschaft.
Der Ort der Handlung wird insgesamt zum Sozialisationsraum, Laufen ist dabei Teil eines „Selbsterziehungsprozess”, der als „Empowerment” begriffen, zu einer je spezifischen Reorganisation des Alltags beiträgt. Das Lauferlebnis erlangt philosophische Bedeutung, indem es in einer hochmobilen und verworrenen Moderne das Gefühl von Heimat vermittelt und Identität formt und bestätigt. Wir verorten uns so in einer mobilen und flexiblen Moderne, die Selbstverständlichkeiten auflöst und die Subjekte zur Eigengestaltung zwingt.
Heimat wird in der neuen kultursoziologischen Debatte[3289] als ein sozial und räumlich zu entwerfender Ort begriffen, in den der Mensch hineinwirken, den er seinen Bedürfnissen entsprechend gestalten und in dem er Beziehungen herstellen und erhalten kann, um Wurzeln zu schlagen. Dabei wird Heimat nicht mehr wertend entworfen, sondern als ein struktureller Begriff, der eine eigentlich banale Tatsache darstellt: Der Mensch bedarf eines sozialen Raums, in dem er sich orientiert, der ihm Sicherheit und Orientierung gibt. Nur dann wird er im Sinne einer „aktiven Heimatarbeit” zum Handeln, zur Entwicklung und Verwirklichung fähig sein. Heimat ist deshalb als eine dauerhafte sozialräumliche Konstellation zu begreifen, die durch ein hohes Maß an Hinwendung und Identifikationsmöglichkeiten geprägt ist. So verstanden wird Heimat als aktive, auf Handlungen bezogene, nicht ausgrenzende, sondern integrierende Komponente menschlichen Lebens begriffen, die dem Bild des Menschen als einem gestaltenden Produzenten seiner Umwelt nahe kommt.
Der Alltagslauf kann als eine Form moderner Heimatarbeit begriffen werden, als ein kulturelles Werkzeug, mit dem Menschen Wurzeln an einem alten und an einem neuen Ort schlagen können. Man lernt die Räume und die Menschen sowie deren Geschichten kennen; man richtet sich aktiv ein und beginnt sich wohl zu fühlen. In andere Weltgegenden ziehende Läuferinnen und Läufer erzählen immer wieder davon, dass sie sich durch das Laufen eine Orientierung in ihrer neuen Lebenswelt erarbeiten: sie entdecken den Raum, seine Strukturen und Besonderheiten. Das bezieht sich auf den natürlichen und den gebauten und den sozialen und historischen Raum zugleich.
Heimatarbeit, die in der modernen und hochmobilen Gesellschaft wichtig und notwendig ist, gelingt offenkundig nicht mehr ohne eigene Anstrengungen. Eine davon kann das Alltagslaufen sein. Man gewinnt so einen Platz, an dem man sich erfährt und auch als Läuferin und Läufer begriffen und bestätigt wird. Daraus ergeben sich stabilisierende Wirkungen nach außen, in den Alltag hinein. So ist das Lauferlebnis ein alltägliches Ereignis, das dem Alltag Rahmen und Struktur gibt, das neue Erfahrungen bringt und bisherige bestätigt.
Letztlich ist das Laufen ein Lebensstilelement im Raum der Lebensstile; Lebensstile sind dabei Verdichtungen von Handlungsmustern, die individuellen Ausdruck und soziale Zugehörigkeit zugleich abbilden. Hierin sind sie auch Distinktionsmerkmale. Laufen ist ein Werkzeug, das Sinn und Orientierung, Ruhe und Ordnung in den Alltag bringen kann. Es wird zu einer Methode, die nach außen ausdrückt und bestätigt und nach innen stabilisiert. Das Lebensgefühl wird in seiner Gesamtheit verbessert, Erfahrungen werden ausweitet und die Lebensbewältigung gestützt und gefördert. Der Alltagslauf stellt eine Methode des Lebens dar, um sich in einer unübersichtlichen und schwierigen Moderne passabel einzurichten. Laufen wird als Lebensstilelement in einer Gesellschaft begreifbar, die sich aus tradierten sozialen Bindungen löst und die Menschen zur permanenten Reproduktion ihrer je spezifischen Biographien verdammt. Wenn wir den Alltagslauf als ein Lebensstilelement begreifen, dann sind seine Bedeutungen und Wirkungen ein „Gemischtwarenladen”, aus dem sich die Subjekte der Moderne die ihnen passende Ware entnehmen können.
Der Alltagslauf ist nach meinen Beobachtungen nach wie vor sehr verbreitet und dient vielfältigen Bedürfnissen und ist Bestandteil unterschiedlicher Alltagskulturen. Er gestaltet sich zunehmend unauffälliger, verläuft individueller, vielfältiger und ist weniger an Lauftreffs gebunden. Die Laufkultur hat offensichtlich die Last der großen Hoffnungen abgeworfen und sich veralltäglicht. Viele Menschen joggen heute in unspektakulärer Weise, so auch Bischöfe, Minister und Präsidenten. Sie profitieren von den Wirkungen des Alltagslaufs für ihre ganz privaten Lebensentwürfe. Damit ist der Alltagslauf am Ziel angekommen: er hat als Ausdruck von Körper und Bewegung das Leben der Menschen dort bereichert, wo es von ihnen im Alltag genutzt werden kann.
Fitness wird zur Gefährdung und führt zur Lähmung des Alltäglichen, wenn Normalität aufgehoben ist und Alltäglichkeit keine Ruhepunkte mehr bietet, aus denen Aktivität ohne Ziel entfaltbar ist. Dann nämlich ist das „Hier und Jetzt” eine leere Floskel, deren Zeichen alles mit Eis überziehen. Das „Hier und Jetzt” beinhaltet statt der Ordnung der Dinge die ungeordnete Gefahr, in der Körperlichkeit auf die süchtige Suche nach lustvoller Lust ohne Objekt geht. Der Narzissmus des Hedonisten, der seinen Körper peinigt, wenn er durch den Stadtpark tobt oder auf dem Mountainbike einem Phantom nachjagt, lebt als Vision in der Welt der Sensationen. Nicht Wahrnehmung und Bewältigung des Äußeren, sondern Verlagerung in das fensterlose Innere ist der Punkt, von dem aus die Welt erfahren wird. Diese Welt aber bleibt virtuell, sie ist fern vom „Hier und Jetzt”. Sie ist dort, wo Ordnung minütlich neu entworfen wird.
Die „Körper-Besessenen” von heute verkünden eine essentielle Botschaft: im reiz- und sinnlosen Alltag soll die Rettung aus dem Körper kommen. Die Thematisierung desselben stellt eine Antwort auf die Körperlosigkeit einer Welt dar, die Körper durch Beherrschung, Zurichtung und schließlich Simulation produziert. Die Bewegung selbst basiert dabei – so beispielsweise bei Läufern und Bergsteigern -, auf Leid und ist lediglich ein Schatten möglicher Beweglichkeit.
Doch die kathartische Wirkung des uranfänglichen Chaos, aus dem bekanntlich alles kommt, bleibt aus, da Bilder die ungeordnete Bewegung, aus der Ordnung dialektisch wächst und ihren eigenen Widerspruch zugleich institutionalisiert, in vorgefertigte Muster zwängen – Chaos selbst wird darin zum entworfenen Bild. Niemand ist diesem Stress wirklich gewachsen. So aber stellt sich die Frage nach dem Verführerischen des „anderen” Körpers, nach jenen abgetauchten Modellen eines anderen Körpers, die in der Wiederkehr besungen scheinbar doch nicht kommen, da sie sich im Bilde verlieren. Noch immer ist die Sehnsucht, die sich darin ausdrückt, und die viele Körper rebellieren lässt, unerfüllt.
Verdächtig blitzt die Ahnung auf, dass selbst das andere nichts als ein Mythos ist, ein verzweifelter Versuch, jener „Wahrheit” zu entfliehen, dass Fitness und Gesundheit, Spaß und Lust als Wiederkehr des Körpers nicht das Natürliche des Körpers betonen, sondern zivilisierte Bilder eines angeblich besseren Lebens besingen und verehren. Deutlich wird, dass die Suche nach dem anderen dort endet, wo die Risiko- und Erlebnisgesellschaft ihre Fallen aufgestellt hat: in jenen Bildern einer unvertrauten Welt, die uns noch den letzten Eigensinn rauben, da sie nichts anderes wollen als mit den Modellen des Unvertrauten das Vertraute und in die Krise Geratene zu retten.
Eine der erstaunlichsten Paradoxien moderner Mediengesellschaften ist die Gleichzeitigkeit von Körperaufwertung und -verdrängung. Ob Piercing, Branding, Tattoos, Fitness- und Muskeltrainings, Diäten, Schönheitsoperationen oder Extremsportarten, Bungee-Springen und tagelange Raves, der neue Kult um den Körper hat viele Erscheinungsformen. Doch dieser fast alltägliche Kult wird flankiert von einem wissenschaftlichen Diskurs um das Verschwinden des Körpers. Ob durch Bio- und Gentechnologien, Transplantationsmedizin oder durch digitale Medien, der humane Körper – verstanden als eine naturhafte Einheit -, scheint sich aufzulösen und mit künstlichen Körpern zu verschmelzen. Für die einen ist der Körper ein Statussymbol, für andere Prothese oder Benutzeroberfläche.
Der Körper ist ein Konstrukt. Wird er nicht modelliert, verbessert oder vervollständigt, gilt dies nicht mehr als eine Huldigung an die gottgewollte Natur, sondern ist eine bewusste Entscheidung des Einzelnen. Wer nichts für sich tut, muss es halt selbst wissen. Aus dem schicksalhaften Körper wird der Körper als Option – und der kann vielfältig modelliert werden. Mit dem Abschied von der Vorstellung, dass es Schicksal sei, in welcher Haut man steckt, ist die Voraussetzung gegeben, den Körper neu zu denken und zu entwerfen. Die Erlebnisgesellschaft begreift den Körper als eine modellierbare Masse, die der Ästhetisierung bedarf. Und diese ist längst nicht mehr eine Formgebung, welche die Natur des Körpers in ein Korsett presst, sondern alltägliche Selbsttechnologie, die unmittelbar in den Körper eingreift. Der Fitnessboom wird weiter rollen. Das aber provoziert sozialen Zündstoff: Wer hat unter Bedingungen des kapitalistischen Marktes die Möglichkeit, den eigenen Körper zu gestalten? Können in Zukunft nur noch Reiche schön und fit sein? Wird man am gestylten Körper Reichtum oder Armut am schwächlichen Körper erkennen?
Verwendete Literatur:
[Berking/Neckel 1988] Berking, Helmut; Neckel, Sighard: Stadtmarathon. Die Inszenierung von Individualität als urbanes Ereignis. In: Scherpe, Klaus R. (Hg.): Die Unwirklichkeit der Städte. Großstadtdarstellungen zwischen Moderne und Postmoderne. Reinbek bei Hamburg 1988, S. 262–278.
[Bette 1989] Bette, Karl-Heinrich: Körperspuren. Zur Semantik und Paradoxie moderner Körperlichkeit. Berlin [u. a.] 1989.
[Bourdieu 1982] Bourdieu, Pierre: Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. (1. Aufl. Paris 1979) Frankfurt am Main 1982.
[Greverus 1978a] Greverus, Ina-Marua: Kultur und Alltagswelt. Eine Einführung in Fragen der Kulturanthropologie. München 1978 (Beck’sche Schwarze Reihe 182).
[LutzR 1989] Lutz, Ronald: Laufen und Läuferleben. Zum Verhältnis von Körper, Bewegung und Identität. Frankfurt am Main 1989.
[LutzR 1999a] Lutz, Ronald: Lauftherapie und Erlebnisgesellschaft: das Besondere im Alltäglichen. In: Weber, Alexander (Hg.): Hilf dir selbst: Laufe! Das Paderborner Modell der Lauftherapie und andere Konzepte für langfristig gesundes und erfolgreiches Laufen. Paderborn 1999, S. 149–162.
[LutzR 2000a] Lutz, Ronald: Her mit den Geistern. Zur kulturellen Dynamik der Moderne. Erfurt 2000.
[Rittner 1989] Rittner, Volker: Körperbezug, Ästhetik und Sport. In: Sportwissenschaft 4 (1989), S. 359–377.
[3282] Vgl.: [Rittner 1989].
[3283] [Rittner 1989], S. 365.
[3284] [Berking/Neckel 1988], S. 263.
[3285] [Berking/Neckel 1988], S. 264.
[3286] Vgl.: [Bette 1989].
[3288] [LutzR 1989] und [LutzR 1999a].
[3289] [Greverus 1978a] und [LutzR 2000a].