Dem Tourismus zugrunde liegende Sehnsüchte nach vorübergehendem Auszug, nach Freiheit, Abenteuer, Natur und Abwechslung werden in unserem Alltag produziert, in den Grenzen, die dieser Alltag menschlichem Glücksstreben, Partizipations- und Gestaltungsbedürfnissen setzt. In zumeist subtiler Form wird der Aktionsradius des Subjekts eingeengt. Das zeigt sich in Leistungsnormen, in Erfahrungsnormierungen, in einer Überreizung der Informationsverarbeitungskapazitäten durch eine endlose und zum Teil widersprüchliche Fülle industriell verfertigter Bilder, die auf überforderte Sinne einstürzen. Statt tatsächlicher Erlebnisqualitäten tritt eine Reduktion des Möglichen ein, eine schleichende Ausdünnung herrschaftsfreier Kommunikationsstrukturen.
Von der touristischen Reise wird eine zeitlich befristete Überwindung dieser Normierungen und Beengungen erhofft. Je ferner und exotischer dabei die Fremde, desto eher glaubt man an eine vorübergehende Erfüllung jener Träume, die im Alltagsleben ausgesperrt bleiben, obwohl sie dort unaufhörlich als die Idee einer besseren sozialen Praxis zum Vorschein kommen. So soll der Urlaub, jene „kostbarsten Tage des Jahres“, einen Kontrast zum Alltag herstellen, dessen Reflex er zugleich ist.
Wachsender Wohlstand, zunehmende Verstädterung und explosionsartige Motorisierung stellen Hauptfaktoren der Tourismusentwicklung dar. Die Lebensbedingungen in industrialisierten und modernen Gesellschaften sind offensichtlich ohne Erholung auf Dauer nicht mehr zu ertragen. Urlaubsreisen zählen deshalb zu den „elementaren Lebensbedürfnissen“ und stellen ein Stück „persönliche Lebensqualität“ dar.
Die touristische Reise ist ein eindeutiges Produkt industriegesellschaftlicher Realität, in der dieses auch Sinn und Bedeutung gewinnt. Doch das Reiseverlangen als spezifisch menschliches Bedürfnis ist älter als der Tourismus und ist nicht an eine bestimmte Form gesellschaftlicher Organisation gebunden. Das Reisen ist dem Menschen eigen, denn nur er vermag – im Gegensatz zum Tier, das zu triebhaften Ortsveränderungen gezwungen wird –, die selbst gewählte Freiheit, den Reiz und das Glück zwangloser Reisen zu erleben. Als ein zweckorientiertes Handeln ist das Reisen zu den elementaren Verhaltensformen in menschlichen Kulturen zu zählen. Tourismus ist deshalb lediglich eine spezifische Formung menschlicher Reiseaktivität, die in einer recht ungenauen Perspektive als zweckfrei deklariert wird.
Seit einigen Jahren kommt vor allem dem Abenteuertourismus eine besondere Rolle zu, die Suche nach Erlebnis und Abenteuer prägen zunehmend bestimmte touristische Marktsegmente. Angesagt sind heute insbesondere die Exotik der Drittweltländer und ihre Garantie naturnaher Lebensformen, aber auch vermehrt explizite Abenteuer-, Natur- und Erlebnisreisen, die das Spektakuläre, das Riskante und „Noch-nie-Dagewesene“ – das zugleich aber vollständig unter Kontrolle bleibt – versprechen. Das Prestige einer Reise steigt nicht nur analog zum Preis, sondern auch mit der involvierten Exotik, der Exklusivität und der Erlebnis- und Abenteuerqualität.
Zu den Normen des Tourismus gehört es, dass man zufrieden und erholt zurückkehrt, dass man von Abenteuern und Erlebnissen, die zum Staunen animieren und den Selbstwert des Erzählers bestätigen oder gar steigern, berichten kann. Dadurch wird das Prestige, das der Urlaubsreise innewohnt, erst Wahrheit. Das „Hin-Zu“ der touristischen Reise wird im Alltag nach der Rückkehr authentisch. Einen Urlaub ohne Rückkehr kann es nicht geben; das „Weg-Von“ ist Mythos, Bestandteil suggerierter Bilder.
Vor diesem Hintergrund entstanden in neuester Zeit jene Abenteuerreisen – vom Trekking im Himalaya bis zur Bootsreise auf dem Amazonas –, welche die wilde Natur offerieren, diese aber in ihrer Bedrohlichkeit vom Touristen fern halten. Natur wird darin zum zivilisierten Ort des jeweils gewünschten Umgangs mit ihr, des Abenteuers, der Kontemplation und der Entspannung. Der darin eingelagerte Erlebnishunger und die wühlende Natursehnsucht, die dem modernen Abenteuertourismus eine essentielle Prägung geben, sollen am Beispiel des extremen Bergsteigens dargestellt werden. Dieses Bergsteigen entfaltet sich dabei als ein modernes Duell mit der Natur.
Der tragische Unfalltod von 19 Extremsportlern beim Canyoning in der Schweiz im Juli 1999 und die Lawinenkatastrophe von Galtür Ende Dezember 1999, bei der 9 Menschen starben, zeigten auf tragische Weise, wie nah am Abgrund sich der moderne Mensch in seinem Drang nach außergewöhnlichen Ereignissen befindet. Die „Duelle mit der Natur“ sind längst kein Freizeitspaß mehr, vielmehr befinden sie sich auf einem Niveau, das in der Tat lebensbedrohlich ist. Helga Peskoller hat in einem Buch zum Bergsteigen davon gesprochen, dass ein Gipfelweg erst dann vollendet ist, wann man „zu Grunde geht.“[3431] Das ist die philosophisch formulierte Wahrheit, die sich hinter den Duellen mit der Natur verbirgt.
Natur tritt darin den Menschen als kulturelles Muster in zwei Fassungen gegenüber: als Ort der Muße und des Gefallens sowie als Stätte des Schreckens. Zu einer Stätte des Schreckens wurde im Winter 1999 der Tiroler Ort Ischgl, der unter einer Lawine verschwand. Unmittelbar nach der Beisetzung der Opfer ging das Werben um die Touristen mit neuen Events weiter. Darin fiel die Äußerung eines ortsansässigen Trendsetters und Hoteliers besonders hervor: „Wenn am Ende in den Köpfen übrig bleibt, daß es in Ischgl bebt und kracht, dann ist das doch toll.“[3432] Die Katastrophe wird zum Ereignis stilisiert, geworben wird mit der Unwägbarkeit der Natur, die Frankfurter Rundschau titelte hierzu „Thriller Mountain“.
Nun gibt es diese Trends im Tourismus zweifelsohne schon länger, der Thrill ist zum Markenartikel vielfältiger „outdoor“-Angebote geworden: Wildwasser-Rafting, Gletscherskifahrten, Canyoning oder Wüstentrekking. Der höchste Berg der Erde, der Mount Everest ist das Ziel geführter Massen-Besteigungen. Mittlerweile fordern kritische Stimmen, eine Besteigung des Mount Everest nur noch dann anzuerkennen, wenn diese ohne zusätzlichen Sauerstoff absolviert wurde.
Der Natur- und Sporttourismus, der Abenteuertourismus per se, erreicht bisher unbekannte Nischen und wird zur großen Inszenierung des Authentischen, zur letzten noch erlebbaren Wildnis. Natur wird sowohl zum Hort der Zuflucht als auch zum Gegner stilisiert. Die inszenierten Erlebnisse sollen jene Authentizität bieten, nach denen die Sport- und Körpertouristen dürsten und bereit sind, auch unsägliche Mühen auf sich zu nehmen. Dominik Siegrist hat die Fatalität der Motivationen charakterisiert: „Der persönliche Gewinn ist offenbar derart groß, daß hohe Kosten, die möglicherweise bis zu Tod oder Invalidität reichen, bewußt in Kauf genommen werden.“[3433] In diesen Touren gewinnt insbesondere das Sportliche besondere Dimensionen. Schon Enzensberger hat in seiner Theorie des Tourismus auf den Zusammenhang zwischen touristischem Zugriff und den Methoden des Leistungssports hingewiesen.[3434] Erst im sportlichen Wettkampf wird das Erleben wirklich. So werden Auseinandersetzungen inszeniert, um Authentisches zu entfalten.
Die Inszenierung ist die vom Alltag abgeschlossene Welt des Sports mit dem involvierten Versprechen des Risikos. Das Authentische daran ist das nicht auszuschließende Risiko, dass der Spaß tatsächlich tödlich enden kann und oft genug auch so endet. Der Rausch des Sports entsteht durch die Vereinigung beider Seiten: „er vereinigt die Kälte des Geldverdienens mit den Leidenschaften des Körpers, die Techniken der Bewegung mit den Emotionen des Kampfes, das Artifizielle der Sportarten mit der primitiven Lust des Stärkerseins, die Brutalität des Agons mit physischer Kunstfertigkeit, Anpassung an die Macht mit subversiven Nebenwirkungen, Erotisches mit Todesnähe.“[3435]
Sportereignisse sind atomistische Partikel des Erlebens, der Gefühle und der heroischen Taten, eingestreut in das Alltagsleben, das immer wieder ein Ende der Emotionen gebietet und ihr Fortlaufen verhindert. Sie sind eine Serie von Einzelbildern großer affektiver Themen unserer Gesellschaft. In der Wochenzeitung DIE ZEIT wurde über den seit Jon Krakauers Buch „In eisige Höhen“[3436] ausgebrochenen Bücherboom zum Extrembergsteigen geurteilt: „Extrembergsteiger gehören zu den wenigen Helden, die ohne Gewissensbisse bewundert werden können. Ihr Heldentum ist unschuldig. Die Tugenden, die sie verkörpern, sind soldatisch und sportlich: Einsatz bis zum Letzten (und darüber hinaus), Stählung des Willens, Konzentration von Psyche und Geist auf ein Ziel, optimale Körperbeherrschung.“[3437]
Galt der Sportler einmal als Gaukler auf dem Jahrmarkt, so wurde genau dieser Gaukler heute zur Sehnsucht einer Gesellschaft, die an ihren eigenen Ideologien unsicher geworden ist und sich somit an die Texte der großen Wettkämpfe klammert, in denen Einmaliges garantiert zu sein scheint. Dabei ist diese Inszenierung um ein Zentrum angeordnet: um den Glauben an die Realität der Gesellschaft, die durch diese inszenierten Ereignisse in einer Art rituellen Feier erneut bestätigt werden soll.
In dieser Feier nun wird das Spektakel eines archaischen Duells real, die Teilnehmer duellieren sich mit sich selbst und finden so, im letztendlich friedlichen Ausgang des Agons, zu ihrer Existenz und Realität zurück. Diese Duelle werden zunehmend ohne menschliche Gegner arrangiert. Es bedarf nur noch des Akteurs, das Gegenüber wird imaginiert; es wird in der Natur gefunden, die zum Gegner stilisiert wird. Das soll am Beispiel des Bergsteigens dargestellt werden.
Berge lassen den modernen Menschen keine Ruhe und bedeuten eine stetige Herausforderung. Ohne diese Herausforderung gäbe es keine Geschichte des Alpinismus und nicht so viele Menschen, die unbedingt auf den Gipfeln dieser Welt stehen wollen. Bergsteigen ist dabei grundsätzlich von einem „Todesrisiko“ begleitet.[3438] Dieser Nervenkitzel vermittelt dem Akteur ein „ganz hautnahes und konkretes Risikogefühl.“[3439] Alpinisten berichten immer wieder: „Mir war schon immer klar gewesen, daß Bergsteigen eine hochgefährliche Sache war. Ich akzeptierte, daß das Risiko ein wesentlicher Bestandteil des Spiels ohne das würde sich das Bergsteigen kaum von Hunderten von anderen Freizeitbeschäftigungen unterscheiden. Es war ein prickelndes Gefühl, das Geheimnis des Todes zu streifen, einen verstohlenen Blick über die verbotene Grenze zu werfen. Bergsteigen war eine phantastische Betätigung, und zwar, wie ich fest glaubte, nicht trotz, sondern vor allem wegen der damit einhergehenden Gefahren.“[3440]
Dieses genuine Risiko ist der Ansatz vielfältiger Stilisierungen, die das Bergsteigen als ein Produkt der Moderne von Beginn an begleiten und es dabei allzu oft als „Gegenmoderne“ – in der noch das Natürliche und Einfache, das Wahrhafte und Menschliche liege, was zumeist auch das Männliche ist –, skizzieren. Stellvertretend sei hier der junge Reinhold Messner zitiert: „Die Berge können uns mehr geben. Viel mehr. Sie können uns von der Angst vor dem Leben heilen, sie können aus uns Nummern wieder Menschen machen (für kurze Zeit oder auch für immer). Sie können uns aus diesem tierisch ernsten Leben zwischen dem Gestänge unpersönlicher Fabrikgebäude emporheben. Sie lassen uns an die Hilfsbereitschaft der anderen wieder glauben. Sie zeigen uns ein Lachen, für das die Technik keine Zeit läßt, und sie stürzen uns in Wirrnis von Schwierigkeiten, durch deren Mitte wir uns wie Abenteurer durchschlagen. Sie stecken Kraft in unseren verhockten Körper und sparen uns die meisten Krankheiten. Sie lehren uns Warten.“[3441]
Der Risikonatursport schafft Erfahrungen, die existentielle Defizite rationalistischer, abendländischer Gesellschaften temporär aufheben. Roland Girtler hat diese vielfach ausgebreitete These noch erweitert: in wagemutigen Klettertouren, die als Symbol der Freiheit von sozialen Zwängen interpretiert werden, liege der Reiz, eine Gefahr und damit sogar den Tod zu beherrschen und letztlich zu überwinden; das Bestehen dieser Gefahr rücke den Kletterer in die Nähe der Unsterblichkeit und vermittle ihm das Gefühl eine neue Existenz jenseits fader Alltäglichkeit erreicht zu haben.[3442]
Risikonatursportarten schaffen Erfahrungen, so die gängigen Erklärungsversuche, die existentielle Defizite der rationalen Welt temporär aufheben und bei der Suche nach Sinn Herausforderungen und schließlich Anerkennung produzieren, die den Einzelnen vom „gewöhnlichen“ Menschen und Wanderer abheben. Es entstünden Situationen, in denen ein „ozeanisches Gefühl“ der Harmonie wachsen kann, die ursprüngliche Authentizität des Ichs werde tendenziell wieder in Kraft gesetzt. Wildnis sei dabei als Projektions- und Aktionsfläche des Risikonatursports der Zivilisation antithetisch gegenüber gesetzt.
Das extreme Bergsteigen ist bis heute offensichtlich voller Mythen geblieben, die zudem gewinnbringend stilisiert und inszeniert werden. Dabei ist es ein „Naturabenteuer“ voller „Leiden und Gefahr“ und kennt eigentlich kein unmittelbares Glücksgefühl, wie es beispielsweise Läufer nach einem gewonnenen Wettkampf demonstrieren. Jon Krakauer hat dies in aller Schärfe zum Ausdruck gebracht: „Ich stand auf dem höchsten Punkt der Erde, den einen Fuß in China, den anderen in Nepal, und befreite meine Sauerstoffmaske von Eis. Eine Schulter gegen den Wind gestemmt, blickte ich abwesend in die unermeßliche Weite Tibets hinab. Ganz entfernt dämmerte mir, daß die Landschaftsflucht zu meinen Füßen ein überwältigender Anblick war. Von diesem Moment hatte ich monatelang geträumt, von dem Rausch der Gefühle, der ihn begleiten würde. Aber jetzt, endlich hier, tatsächlich auf dem Gipfel des Mount Everest angelangt, fehlte mir ganz einfach die Kraft, überhaupt etwas zu empfinden.“[3443]
Auf der Basis dieser Mythen hat Eugen Guido Lammer in seinem Bekenntnisbuch „Jungborn“[3444] eine Auffassung des Bergsteigens formuliert, die einer seiner Interpreten als Gefahren- und Kampfbergsteigertum darstellt, als eine Auseinandersetzung mit dem Berg. Ausgangspunkt ist dabei die beschriebene Gefahr und das Ziel deren Überwindung: „er revoltiert gegen die geschlossene Abwehr der massigen Berge, er zertrümmert die Bollwerke, die sich ihren lichten Gipfel abweisend und hinterhältig vorlagern.“[3445]
Ulrich Aufmuth liefert eine bestechende psychologische Interpretation, die Lammer als einen verzweifelten, asketisch erzogenen Jüngling darstellt, der mit aufwallenden sexuellen Trieben nicht zurecht kommt und sich schließlich in die schwierigsten Bergfahrten stürzt: „Sein damaliges Bergsteigen war ein wahrhaftiges Rasen und Toben. Am Berg setzte der Jüngling den schrecklichen Kampf, der in seiner Seele wütete, in ein physisches Kämpfen und Wüten um.“ Aufmuth schildert ihn als einen Mann, der schwere Kämpfe durchlebt hat, der sich darin aber immer wieder neu bewähren konnte. Lammer, der seinen Körper fürchtete, agiert körperlich, doch das ist moralisch sauber. Es entspricht zudem den Männlichkeitsbildern des starken, um seine Ehre ringenden Mannes, der eine „scharfgezackte Persönlichkeit“ sein wollte. Der Kampf gegen die Natur ist auch ein Kampf gegen die eigenen Schwächen,[3446] so wird der Körpertourismus von einer harschen Leistungs- und Askesemoral durchzogen, die sich nur im authentischen Kampf realisieren kann.
Jenseits der psychologischen Erklärungsebene öffnet sich ein neuer Diskurs, der nach kulturellen Bedeutungen und Schemata Ausschau hält. Über eine Personifizierung des Berges wird dieser zu einem fiktiven Gegenüber, zu einem Gegner, mit dem man sich letztendlich Duelle und Kämpfe liefert, um die eigene Ehre, die eigene Persönlichkeit zu erhalten bzw. sie wieder herzustellen.
Als Walter Bonatti 1952 erstmalig im Gebiet der Drei Zinnen war, fühlte er sich herausgefordert, diese in einem Zuge und im Winter zu durchsteigen: „Diese wahnwitzigen Felswände aber erzeugten in mir einen ebenso wahnwitzigen Gedanken. Schließlich entstand der verwegene Plan, der mich nicht mehr losließ. Ich hatte mir vorgenommen, mich im Winter mit diesen Nordwänden zu messen, wenn die Verhältnisse am schwierigsten sind und ihre Majestät unnahbar erscheint.“[3447]
In dieser Äußerung wird eine essentielle Dimension des Bergsteigens erkennbar, die in vielen Berichten immer wieder zum Vorschein drängt: der Berg wird, indem er eine „Majestät“ darstellt, mit der man sich messen will, anthropologisiert, er wird sozusagen beseelt. Der Berg spricht mit ihm, so Bubendorfer;[3448] er wird zu einem Gegenüber, das herausfordert, mit dem man sich messen will und muss.[3449] Die Berg-Natur erhält eine Seele, die den Menschen an seiner Flanke genau beobachtet und mit ihm in Kontakt tritt: „Vielleicht spürte der Aconcagua seine Schwäche und wollte ihn auf die Probe stellen?“[3450]
In dieser Personifizierung wird die Natur des Berges zum Partner einer Kommunikation, einer immer wieder neu aufgelegten Auseinandersetzung; „im Bergsteigen“, so der junge Reinhold Messner pathetisch, liege deshalb „das Glück des Immer-wieder-neu-Eroberns.“[3451] Bergsteigen wird zum Zwiegespräch, zum Werben um den Berg: „Er hatte um den Berg geworben in allen Gewändern und eines um das andere abgeworfen“; darin wurde er offensichtlich erhört, denn „verbrauchte Hüllen bezeichnen seinen Weg. Sein Herz war des Berges Herz, des Berges Atem war der seine.“[3452]
Der Sinn dieser Zwiegespräche ist es nun vor allem, die eigene Idee in den Berg zu projizieren, selbst ein Teil des Berges zu werden bzw. den Berg von der Bedeutsamkeit der eigenen Idee zu „überreden“: „Erst dann hatte er begonnen, im Einklang mit dem Berg-Gott über sich selbst hinaus zu wachsen, Teil des Berges, ja der Berg selbst zu werden, der seine Unnahbarkeit in dem Maße verlor, in dem es ihm gelang, seine Idee in ihn hineinzuprojizieren und sich selbst in ihm zu erblicken.“[3453] Man spaltet Teile seines Selbst ab und entäußert sie in den Berg, in die Natur hinein, dadurch wird diese lebendig, zum imaginierten und schließlich zum realen Gegenüber, mit dem man sich fürchterliche Kämpfe liefert. Berge werden in Zwiegesprächen zu „Personen“, die herausfordern, die zornig machen, und an denen man seinen Zorn auslassen kann und will: „Der Berg erzürnt uns, er bringt uns in Wut wie ein menschlicher Gegner.“[3454]
Die Berg-Person wird als ein reales Gegenüber gesehen, mit dem man sich messen, an dem man sich prüfen will und muss. Sie präsentiert sich dabei vielfältig als unnahbar und bedrohlich, sie wirft mit Schnee und Eis, sie zeigt ihre Tücken und Fallen, sie schlägt zurück: „Ich habe zweimal versucht, sie zu durchsteigen (die Eiger-Nordwand, R.L.), und sie hat zweimal versucht, mich umzubringen.“[3455] Bis aufs Mark herausgefordert will und muss der Bergsteiger sich diesen Widerständen entgegen stemmen.
Dabei reicht es nicht aus, die Wände nur zu überleben: Gegen die Angst, die der Berg in seiner erhabenen und unnahbaren Gestalt zunächst einflößt, setzt der Mensch seine unmäßige, aber gebändigte Kraft, ja seinen Zorn, um sie zu bezwingen. Bergsteigen wird zu einer Auseinandersetzung, die, neben spirituellen, zivilisationskritischen, ästhetischen und psychologischen Momenten, vor allem als ein Kampf gegen einen gleichwertigen, manchmal sogar übermächtigen Gegner zu sehen ist.
Dieser Aspekt lässt sich in den Worten von Ulrich Aufmuth kurz und knapp charakterisieren: „Große Bergsteiger geraten erst dann so richtig in Fahrt, wenn der ‚Gegner Berg‘ sich grimmig und widersetzlich zeigt. ... Der Wille, ‚stärker zu sein‘, aus einer elementaren, wilden Kampfhandlung als Sieger hervorzugehen, bildet bei nicht wenigen Extremen den machtvollsten Stimulus ihres rauhen Tuns.“[3456]
In diese Auseinandersetzung hat Reinhold Messner 1975 bei seiner Erstbegehung einer neuen Route auf den Hidden Peak (ein Achttausender in der Nachbarschaft des K2) sogar den „Fairness“-Gedanken implementiert: zusammen mit seinem Freund Peter Habeler ging er die Route ohne Flaschensauerstoff, Hilfsteam, Fixseile, ohne vorher eingerichtete Lager und ohne andere Belagerungstaktiken, um dem Berg mit fairen Mitteln zu begegnen.[3457] Darin liegt eine immense „Achtung“ gegenüber dem extrem personalisierten Berg und zugleich eine Aufwertung der eigenen Person, der man diese Herausforderung zutraut. Das Zwiegespräch wird zu einer Auseinandersetzung auf gesteigertem Niveau.
Das Bergsteigen kann als Kampf und Herausforderung, als Suche nach Mannbarkeitsritualen und vor allem als Ehrenrettung begriffen werden, die sich an den Flanken des personifizierten Berges abspielt. Bergsteiger bedürfen dafür des „Gegners Berg“, der aus ihnen das Letzte herausholt: „Der verbitterte Kampf vermittelt diesen Männern das tiefste Existenzerlebnis. Kämpfen bedeutet für sie den absoluten Höhepunkt, die Apotheose des Lebendigseins. Je wilder der Kampf, desto heller erglüht ihre Lebensflamme.“[3458]
Die Herausforderung durch den „Gegner Berg“, die vor allem aus dessen Beseelung resultiert, macht eine unmittelbare Nähe zum Begriff des Duells deutlich: „Das ist geradeso, wie wenn in einem todernsten Duell ein Fechter erstmals eine Wunde abbekommt. Dann wird er wild und furchtbar vor Wut. Beim schweren Bergsteigen kann man auf ganz direkte und zugleich auf unschädliche Weise Zorn loslassen und ausleben.“[3459]
Zweifelsohne ist das „moderne“ Duell, vor allem als Sportduell bekannt, weit vom klassisch- bürgerlichen Typ des Duells entfernt. Ging es im klassisch-bürgerlichen Duell vor allem um Ehre und soziale Pflichten, so geht es im „modernen“ Duell vor allem um Kräftemessen und Leistungsvergleich: „Der Gedanke eines auf Sieg oder Niederlage codierten Wettkampfes aber war dem klassischen Duell völlig fremd. Duelle waren Ehrenzweikämpfe, in denen man nicht um ein handfestes Ergebnis stritt, sondern seine Ehre unter Beweis stellte. Es kam nicht darauf an, wer am schnellsten zog oder die kräftigsten Hiebe austeilte; wichtig war allein die Tatsache, daß sich beide Gegner einem vielleicht tödlichen Kampf stellten und auf diese Weise zu erkennen gaben, daß sie ihre Ehre höher schätzten als ihr Leben.“[3460]
Das extreme Bergsteigen sehe ich nun weniger als ein „Sportduell“ im klassischen Sinn, sondern vielmehr als einen Kampf der Beteiligten um die Wiederherstellung der Unversehrtheit ihrer Person. Dieser mitunter tödliche Kampf ist immer auch ein Kampf um die „Ehrenrettung“ des Einzelnen. In den „Duellen mit dem Berg“ tritt das Duell als ein kulturelles Muster zutage, das sich jenseits der Implikationen des bürgerlichen Duells, des „Ehrenzweikampfs“, als generelle Matrix eines Duells mit der Natur entwirft.
Das bürgerliche Duell als Pistolen- oder Fechtkampf ist der szenische Höhepunkt eines sozialen Dramas, in dem verletzte Persönlichkeitswerte, Ehre und soziale Anerkennung durch einen Akt von existentieller Tragweite wieder hergestellt werden sollten.[3461] Diese Duelle hatten reinigende, klärende und somit auch kathartische Funktionen. Sie exponierten die beteiligten Personen und schufen eine Bühne für deren Integrität auf der Basis der Authentizität der Lebensführung und der Einheit von Denken und Handeln.
Dieser dramatische Akt, der in der bürgerlichen Gesellschaft nur satisfaktionsfähigen Individuen vorbehalten blieb, war Ausdruck seiner Zeit und richtete sich zugleich gegen den aufkeimenden Materialismus, der Kränkungen formal lösen wollte. Duelle wurden als „Bollwerke gegen den Feminismus” entworfen und galten als Ausdruck harter Männlichkeit gegen weiche Weiblichkeit. Den Duellanten galt Nachgiebigkeit und Konfliktscheu als Verweichlichung, die den sozialen Tod und eine kollektive Verachtung nach sich ziehen mussten. Im Duell triumphierte der Wille über den Körper, die Überwindung der Todesangst galt als Ausdrucksmittel eines unnachgiebigen männlichen Charakters. Dabei ging es weniger um die Tötung des Anderen als vielmehr um den Beweis eigener Mannhaftigkeit, eigenen Mutes. Der immer ungewisse Ausgang schuf zudem eine Gleichheit der Duellanten, die es sonst nicht gab. Das letztendliche Ziel aber war soziale Versöhnung.
Duelle waren vor allem Ausdruck eines extremen Individualismus – doch blieb dieser sozial eingewoben. Sie lassen sich deshalb durchaus als Kult der autonomen Persönlichkeit werten, als ein Mittel zur Selbsterhaltung der Person, deren Freiheit und Selbstbestimmung. Genau diese Funktion aber macht das Duell auch heute so wertvoll, in allerdings völlig veränderter Form. Dem Duell als individuellem Ausdrucksakt haftet bis heute ein eigenartiger Zauber an, der aus seinem geheimnisvollen, weltentrückten Charakter aber auch aus seiner prinzipiellen Todesnähe resultiert. Schon allein darin ist es dem extremen Bergsteigen nicht unähnlich: Die Suche nach persönlicher Integrität, der Wille und die Macht über den Körper sowie die Todesangst, die Duelle immer geprägt haben, sind Implikationen, die Duelle mit dem Berg als kulturelle Nachfolger für das bürgerliche Duell qualifizieren. Am Ende eines Bergabenteuers steht zudem Versöhnung mit sich selbst und mit dem Berg.
Die im Bergduell zutage tretende Personifizierung, die darin eingewobene Herausforderung und der folgende Kampf, der die Persönlichkeit des Subjekts stärken und hervor treten lassen soll, finden sich auch in anderen Zwiegesprächen und Zweikämpfen mit der Natur. Ähnliches berichten Kanufahrer vom Fluss, der sie narre, der ihnen unerbittlich gegenübertrete, der seine Macht demonstriere. Der Yucon, ein gefährlicher Fluß in Alaska, so Elisabeth Weigand, gebärde sich auf einmal wie wild, als ob er die Wagemutigen auf seiner Oberfläche nicht dulden wolle.[3462] Extremsportler berichten Folgendes:[3463] Die Wüste stelle ungeahnte Fallen und fordere vehement ihren Blutzoll; die Antarktis zeige sich als übermächtiger Gegner, der zudem noch im Bunde mit dem eisigen Winde sei um die Frevler, die sie erobern wollen, hinweg zu blasen; der Canyon zeige sich von seiner furchterregenden Seite und wolle die Winzlinge in ihm vernichten.
Diese Personalisierung der Natur kann allerdings auch vom Duell urplötzlich in eine Gefährdung umschlagen: Chay Blyth ein berühmter Sportsegler, der unter anderem ohne Zwischenstopp um die Welt gesegelt ist, beschreibt ein solches Ereignis: „Das Boot neigte sich in einem Winkel von 90°, der Mast lag parallel zum Wasser, und ich konnte mich nur noch von außen an das Cockpit klammern und mir selbst gut zureden, daß mich dieser Alptraum überleben werde. ‚Komm her. Pack zu!‘ rief ich dem Wind zu und wußte, daß das Boot jeden Augenblick zerbersten konnte. Da legte der Sturm sich plötzlich, und ich verspürte wieder diese wundervolle tiefe Freude.“[3464] Doch auch diese Gefährdung ist letztlich Teil des Selbst-Duells, da dieses nur dann weitergeführt werden kann, wenn beide überleben: der reale und der imaginierte Aspekt, der in die Natur verlagerte Teil des Selbst.
Diese Duelle mit der Natur sind notwendige Ventile einer Gesellschaft, deren enger Alltagsrahmen kaum noch Gelegenheiten für eine unreglementierte Persönlichkeitsentfaltung jener lässt, die an dieser Gesellschaft leiden und sich durch sie und ihre Sozialisationsagenturen verletzt und verwundet fühlen. Somit haben sich Duelle als kulturelle Muster aber vom sozialen Zwang, der auf den Mitgliedern bestimmter Milieus lastete, zu einem freien Muster der Darstellung entfaltet; sie sind sozial offener geworden und haben sich zudem von ihrem reinen Männlichkeitsdogma entfernt – schließlich finden sich auch immer mehr Frauen unter Extremsportlern am Berg, auf den Flüssen und in der Wüste. Diese Duelle werden zum Distinktionsmittel in der Politik der Lebensstile. Sie sind Ausdrucksmittel bestimmter sozialer Lagen und signalisieren Zugehörigkeit, indem sich die Akteure damit von anderen sozialen Lagen, zumeist weniger privilegierten, abgrenzen.
Das Duell als ein kulturelles Schema wurde im Fortgang der menschlichen Geschichte neu strukturiert und findet nun als Duell mit der Natur einen veränderten kulturellen Ausdruck. Die Duellanten agitieren nicht mehr gegen konkrete menschliche Gegner, die im sozialen Sinne Ehrverletzungen begangen haben. Duelle mit der Natur richten sich gegen imaginäre Gegner, wie Berge oder gefrorene Wasserfälle, die als personifizierte Gegner Aspekte des eigenen Selbst darstellen. Diese Duelle sind kein Kampf mit konkreten Menschen, sondern sie stellen einen Kampf gegen den Anderen im Selbst dar, der in die dafür beseelte Natur entäußert wird.
Im Bergsteigen und anderen riskanten Natursportarten bricht ein Stück Menschen-Natur, ein „wilder Mensch“, durch, der im Alltag völlig ausgeblendet ist. Dieser Durchbruch anderer Aspekte der Persönlichkeit ist eine Rückkehr und damit eine Wiedergeburt: „Und es ist tatsächlich eine Wiedergeburt. Vitale Körperfunktionen werden neu zum Leben erweckt.“[3465] Im disziplinierten Alltag nämlich, darauf hat schon Norbert Elias hingewiesen, wird das „Wilde“ am Menschen, werden Gefühle und Emotionen mehr und mehr aus dem gewöhnlichen Leben verbannt.[3466] Deshalb nun geht dieses „Wilde“ auf die Suche nach Refugien des Alltagslebens, die sich im Urlaub, aber vor allem in extremen Natursportreisen finden.[3467] Und dort kann sich das „Wilde“ schließlich hemmungslos entfalten!
Am Ende steht eine vorübergehende Versöhnung des Menschen mit sich selbst, dem Berg, der Natur; doch dies ist keine soziale Versöhnung mit einer Gemeinschaft, wie es dem bürgerlichen Duell noch kulturell eingeschrieben war. So hat sie nur vorübergehende Bedeutung, die zu einer fatalen Wirkung führt: sie bedarf einer ständigen Wiederholung! Joe Simpson hat dies beeindruckend einfach ausgedrückt: „Was jetzt? Es war ein Teufelskreis. Sobald du dir einen Traum erfüllt hast, bist du wieder da, wo du angefangen hast, und es dauert nicht lange, bevor du dir den nächsten heraufbeschwörst, noch etwas anstrengender diesmal, noch ein bißchen ehrgeiziger – noch ein bißchen gefährlicher.“[3468]
Die kulturellen Muster, die das bürgerliche Duell prägten, sind in einer veränderten gesellschaftlichen Ausgangssituation, in der das bürgerliche Duell keine soziale Grundlage mehr hat, neue Beziehungen eingegangen, die als Duell mit der Natur begriffen werden können. Diese Duelle mit der Natur garantieren dabei Aspekte einer Wiederherstellung der Person und deren Integrität. Sie sind Ausdruck von Autonomie und Einzigartigkeit des Individuums und haben durch ihre prinzipielle Todesnähe kathartische Funktionen für das Subjekt. Sie basieren auf dem Mut des Einzelnen und sind darin zudem ein Triumph des Willens über den Körper und präsentieren eine Bühne für die Authentizität des Erlebens und die Einheit von Denken und Handeln.
Dabei nehmen diese Duelle mit der Natur durchaus antimodernistische Züge der Zivilisationskritik an. Was Ute Frevert für das bürgerliche Duell verdichtete, gilt auch für das hier untersuchte Duell mit der Natur: „Ein zentrales Kennzeichen dieser Ehre war ihre antimoderne Stoßrichtung, ihre Bindung an einen Begriff autonomer Persönlichkeit, die gegen die zeitgenössischen Differenzierungsprozesse rebellierte und , ..., den ganzen Menschen in all seinen sinnlichen und moralischen Trieben umfaßte.“[3469]
Auch Extrembergsteiger und andere Extremnatursportler „rebellieren“ mit ihren Handlungen gegen die Parzellierung des sozialen Alltags in unterschiedliche und konfligierende Rollen; am Berg beispielsweise werde der „ganze Kerl“ benötigt und erlebe sich gerade dort als solcher. Das gilt auch für andere Abenteuer in der Natur; das Durchqueren der Wüste fordere das Letzte vom Menschen und damit alles, sein Bestes nämlich, seinen Willen zum Kampf und zum Leben. Damit wird das „persönliche Erleben“, das auch dem bürgerlichen Duell essentiell eingeschrieben war, in den Mittelpunkt gerückt: Von allergrößter Wichtigkeit war „das persönliche Erleben, die freimütig eingestandenen oder eher verborgenen Motive, sich auf ein Duell einzulassen, die Selbstbilder satisfaktionsfähiger Individuen und ihre sozialen Unterschiede.“[3470]
Das entscheidende Element des bürgerlichen Duells war es, die eigene Person vor Missachtung zu schützen. Dies aber hieß: „Nicht der Ausgang des Kampfes entschied denn auch darüber, ob die Duellanten Ehrenmänner waren, der Anerkennung ihrer sozialen Umwelt würdig, sondern das Faktum des Kampfes selber, der gleichsam läuternde, kathartische Wirkungen zeitigte.“[3471]
Auch wenn es im Kampf mit der Natur immer auch um Leistungsrekorde geht, ist es vor allem der Kampf mit dem „Gegner Natur“, der diese Duelle prägt. Darin wird die Authentizität des Erlebens der eigenen Macht essentiell: „Wir kämpfen so gern mit dem großen und greifbaren ‚Gegner Berg‘, weil der erfolgreich bestandene Kampf uns bis in die Knochen und bis in jede Muskelfaser hinein die Gewißheit gibt: Wir waren stark. Wir waren nicht ohnmächtig. Wir waren nicht hilflos. Insbesondere bei schweren Alleingängen ist dieses Erlebnis der Ich-Macht ganz immens.“[3472] Dieser Kampf ist eine Auseinandersetzung auf hohem Niveau: „Die wilde Natur des Hochgebirges erfahre ich in vielen Situationen als einen grimmigen Widerstand, so etwa, wenn ich mich gegen einen rasenden Schneesturm voran arbeite oder wenn ich beim Klettern auf einen Überhang stoße. Dann erscheint mir die Natur wie ein leibhaftiger Gegner, gegen den ich mich mit allen meinen Kräften wehren muß. Der Gegner Natur übt greifbare, physische Gewalt gegen mich aus; deswegen fordert er vor allem meine körperliche Kraft und Gewandtheit und Zähigkeit heraus.“[3473]
Im Duell mit der Natur, im modernen Abenteuer wird Authentizität hergestellt, die allerdings ohne die Inszenierung als Sportereignis nicht erfahrbar wäre. Diese Duelle werden von einem romantischen Bild derselben geprägt, welches Unversehrtheit und Reinheit voraussetzt. Ein wahrer und echter Kampf kann nur mit einer intakten Natur stattfinden. Die unberührte Natur ist dabei zugleich das Unberührte im Subjekt. So kann projiziert werden, was noch am Menschen rein und natürlich sein soll: seine Instinkte und seine unbändige Kraft, sein Heldentum und sein Mut, die letzten Reste seiner nicht durch den gesellschaftlichen Alltag domestizierten Wildheit.
Somit wird die „Erste Natur“, die „ursprüngliche“ nicht vom Menschen erschaffene, in ihrer Bedeutung und Konstitution durch die „Zweite Natur“, die durch menschliche Einwirkungen geformte, die kulturelle Überformung und die Kultur an sich, bestimmt; dabei wird das Verlangen nach Erster Natur umso größer, als es Natur in diesem Sinne kaum mehr gibt, da Natur in der Zivilisation immer umfassender technisch verändert wird.[3474] Die sinnliche Wahrnehmung von Natur ist als kulturelles Produkt „durch Ideen, durch Vorstellungen präformiert“.[3475] Darin spielen beispielsweise die Berge seit Albrecht von Hallers Gedicht die Rolle einer Projektionsfläche: man hat dort die ursprüngliche Moral der Bergbewohner gefunden, man hat die Erhabenheit des Gebirges und seine Weltentrücktheit besungen, und man entwirft sie heute als eine Sportarena, die jenseits des Alltags jene Authentizität herstellen soll, die ansonsten nicht zulässig ist.[3476]
Die Natur wird belebt, sie ist zwar nicht mehr voller Geister, sie erhält aber eine Seele, die allerdings ein Teil der Seele jener Menschen ist, die sich an und in ihr austoben. Der Berg ruft oder die Wüste lockt. Natur wird anthropologisiert, um sie zum Gegner zu entwerfen. Dabei erfüllen sich Freiheit und Glück des Einzelnen sowohl in der zeitweisen Befreiung seiner inneren Natur als auch in deren erneuten Bändigung. Um zu seiner eigenen Natur vorzustoßen, diese zu erleben und zu erfahren, geht der Körper- und Sporttourist in die kulturell entworfene und inszenierte „Erste Natur“. Darin aber geht es nicht um die dem Menschen äußere Erste Natur (Landschaft), sondern nahezu ausschließlich um die Auseinandersetzung mit der eigenen, inneren Ersten Natur (Körper). Dafür aber wird die äußere Erste Natur zum Vorbild entworfen, darin wird diese als wild und unbezähmbar suggeriert, auch wenn sie schon mehr als oft bezwungen wurde. Nur über dieses Bild kann die innere Natur zu sich selbst finden, zu ihrer Bestimmung, nur so kann sie sich ihrer eigenen Wildheit, um die es geht, erinnern und diese zugleich befreien, um sie wieder zu bändigen.
Die Formen der Begegnung mit der Natur sind nicht die Formen der Natur, sie sind kulturelle Produkte. So aber sind diese Begegnungen, die Duelle mit der Natur, eine einseitige Angelegenheit. Sie sind zum einen von dem Gedanken geprägt, auch die letzten Reservate der Wildnis für den Menschen zu erobern und zu beherrschen. Zum anderen stellen sie jene Sportarenen dar, in denen Menschen mit sich selbst ringen, auch wenn die Gegner nur entäußerte Teile der eigenen Person sind, die in der Natur vorübergehend lebendig werden. Natur wird zum Spielball der Inszenierungen, um authentische Erlebnisse für die eigene innere Natur zu erfahren. Natur wird zum Objekt für das Subjekt.
Da für die innere Natur des Menschen kein reales, äußeres Äquivalent mehr vorhanden ist, wird dies in der äußeren Natur als Sportduell inszeniert. Doch auch die innere Erste Natur ist letztlich das Produkt einer Ästhetisierung des letzten Restes Wildnis im Menschen. Ästhetisierung aber meint eine kulturelle Formulierung im Zeichen der Wiederverzauberung, darin wird Natur zum Instrument der herrschenden Bilder und der Institutionen, die sie entwerfen. So aber wird beides zur Inszenierung, so wird auch das Authentische, trotz stattfindender realer Kämpfe, ein Kunstprodukt. Die Natur wird dabei zum Nachbild der Kultur bzw. des Subjekts: „Es ist umsonst, wenn wir von einer Wildnis träumen, die in der Ferne liegt. So etwas gibt es nicht. Der Sumpf in unserem Kopf und Bauch, die Urkraft der Natur in uns, das ist es, was uns diesen Traum eingibt.“[3477]
Der moderne Abenteuertourismus, das zeigt das Beispiel des Extrembergsteigens deutlich, ist ein inszenierter Kampf mit sich selbst. Es ist der Kampf gegen die eigene Natur, die man sich als Gegner entwirft, um zum modernen Abenteurer zu werden.
Andy Martin, Hochleistungssurfer und Wissenschaftler, der von einem Lehrstuhl für Surfen träumt, schildert in einem Interview im ZEIT-Magazin seine Einstellung zum Sport, in der alles, was hier abgehandelt wurde, noch einmal in einem anderen Kontext aufscheint und sich quasi in einer Erzählung verdichtet.[3478] Auf die Frage, ob Surfen eine Grenzerfahrung sei, antwortet er: „Ja das stimmt. Offenbar gehört das mit zur Attraktion: daß du hinaus in die Wildnis gehst und vielleicht nicht mehr zurückkommst, daß dich ein Bär oder Tiger frißt“. Er spezifiziert dies hinsichtlich der Abenteuerlust, die das Surfen umgibt: „Man möchte fast sagen, mit dem Surfen ist tatsächlich ein Todestrieb verbunden, ein Verlangen, in den Schoß der Welle zurückzukehren. Oder der Wunsch zu tauschen: Ich gebe mein Leben auf, vorausgesetzt, ich bekomme dafür ein besseres. Die Transzendenz ist in der Welle, nicht jenseits von ihr. Surfen ist das Drama von Erlösung und Verdammnis, eine Art Religion: etwas zu opfern für jene höchste Erregung, die der Tod besiegelt.“ Der mögliche, aber eigentlich nicht erhoffte Tod adelt das Subjekt und betont das Leben.
Wer das Abenteuer übersteht, das Wagnis des Surfens, der kehrt gestärkt zurück: „In den Schlund der Welle zu surfen und dann wieder aufzutauchen, das ist eine Art Initiationsritus. Als stiegst du hinunter in die Löwengrube, und der Löwe fräße dich nicht auf. Das heißt doch: du hast dich dem äußersten Test unterworfen, und wenn du ihn bestehst, dann hast du einen Grund weiterzuleben, dein Leben hat einen Sinn, du bist wichtig. Das gibt dir einen gewaltigen Kick.“ Das Hinabsteigen und das Wiederauftauchen ist ein Mannbarkeitsritus, der nicht lange währt, denn dieser Kick ist schnell vorbei. „Das ist das Schlimme daran: Du brauchst einen neuen Grund, du suchst die nächste, noch perfektere Welle. Dabei gibt es kein Ende, du kannst dir immer noch etwas Vollkommeneres vorstellen. Surfen ist eigentlich eine Tragödie.“[3479]
Verwendete Literatur:
[Apter 1994] Apter, Michael: Im Rausch der Gefahr. Warum immer mehr Menschen den Nervenkitzel suchen. München 1994.
[Aufmuth 1985] Aufmuth, Ulrich: Die Lust am Risiko. In: Deutscher Alpenverein (Hg): Berg 85. München 1985, S. 87–102.
[Aufmuth 1988] Aufmuth, Ulrich : Zur Psychologie des Bergsteigens. Frankfurt am Main 1988.
[Aufmuth 1996] Aufmuth, Ulrich: Lebenshunger. Zürich 1996.
[Bonatti 1964] Bonatti, Walter: BBerge – meine Berge. Rüschlikon 1964.
[Bubendorfer 1995] Bubendorfer, Thomas: Senkrecht gegen die Zeit. München 1995.
[Elias 1976] Elias, Norbert: Über den Prozeß der Zivilisation. 2 Bde. Frankfurt am Main 1976.
[Enzensberger 1962] Enzensberger, Hans Magnus: Eine Theorie des Tourismus (1958). In: Enzensberger, Hans Magnus: Einzelheiten I. Bewußtseins-Industrie. Frankfurt am Main 1962, S. 179–205.
[Frevert 1991] Frevert, Ute: Ehrenmänner. Das Duell in der bürgerlichen Gesellschaft. München 1991.
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[Greitbauer 1973] Greitbauer, Karl: Das Ganze der alpinen Idee. Wien 1973.
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[KöckCh 1990] Köck, Christoph: Sehnsucht Abenteuer. Auf den Spuren der Erlebnisgesellschaft. Berlin 1990.
[Krakauer 1999] Krakauer, Jon: Auf den Gipfeln der Welt. Übersetzung aus dem Amerikanischen von Wolfgang Rhiel. München 1999.
[Krakauer 1998] Krakauer, Jon: In eisige Höhen. Das Drama am Mount Everest. Übersetzung aus dem Amerikanischen von Stephan Steeger. München 1998.
[Lammer 1923] Lammer, Eugen Guido: Jungborn. Bergfahrten und Höhengedanken eines einsamen Pfadsuchers. 2. Aufl. München 1923.
[LutzR 1999b] Lutz, Ronald: Traumzeit Berg. Zur Philosophie der Natursportreisen. In: Tourismus-Journal 3/1 (1999), S. 121–135.
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[LutzR 2000b] Lutz, Ronald: Selbst-Duelle in der individualisierten Gesellschaft. In: Klein, Michael (Hg.): Guter Sport in schlechter Gesellschaft – Heilversprechen, Legitimationskrisen und strukturelle Probleme des Sports nach dem Ende des 20. Jahrhunderts. Erfurt 2000, S. 112–127.
[Messner 1970] Messner, Reinhold: Zurück in die Berge. Bozen 1970.
[Messner 1979] Messner, Reinhold: Everest. Expedition zum Endpunkt. Frankfurt 1979.
[Messner 1980] Messner, Reinhold : Grenzbereich Todeszone. Frankfurt am Main 1980.
[Messner 2000] Messner, Reinhold: Everest Solo. Frankfurt am Main 2000.
[Peskoller 1999] Peskoller, Helga: ergDenken. Eine Kulturgeschichte der Höhe. Wien 1999.
[Röttgen-Burtscheidt] Röttgen-Burtscheidt, Monika: Einmal Natur und zurück. Outdoor-Kultur im Spiegel des Reisemagazins „Outdoor“. Ungedr. Magisterarbeit Bonn o. J.
[Schama 1996] Schama, Simon: Der Traum von der Wildnis. München 1996.
[Simpson 1988] Simpson, Joe: Sturz ins Leere. München 1988.
[Siegrist 1996] Siegrist, Dominik: Alltagsgeographie und Naturdiskurs in deutschsprachigen Bergsteigerberichten. Zürich 1996.
[Stremlow 1998] Stremlow, Matthias: Die Alpen aus der Untersicht. Von der Verheißung der nahen Fremde zur Sportarena. Kontinuität und Wandel von Alpenbildern seit 1700. Diss. Zürich 1998. Bern [u. a.] 1998.
[WeigandE 1995] Weigand, Elisabeth: Mit dem Kanu quer durch Alaska. Trier 1995.
[Ziak 1981] Ziak, Karl: Der Mensch und die Berge. Eine Weltgeschichte des Alpinismus. Salzburg 1981.
[3432] Frankfurter Rundschau vom 13.3.1999.
[3433] [Siegrist 1998], hier: S. 239.
[3435] [Hortleder/Gebauer 1986], S. 9.
[3437] Die ZEIT vom 4.3.1999.
[3439] [Aufmuth 1985], hier S. 90.
[3440] [Krakauer 1998], S. 340/341.
[3442] [Girtler 1995], S. 141–150.
[3443] [Krakauer 1998], S. 27.
[3445] [Greitbauer 1973], S. 31.
[3447] [Bonatti 1964], S. 33f.
[3450] [Bubendorfer 1995], S. 183.
[3451] [Messner 1970], S. 12.
[3452] Meyer, O.E., Berg und Mensch, zit in: [Greitbauer 1973], S. 57.
[3453] [Bubendorfer 1995], S. 166.
[3454] [Aufmuth 1988], S. 168.
[3455] [Krakauer 1999], S. 16.
[3456] [Aufmuth 1988], S. 26.
[3457] [Krakauer 1999], S. 237.
[3458] [Aufmuth 1988], S. 169.
[3459] [Aufmuth 1988], S. 169.
[3460] [Frevert 1991], S. 11.
[3463] So beispielsweise in der Zeitschrift „outdoor“; vgl. auch: [Röttgen-Burtscheidt].
[3464] Blyth, Chay im Interview, zit in: [Apter 1994], S. 60.
[3465] [Aufmuth 1988], S. 23.
[3466] [Elias 1976].
[3467] [KöckCh 1990], S. 118.
[3469] [Frevert 1991], S. 187.
[3470] [Frevert 1991], S. 178.
[3471] [Frevert 1991], S. 293.
[3472] [Aufmuth 1988], S. 138.
[3473] [Aufmuth 1996], S. 163/164.
[3477] [Schama 1996], S. 618.
[3478] ZEIT-Magazin Nr. 32; 30.7.1998, S. 30–32.
[3479] ZEIT-Magazin Nr. 32; 30.7.1998, S. 30–32.