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Sprache und Gesellschaft (Oswald Panagl) – Langtext

Sechs Grundfragen der Sprachsoziologie

Sprache und Denken

Das Verhältnis der kognitiven Leistungen des Menschen zu seinem sprachlichen Vermögen ist ein uraltes Problem von Linguistik und Philosophie, in neuerer Zeit auch von Psychologie, Biologie und Neurologie: eine Grundfrage, auf die zu verschiedenen Zeiten wechselnde Antworten gegeben wurden. Prinzipiell sind zwei idealtypische Lösungen möglich:

  1. Das Denken bedient sich der Sprache als Ausdrucksmittel seiner Resultate und wandelt damit Erkenntnisse in Aussagen um.

  2. Die Sprache, konkret: das jeweils besondere einzelsprachliche System, prägt und bedingt das spezifische Denken, da grammatikalische Strukturen und syntaktische Ausdrucksmuster gedankliche Prozesse anbahnen können, sie nahe legen oder erschweren, im Extremfall sogar blockieren.

Das erstere Grundmuster, man kann es „instrumentale Hypothese“ nennen, lässt sich bereits in der antiken Philosophie, etwa bei Platon, orten: Die Sprache als treue und gehorsame Magd der menschlichen Vernunft passte so recht in das hierarchische Konzept der menschlichen Fähigkeiten. Der andere Prototyp, die so genannte „deterministische Theorie“, ist ein geistiges Kind des 19. Jahrhunderts. Sie geht auf die Sprachuntersuchungen Wilhelm von Humboldts zurück, wurde im frühen 20. Jahrhundert durch die Feldforschungen von Benjamin Lee Whorf und Edward Sapir zunächst scheinbar bestätigt und stieg zum herrschenden Paradigma auf. Beobachtungen zum besonderen Zeitbegriff der Hopi-Indianer wurden mit deren Sprachtypus begründet und führten zu dem später viel diskutierten „sprachlichen Relativitätsprinzip“, wonach sich der grammatische Bau für den Sprecher gleichsam zum Käfig seiner mentalen Kapazität entwickle, in dem bestimmte begriffliche Leistungen für ihn – bildlich gesprochen – außer Reichweite bleiben. Diese auch in der deutschsprachigen Forschung einst lebhaft vertretene Doktrin gilt mittlerweile, zumindest in der radikalen Variante, als überholt: nicht zuletzt widerlegten sie die Jahrzehnte später wiederholten Experimente an Indianersprachen, nunmehr mit klareren Fragestellungen und präziseren Methoden. Wie so häufig in wissenschaftlichen Disputen und geschichtlichen Reifungsprozessen hat das schroffe Lagerdenken einer wechselseitigen Verständigung Platz gemacht und eine Art von Synthese ermöglicht. Gerade die empirischen Arbeiten der Genfer psychologischen Schule eines Jean Piaget haben gezeigt, dass sich das Wechselverhältnis zwischen Sprache und Denken vielleicht am besten nach dem Prinzip der Schaukel modellieren lässt. Der höhere Aufschwung in der einen Bewegungsrichtung löst im Normalfall einen entsprechenden „Höhenflug“ nach der anderen Seite hin aus. Aber der Problemkomplex ist noch keineswegs ausdiskutiert, viele Fragen bleiben offen.

Defizit oder Differenz?

Sprachliches Vermögen und „kommunikative Kompetenz“ (Jürgen Habermas) beschränken sich nicht auf Orthografie und guten Aufsatzstil, sie machen also nicht an der Schnittstelle von Schule und Leben Halt. Der Alltag verlangt vielmehr dem erfolgreichen Umgang mit der Sprache vielfältige Leistungen ab: den angemessenen Einstieg in ein Gespräch, Signale der Aufmerksamkeit, eingehaltene Gebote der Höflichkeit, einen passenden Mittelweg zwischen umständlicher Weitschweifigkeit und allzu lapidarer Kürze, das Vermeiden von hochgestochenem Bildungsvokabular in trivialen Situationen, aber auch umgekehrt die Bezeichnung präziser Sachverhalte mit unscharfer Umgangssprache.

Dass Sprache auch mit Prestige, beruflichem Erfolg, sozialem Aufstieg zu tun hat, lässt sich allenthalben beobachten und hat im angelsächsischen Raum um 1960 einen eigenen Zweig der Sprachsoziologie geschaffen. Der Sozialpädagoge Basil Bernstein gilt als Begründer der bald auch in Deutschland mit Nachdruck betriebenen Sprachbarrieren-Forschung. Seine Grundannahme, an britischen Gesellschaftsstrukturen und Wirtschaftsdaten entwickelt und mit Schulversuchen erhärtet, behauptet, dass Unterschichtkinder mit einem beschränkten Ausdrucksvermögen („restringierter Code“) in die Schule eintreten, das sie gegenüber den gleichaltrigen Mitschülern aus Mittelschichtfamilien („elaborierter Code“) benachteiligt und diskriminiert. Der Unterschied im sprachlichen Register, wie er sich etwa in Aufsätzen feststellen lässt, reicht bei den sozial benachteiligten Schülern von einer geringeren Differenzierung im Satzbau bis zu einer, auch als mangelndes Selbstbewusstsein interpretierbaren Vermeidung der „Ich“-Form. Es ist nach diesem Konzept die wichtigste Aufgabe des Sprachunterrichts, über die Befähigung der Vertreter des restringierten Codes zu einem reicheren Ausdrucksregister die gesellschaftliche Hermetik zu durchbrechen, mit der verbesserten sprachlichen Leistung zu beruflichem Erfolg und höherem Sozialprestige zu führen. „Defizithypothese“, „schichtspezifischer Sprachgebrauch“, „Kompensation“ sind auch heute noch gängige Termini der Sozialpädagogik, obwohl sich das Bernstein’sche Programm nicht voll bewährt hat, aus sprachtheoretischer Sicht heftig kritisiert worden ist und besonders die Übertragbarkeit der gesellschaftlichen Befunde auf die Verhältnisse in Deutschland und Österreich prinzipiell angezweifelt wurden.

Als Reaktion auf Defizit und Kompensation hat der amerikanische Soziolinguist William Labov in seinem Modell die Konzepte und Gegenbegriffe Differenz und Emanzipation kreiert. Seine unterprivilegierten bzw. diskriminierten Gruppen waren Farbige in den U.S.A., deren Substandard Black English lange als unterentwickelte, stigmatisierte Varietät der Hochsprache gegolten hatte. Labovs sehr sorgfältig betriebene Studien haben ergeben, dass Termini wie Differenziertheit, Angemessenheit oder Komplexität keine absoluten Größen darstellen, sondern nur relativ zum jeweiligen Gegenstand und Anlass zu bestimmen sind. Die von Labovs Forschergruppe untersuchten Rituale, Streitgespräche und Argumentationsweisen der Farbigen stehen demnach in vielen Kriterien den entsprechenden Redesituationen und Kommunikationsverfahren der „hochsprachlichen“ weißen Bevölkerung keineswegs nach. Daher schlossen diese Arbeitsergebnisse mit zwei praktischen Direktiven: an die Gesellschaft bzw. die politische Öffentlichkeit zur Anerkennung mehrerer Varietäten an Stelle einer einzigen verbindlichen Norm; an die Vertreter des Black English zu einem selbstbewussten Umgang mit ihrer spezifischen Sprachform, also mit einem emanzipatorischen Appell. Auch in diesem Fall steht eine befriedigende Übertragung der Forschungsresultate auf die andersartigen deutschsprachigen Verhältnisse (z. B. Hochsprache – Dialekt) noch aus.

Lesarten von Sprache

„Die Sprache bleibt ein reiner Himmelshauch, empfunden nur von stillen Erdensöhnen“ formuliert Johann Wolfgang Goethe skeptisch-kritisch in einem „Etymologie“ überschriebenen Gedicht und vermerkt in seinen „Maximen und Reflexionen“ pointiert: „Wer fremde Sprachen nicht kennt, weiß nichts von seiner eigenen.“ Sein Weggefährte und Geistesfreund Friedrich Schiller spricht im mittleren der drei „Wallenstein“-Dramen aus dem Munde einer Figur: „Stets ist die Sprache kecker als die Tat“, und in Franz Grillparzers „Der Traum ein Leben“ heißt es aphoristisch-resignierend: „Jedem Sprecher fehlt die Sprache, fehlt dem Hörenden das Ohr.“ Friedrich Hebbel registriert in seinen „Tagebüchern“ folgerichtig: „In der Sprache, die man am schlechtesten spricht, kann man am wenigsten lügen.“ Und Prinz Tamino bedauert in der „Zauberflöte“ seinen Reisebegleiter Papageno, der mit einem Schloss vor dem Mund nur unartikulierte Laute hervorbringt: „Der Arme kann von Strafe sagen, denn seine Sprache ist dahin.“ Genug der Worte aus Dichtermund, denen im Verlaufe ihrer Rezeptionsgeschichte Flügel gewachsen sind. Sie zeigen in ihrem leicht vermehrbaren Ensemble, welche Fülle von Lesarten und Bedeutungsnuancen dem Wort Sprache im Deutschen innewohnen: die Tätigkeit des Sprechens, die Befähigung dazu, die Art, wie sich jemand artikuliert, aber auch die Haltung und Emotion eines Sprechenden; die Gesamtheit der Ausdrucksmittel einer Gemeinschaft, eines Volkes, nicht weniger als der einzelne Sprechakt, die konkrete kommunikative Situation. Kein Wunder, dass eine Sprache wie das Französische für das weitgespannte semantische Spektrum dieses Vokabels je nach aktuellem Bedarf wenigstens vier Bezeichnungen aufbieten muss: le langage, la langue, la parole, le parler. Und die Kompetenz wie die Einfühlungsgabe eines Übersetzers werden auf die Probe gestellt, wenn es gilt, Redewendungen der folgenden Art angemessen in ein fremdes Idiom zu übertragen: der Ursprung der Sprache; die gleiche Sprache sprechen; die Sprache der Blumen; da bleibt mir die Sprache weg; davon wird noch die Sprache sein; diese Zahlen sprechen eine deutliche Sprache; Nestroy ist ein Meister der Sprache; der Sprache nach stammt er aus Österreich.

Als ein System von Zeichen, die dem Menschen zur Kundgabe und Mitteilung von Gedanken, Gefühlen, Willensregungen und Absichten dienen, gehört Sprache zur Grundausstattung der Gattung Mensch, ja sie gilt manchem Forschungsansatz als differentia specifica, als Inbegriff der conditio humana. Wenn ein Verbalvirtuose vom Range Karl Kraus das Verhältnis zum Medium, zu seinem Ausdrucksregister so beschreibt, dass nicht er über die Sprache verfüge, sondern dass sie vielmehr ihn beherrsche, so ist das nur scheinbar ein Paradox: Immer wieder hypostasiert das Mittel zum Diktator, das Instrument avanciert zum selbstherrlichen, tyrannischen Popanz. Auch in unserem Alltag sind wir dieser Zwingherrschaft ständig ausgesetzt, müssen wir uns in einem Dickicht von Angeboten und Zumutungen, von Devisen und Deutungsmustern eine gangbare individuelle Schneise bahnen. Das zeigt exemplarisch ein Blick auf die Schlagzeilen der Tagespresse am 12. September 2001, an jenem ominösen „Morgen danach“, als sich Aufmacher, Bericht und Interpretation der Ereignisse in den Vereinigten Staaten von Amerika auf engstem Raum zusammengedrängt und bisweilen verschränkt haben: „Terror-Inferno erschüttert Weltmacht USA“, „Kamikaze-Angriffe auf New York und Washington“, „Amerika hilflos gegen Frontalangriff des Terrorismus“, „Nervenzentralen der USA zerstört“ oder nur einfach „Krieg gegen Amerika“: so lauteten bloß einige Titel, mit denen Tageszeitungen ihr Leserpublikum auf ein unfassbares und beispielloses Katastrophenszenario einzustimmen suchten.

Einheitliche Sprache – eine Fiktion?

Wenn verschiedene Menschen von der „deutschen Sprache“, ihrer „Muttersprache“ oder der Spielart des „österreichischen Deutsch“ reden, so gebrauchen sie zwar den gleichen Ausdruck, meinen aber zumeist nicht dasselbe. Als Idealtyp gilt dabei vielen die Hoch- oder Schriftsprache (in älterer phonetischer Auslegung das „Bühnendeutsch“), die sich völlig dem grammatischen Regelwerk anpasst, die auch ältere Konstruktionen konserviert (gedenken mit dem Genetiv, dank mit dem Dativ), sowie ein reichhaltiges Vokabular mit vielen Synonymen (erlauben, gestatten, zugestehen) und Archaismen (Leumund, Weichbild, Hoffart) bewahrt und sich als ein großräumiges kommunikatives Netz gleichsam die Regionen überzieht. Und doch: Die Hochsprache gilt zwar, korrekt angewendet, immer als richtig, aber keineswegs in allen Situationen als angemessen. Wer im zwanglosen Dialog mit einem lokal, sozial und dem Alter nach Gleichgestellten Wörter wie „sich befleißigen“, Fügungen wie „vorstellig werden“ oder Satzmuster mit dem Futurum exactum („Sobald er dort angekommen sein wird …“) gebraucht, fällt auf, erregt ungewollt Aufmerksamkeit, sogar Befremden, wirkt gleichsam sprachlich „overdressed“. In solchen informellen Gesprächen wird demnach eine Umgangssprache erwartet, die durchaus überregionale Geltung aufweist, aber nach vielen Kriterien, so auch in der Wortstellung, in der Vorliebe für lose Satzreihen statt strenger Satzgefüge, mit Freiheiten im Kasusgebrauch so etwas wie einen verbalen „Freizeitlook“ darstellt.

Zu unterscheiden davon ist der eigentliche Dialekt, nach Definition eigentlich eine gesprochene Sprache, die freilich auch in eigenen Formen der Dichtung, besonders in Liedertexten ihren Niederschlag findet. Dialektsprecher mit unzulänglicher Beherrschung der Hochsprache oder einer überregionalen Umgangssprache können durchaus in kommunikative Verlegenheit kommen, wenn es zur Konversation mit Vertretern einer anderen Varietät des Deutschen kommt. Die lautlichen Entsprechungsregeln reichen keineswegs immer aus, und der Wortschatz geht oft recht verschiedene Wege. Die daraus resultierenden Missverständnisse, etwa zwischen norddeutschen Urlaubsgästen und angestammten Salzburgern oder Tirolern, sind eine unerschöpfliche Quelle von Witzen und Kalauern.

Es gibt aber daneben noch zahlreiche weitere Nischen und Reservate der Sprache, die ihre eigenen Ausdrucksweisen entwickelt haben und in denen Fremde – wenn auch mit derselben Muttersprache – es nicht ganz leicht haben oder vielleicht gar nicht willkommen sind. Freilich sind solche Sondersprachen und Jargons zumeist keine völlig verschiedenen Ausdruckssysteme mit eigenen grammatikalischen Strukturen. Die Spezifika und unterscheidenden Merkmale sind durchwegs im Wortgebrauch, in den Phrasen und Redewendungen angesiedelt. Ich beschränke mich auf zwei typische Beispiele: die Jugendsprache und die Fachsprache des Handwerks.

Jugendliche haben in ihrer Peer-Group eine Ausdrucksweise entwickelt, die sie selbst als einen losen Verband ausweist, damit Zusammengehörigkeit und Identität stiftet, die Welt der arrivierten Erwachsenen zugleich ausgrenzt (vgl. die Bezeichnung „Grufties“). Der Jugendjargon ist emotional besetzt und strebt häufig nach Affekterneuerung (vgl. steil, geil, ätzend, megagalaktisch, chefmäßig). Anglizismen sind stets willkommen, aber keinesfalls ein durchgehender Wesenszug. Die Sprüche der Jugendszene – bisweilen auf Graffiti festgehalten – haben und hatten oft verbale Kraft und pessimistisch getönten semantischen Tiefsinn („Gestern standen wir noch vor dem Abgrund, heute sind wir einen Schritt weiter“), dazu augenzwinkernde Selbstironie („Newton ist tot, Einstein ist tot – und mir ist auch schon ganz schlecht!“). Versuche der Erwachsenen, sich dem Jugendlichen sprachlich anzupassen, indem sie deren Jargon gebrauchen, werden von den Betroffenen wenig geschätzt, sogar als Anbiederung abgelehnt. Wer also bei einem Kommunikationsversuch den Ausdruck „megacool“ einsetzt, sollte auf der Hut sein und muss mit schroffen oder spöttischen Reaktionen rechnen.

Auch die alten Fachsprachen gewerblicher Berufe sind unserem Bewusstsein inzwischen weitgehend entglitten. Dabei gab und gibt es durchaus vielfache Querverbindungen zur Standardsprache. Das Verbum gerben bedeutete ursprünglich „fertig machen“ (vgl. noch das Küchenvokabel „gar“), ehe es als Spezialausdruck des Lederhandwerks auf die Bearbeitung von Fellen und Häuten eingeschränkt wurde. Der Spezialjargon des Gewerbes der Buchdrucker ist selbst für Insider mittlerweile obsolet geworden. Neue technische Verfahren, die Technologie des Computers vor allem, haben ohnehin seltsame Ausdrücke für typografische Versehen wie „Fliegenkopf“, „Leiche“, „Zwiebelfisch“ oder gar „Hurenkind“ noch skurriler gemacht und aus dem gemeinsprachlichen Wissen verbannt. Ein Verbum wie „gautschen“ in diesem Gewerbe bedeutet für den Berufsangehörigen wohl noch „Papier zum Pressen in ein besonderes Brett legen“, in der öffentlichen Sprache aber lebt es allenfalls noch als Bezeichnung für ein altes Ritual der Freisprechung von Lehrlingen fort.

Anders ist die Lage in Berufssparten, bei denen der Kontakt des Herstellers oder Betreuers mit dem Kunden besonders eng und direkt ist. Eine Hausfrau, die beim Fleischhauer einkauft, kann sich mit diesem ohne weiteres über Fleischsorten wie Tafelspitz, Schulterdeckel, Beiried oder Ochsenschlepp verständigen. Und auch die Fachsprache der Kfz-Mechaniker expandiert zunehmend in weitere Bevölkerungskreise: über Fachmagazine, die Gruppe der Autofetischisten, aber auch den nicht geringen Kreis der selbst ernannten Experten, die ihrem Partner in der Werkstätte nicht sprachlich unbedarft gegenübertreten wollen.

Reinheitsgebot oder offene Sprachgrenzen?

Das Ideal vom reinen, unverfälschten Deutsch ist ein wiederkehrendes Thema von Umfragen und Symposien, ist zugleich ein Leitmotiv von Podiumsdiskussionen und Leserbriefen. Die zumeist leidenschaftlich vorgetragenen Argumente der Puristen, die Berufung auf eine ausdrucksstarke Kultursprache, die Furcht vor der Überschwemmung mit Anglizismen, die Ablehnung überflüssiger Fremdwörter sind – von einigen xenophoben Auswüchsen einmal abgesehen – zumeist ehrenwert und diskutabel. Sind sie auch realistisch, oder stellen sie nicht vielmehr einen Kampf gegen Windmühlen dar?

Schon das Konzept vom homogenen, nur Erbwörter enthaltenden Deutsch ist bei näherem Zusehen eine Illusion, öffnet man erst einmal das Visier und blickt in die Frühgeschichte des Wortschatzes zurück. Durch die Kontakte mit den Römern und über deren kulturelle sowie zivilisatorische Überlegenheit ist unsere Sprache von einer Vielzahl verkappter lateinischer Lehnwörter durchsetzt, die freilich nur mehr dem sprachhistorischen Röntgenblick erkennbar werden. Vom Kalk und Zement über die Straße bis zur Mauer, vom Keller des Hauses bis zu seinen Fenstern wimmelt es von lateinischen Vokabeln. Nicht viel anders ist es beim Schreibwesen: man denke nur an Tinte und Papier, ja an den Vorgang des Schreibens selbst.

Der berühmte Wiener Sprachwissenschaftler des frühen 20. Jahrhunderts Paul Kretschmer hatte jeder lebenden Sprache den Charakter eines Mischsystems zugesprochen. Nach seiner Ansicht sind die Grenzen zwischen Erb-, Lehn- und Fremdwörtern fließend. Zudem haben sprachliche Einflüsse durchwegs triftige Ursachen, sie entstehen nicht (nur) aus Willkür und Übermut.

Nun wird man solche „Bedarfslehnwörter“ bei den zuvor angeführten Beispielen ohne weiteres anerkennen. Aber wie steht es mit der Übernahme fremden Wortguts in unseren Tagen? Im Zentrum der Kritik stehen da die Anglizismen, besonders dann, wenn sie nicht von technischen Notwendigkeiten außersprachlich begründbar sind. Aber vermitteln die Ausdrücke nicht auch ein Begleitgefühl, einen emotionalen Wert, der dem deutschen Gegenstück nicht innewohnt? So enthält das Weekend ein Erwartungsprofil, das dem angestammten Wochenende nicht zukommt. Cool ist nicht gleich kühl und der Hit, ob bei Preisangeboten oder Musiknummern, ist eben kürzer und „unverbrauchter“ als der bewährte Schlager. Mit der expandierenden Bedeutung der elektronischen Datenverarbeitung zählen Fachverben wie mailen oder forwarden bereits zum Alltagsvokabular. Andere Bereiche wie die Werbebranche überraschen mit Spezialwörtern wie „matchen“, „cutten“ und „promoten“.

Aber waren die alten Zeiten immer auch sprachlich „gute“ Perioden? Wie leicht vergisst man, dass selbst ein scheinbar so typischer Austriazismus wie fesch vor etwa 100 Jahren aus englisch fashionable „modisch“ gekürzt und eingemeindet worden ist. Wie sich überhaupt sprachliche Überfremdung auf den Wortschatz beschränkt, dessen Bestandteile nach einer geläufigen Metapher gleichsam den Flugsand des Sprachmaterials bilden. Eine unlängst gelesene Überschrift „Car-Leasing boomt“ besteht zwar ausschließlich aus englischen Vokabeln, doch die Endung des Verbums, nämlich -t, macht daraus doch einen deutschen Satz.

Was dem Sprachkritiker von heute als anglizistischer Dorn ins Auge sticht, das waren seinen besorgten Vorgängern seit dem 17. Jahrhundert die Fremdwörter aus dem Lateinischen und Französischen. Gesichtserker für Nase mutet als Übersetzungsversuch nur noch grotesk an, desgleichen im 19. Jahrhundert Gottestum und Leuthold statt Religion und Patriot. Anderen Neuwörtern war immerhin dauerhafter Erfolg beschieden wie etwa Zerrbild (Karikatur), Kreislauf (Zirkulation) oder Angelpunkt (Pol). Dagegen hat sich im 20. Jahrhundert der Fernsprecher gegenüber dem Telefon ebenso wenig durchgesetzt wie die Anschrift gegenüber der Adresse: vielleicht weil beiden Bezeichnungen ein internationales Moment anhaftet.

Wie stark Fremdausdrücke der Mode unterliegen, zeigt uns der Blick in den aktuellen Alltag: Das englische „o. k.“ macht – gerade bei Jugendlichen – zunehmend dem jargonhaften „Passt!“ Platz. Und der populäre italienische Abschiedsgruß „Ciao!“, eine dialektale Variante von schiavo („Diener, Sklave“), führt auf Umwegen wieder zum „Servus!“ zurück.

Eine allzu heftige und verbitterte Fremdwortdebatte hat der Schriftsteller Hans Weigel einmal mit einem sprachlichen Scherz ins Lächerliche gezogen: „Wer jedes Fremdwort ängstlich vermeiden will, muss statt Radioaktivität Rundfunktätigkeit sagen“.

Europa und die sprachlichen Regionen

Waren in den vergangenen Kapiteln medizinisch gesprochen Anamnese und Diagnose angesagt, so kann es sich bei diesem kurzen Ausblick nur um Prognose handeln. Die Diskussion um die politische, wirtschaftliche und kulturelle Zukunft Europas ist voll im Gang. In Österreich haben sich im Zuge der Beitrittsdebatte und im Lichte neuer Erfahrungen originelle Neuwörter gebildet, die von der Meinungsvielfalt, von Erwartungshaltungen im Spannungsfeld von Hoffnung und Befürchtung beredtes Zeugnis ablegen: der Euromuffel oder Eurochonder stand da dem munteren Vertreter einer Europhorie gegenüber.

Als sprachliche Folgen und Auswirkungen dieses ebenso beispiellosen wie konfliktreichen Integrationsprozesses möchte ich mit aller gebotenen Vorsicht drei Thesen riskieren:

  1. Die Rolle des Englischen, sicher mit stilistischen Abstrichen und in einer reduzierten Variante, wird auf allen internationalen Podien weiter zunehmen. Wie uns in der Vergangenheit die Verbreitung des Lateinischen in Kirche und Politik gezeigt hat, tendiert die großräumige Verständigung zur sprachlichen Einheit.

  2. Der Einfluss des Deutschen mag dementsprechend auf dem politischen Parkett zurückgehen, doch dürfte das Bestreben nach sprachlichem Selbstwert, der Wille zur Identität über ein eigenes, selbstständiges Idiom längerer Perspektive die Nationalsprachen mittelbar wieder aufwerten.

  3. Die offenen Grenzen, der freizügige Tourismus, besonders aber die Osterweiterung werden gerade in Österreich die deutsche Sprache auch zu einem wichtigen verbalen „Verkehrsmittel“ und „Handlungsinstrument“ machen, das auch kulturelle und historische Werte verstärkt zur Geltung bringen mag. Und gerade das österreichische Deutsch dürfte in diesem Prozess mehr Prestige gewinnen als die bloße Bestätigung des folkloristischen Charmes lokaler Speisenkarten.

Sprache und Identität

Paul Wittgensteins berühmter und häufig zitierter Satz „Die Grenzen meiner Sprache sind die Grenzen meiner Welt“ ist erkenntnistheoretisch gemeint und zielt auf die beschränkten, durch sprachliche Ausdrucksmittel definierten kognitiven Fähigkeiten des Menschen ab.

Doch dieses Dictum lässt sich auch anders lesen bzw. auf den Erfahrungswert beziehen, dass sich Individuen ebenso wie Kollektive, ja ganze Völker durch und über ihren Sprachgebrauch bestimmen, verstehen und daraus Halt gewinnen sowie ihr Selbstwertgefühl beziehen. Sprachliche Identität erweist sich damit ebenso als Lebensform wie als Überlebensmittel. Aus der Biografie einzelner Menschen ebenso wie aus der Geschichte ganzer Stämme lassen sich dafür Beispiele des Gelingens und des Misslingens heranziehen.

Der römische Dichter Publius Ovidius Naso, literarisch wirkungsmächtig und in unseren Tagen sogar zur Romanfigur avanciert, hat die letzten Jahre seines Lebens im Exil, am Schwarzen Meer in einem anderssprachigen Milieu zugebracht. Die Gründe für seine Verbannung durch den Kaiser Augustus werden nach wie vor lebhaft diskutiert und sind noch keineswegs eindeutig aufgeklärt: Waren es Indiskretionen, wurde der Poet verleumdet oder passte er mit seinem Schreiben und Denken nicht in die restaurative, auf Harmonie bedachte Kulturszene am kaiserlichen Hof. Was ihn bis zu seinem Tod in Tomi (18 n. Chr.) aufrecht hielt und geistig überleben ließ, war (nach einer Formulierung von Elias Canetti) „die gerettete Zunge“, also der Umstand, dass er in der späten Dichtung seiner „Tristia“ und der „Epistulae ex Ponto“ sein Leid, seine Einsamkeit, sein Geschick in der Muttersprache dichterisch aussprechen durfte.

Die Tagebücher des Romanisten Victor Klemperer, in jüngster Zeit zum Bucherfolg aufgestiegen und sogar filmisch aufbereitet, sind berührende Zeugnisse eines politisch verfolgten Menschen, der auch unter schier unerträglichem Leidensdruck seine Sprachgemeinschaft nicht verlassen, das Ambiente seiner verbalen Identität nicht aufgeben konnte und wollte.

Ein anderer Sprachbesessener hat das versucht und ist daran tragisch gescheitert. Wir sprechen von Stefan Zweig, dem Romancier, Essayisten und Übersetzer, jahrzehntelang vom literarischen Erfolg verwöhnt und von einer treuen Lesergemeinde verehrt. Seine Flucht vor den Schikanen des Nationalsozialismus endete über die Stationen London und New York mit dem Selbstmord im brasilianischen Petropolis. In letzten Zeilen vor dem Suizid am 22. Februar 1942, einem Schreiben an das Stadtoberhaupt seines neuen Domizils, lesen wir, dass „die Welt meiner eigenen Sprache für mich untergegangen ist und meine geistige Heimat Europa sich selbst vernichtet.“

Dem Einundsechzigjähren war bewusst, dass es „besonderer Kräfte (bedurfte), um noch einmal völlig neu zu beginnen. Und die meinen sind durch die langen Jahre heimatlosen Wanderns erschöpft. So halte ich es für besser, rechtzeitig und in aufrechter Haltung ein Leben abzuschließen, dem geistige Arbeit immer die lauterste Freude und persönliche Freiheit das höchste Gut dieser Erde gewesen.“

Aber auch Völker sind untergegangen oder haben sich aufgerieben, wenn mit der sprachlichen Identität und Selbstbehauptung auch das gemeinsame Selbstverständnis verloren gegangen ist. Ein Beispiel aus dem Altertum liefert der Stamm der Phryger. Ihre Bedeutung in der Frühgeschichte erhellt aus dem Faktum, dass Homer in der „Ilias“ diese kleinasiatische Ethnie immer wieder als Anwohner und Bundesgenossen der Trojaner hervorhebt. Im achten vorchristlichen Jahrhundert gewinnt das phrygische Reich unter seinem Herrscher Midas II. beträchtliche Ausdehnung und Macht, von der auch die Felsinschriften in altphrygischer Sprache Zeugnis ablegen. Die Zerstörung dieser Herrschaft durch den Kimmeriersturm (696/95) ließ die Phryger in der Folge immer wieder unter die Räder wechselnder Fremdbestimmung (Lyder, Perser, Kelten, Pergamon, Römer) kommen. Die Bevölkerung wurde versklavt oder musste sich in sozial untergeordneten Rollen und Berufen mit den neuen Dynastien abfinden. In der griechischen Literatur begegnet uns der Phryger als der Paria schlechthin, der Name verkam zum Synonym für einen verachteten, diskriminierten, ja lächerlichen Barbaren, dessen sprachliche Äußerungen dem Kulturvolk der Hellenen wie ein unartikuliertes Gestammel erscheinen musste. Die phrygische Sprache verfiel über die Jahrhunderte von einem vollgültigen Ausdruckssystem zu einem trümmerhaften Gebilde, dem die Anerkennung und Außenwirkung abhanden gekommen waren. Die Spuren dieses Idioms verlieren sich in den ersten nachchristlichen Jahrhunderten in einer Anzahl von Grabinschriften, die potenzielle Schänder und Räuber dieser Gedenkstätten mit Fluchformeln bedrohten.

Die Wichtigkeit sprachlicher Identität, gleichsam ihr „Sitz im Leben“ erweist sich an dem heute noch metaphorisch gebrauchten Bildungsvokabel „Schibboleth“ für sprachliches Erkennungszeichen und seinem Ursprung. Das Buch „Richter“ des Alten Testaments (12,5f) berichtet vom Krieg der Gileaditer mit den Ephraimitern. An der entscheidenden Stelle heißt es: „Gilead besetzte nun die Jordanfurten nach Ephraim zu. Wenn nun Flüchtlinge aus Ephraim sagten: ‚Wir möchten übersetzen‘, dann fragten die Männer von Gilead dagegen: ‚Bist du ein Ephraimit?‘. Antwortete er dann: ‚Nein‘, dann geboten sie ihm: ‚Sprich doch einmal Schibboleth!‘ Sagte er aber ‚Sibboleth‘ – er konnte es ja nicht richtig aussprechen –, dann ergriffen sie ihn und machten ihn nieder an den Jordanfurten. So fielen damals von Ephraim 42.000 Mann.“ Die authentische Artikulation eines hebräischen Wortes entschied also nach dem biblischen Bericht über Leben oder Tod. Der Lyriker Paul Celan hat in einem Gedicht „Schibboleth“ (aus der Sammlung „Von Schwelle zu Schwelle“) diese Nachricht aufgegriffen und in symbolischer Verdichtung auf seine eigene Befindlichkeit als rassistisch Verfolgter und Heimatloser bezogen:

Herz:  Gib dich auch hier zu erkennen,
hier, in der Mitte des Marktes.
Ruf´s, das Schibboleth, hinaus
In die Fremde der Heimat:
Februar. No pasaran.

Zwei österreichische Künstler, der Fotograf Kurt Kaindl und der Schriftsteller Karl-Markus Gauß, haben zwischen Ostern 1999 und Oktober 2000 gemeinsam fünf längere Reisen unternommen, „um ein paar kleine, wenig bekannte Nationalitäten Europas zu besuchen.“ Die Ergebnisse dieser Beobachtungen und Erkundungen haben auf zweifache Weise Gestalt gewonnen: In einem Textband von Karl-Markus Gauß mit dem pessimistischen Titel „Die sterbenden Europäer“ (Wien 2001) und in einem Katalog der beiden Spurensucher, der eine Ausstellung in Salzburg begleitet und kommentiert. Seine Überschrift, zugleich Motto der Präsentation, ist wohl nachdenklich, aber zugleich hoffnungsvoller, und lautet „Die unbekannten Europäer“ (Salzburg 2002).

Was die Autoren in Wort und Bild vermitteln möchten, ist im Einleitungsessay stichhaltig formuliert: „Wir wollten erfahren, wie Menschen leben, deren Muttersprache vom Aussterben bedroht ist, deren überlieferte Kultur in der Gefahr steht, in dieser oder der nächsten Generation ins Museum zu übersiedeln, und die von dem Bewusstsein geprägt sind, dass sie vielleicht schon die letzten sind: die letzten Sepharden von Sarajevo, die letzten Gottscheer Deutschen, die letzten Albaner Süditaliens, die letzten Aromunen des Balkans, die letzten Sorben der Lausitz.“

Wie stark Sprache und Identität korrespondieren, voneinander abhängen und aufeinander angewiesen sind, erkennt Gauß beispielhaft am Verhalten der Sorben, Aromunen und Arbëreshe: „Auch ihre Situation ist prekär, doch rechnen sich ihnen wesentlich mehr Menschen zu, und nicht wenige von diesen suchen dem kulturellen Untergang ihrer Gruppe zu trotzen. Dazu zählt auch, dass sie ihre Identität nicht mehr zu verschweigen, sondern bekannt zu machen trachten. Wie viele großmütige, leidenschaftliche, gastfreundliche Menschen haben wir auf unseren Reisen doch getroffen, die es drängte, uns zu erklären, was es mit ihnen, mit den Aromunen, Arbëreshe und Sorben auf sich hat, was die Besonderheiten ihrer religiösen Sitten ausmacht und worin die Eigenheiten ihrer Sprache bestehen.“

Um wenigstens einen bescheidenen Eindruck von fünf jener vergessenen Völker zu hinterlassen, für die das beschriebene Unternehmen Aufmerksamkeit zu erwecken sucht, seien kurze Passagen aus den Essays von Karl-Markus Gauß zitiert:

  • Wir lesen zu den Sepharden von Sarajevo: „Zurück blieb eine jüdische Gemeinde, die, je nach Auskunftsgeber, 700 oder nur mehr 70 Menschen umfasst. Die meisten von ihnen sind alt und leben im Bewusstsein, dass sie die letzten sind; die letzten Zeugen der sephardischen Kultur Sarajevos, die mit ihnen nach 500 Jahren unwiederbringlich zu Ende geht.“

  • Von den Deutschen der Gottschee im Schnittbereich von Slowenien und Kroatien ist zu erfahren: „Ihre Sprache, das ‚Gottscheberische‘, einen schönen Seitenzweig des Mittelhochdeutschen, haben sie über all die Zeit zu retten versucht … Wie viele Gottscheer es heute im slowenischen Distrikt Kočevje gibt, lässt sich schwer sagen. Einige Hundert werden es sein, die sich jetzt wieder als Gottscheberer bekennen. Und in Slowenien beginnt man sich zögerlich mit der 1945 verfemten Gruppe zu beschäftigen und ihre Geschichte, die auch ein Teil der eigenen, der slowenischen Geschichte ist, umzudeuten.“

  • Bisweilen ist das Verhältnis von Identität und Assimilation seltsam, ja paradox, wie im Fall der Albaner von Kalabrien, „wo man in rund dreißig Gemeinden auf der Straße, in der Bar jene eigentümliche Sprache hören kann, von der sich das heute in Albanien gesprochene Albanisch recht weit entfernt hat. Wie es den Arbëreshe gelungen ist, sich so lange ein Gefühl der Zusammengehörigkeit und Eigenständigkeit zu bewahren, ist durchaus rätselhaft. Schon von Anfang an trachteten sie nämlich in vielem, sich an die italienischen Nachbarn anzupassen.“ Gauß pointiert diese Neigung später zur Aussage, „dass sich die Arbëreshe geradezu beflissen bemühten, die besten Italiener zu sein.“

  • Dass äußere Anerkennung und innerer Zusammenhalt nicht selbstverständlich kongruieren, bisweilen sogar auseinanderstreben, beweist die gegenwärtige Situation der etwa 60.000 Sorben in der Lausitz: „Seit der Wende haben sie Anspruch auf eigene Schulen und mancherlei Förderung, doch scheint es, dass gerade jetzt, da der Druck von außen geringer wird, die Volksgruppe im Inneren zerfällt. Den Sorben kommt die eigene Jugend abhanden, die sich an neuen, medial vermittelten Werten orientiert, und die einst so widerständig gepflegten Traditionen haben es schwer, nicht zur folkloristischen Inszenierung zu verkommen.“

  • In einer vergleichsweise günstigen Lage als Umgangssprache befindet sich da das Aromunische: „Die Aromunen Mazedoniens leben in allen großen Städten des kleinen Staates und in etlichen Dörfern und Gemeinden im Süden des Landes. Nižepole liegt über tausend Meter hoch und wird heute von weniger Menschen bewohnt als vor dreihundert Jahren. Aber hier, wo eine stolze alte Schule vor sich hinwittert, ist die ‚limba armaneasea‘, die aromunische Sprache, immer noch die Verkehrssprache aller Bewohner: Unter diesen bilden zwar Türken, slawische Mazedonier, Griechen und Albaner wohl schon die Mehrheit, aber wenn diese Menschen verschiedener Muttersprache sich miteinander unterhalten wollen, wählen sie das Aromunische, das sie alle ein wenig beherrschen.“

Eine etwas andere Lesart des Titels dieses Kapitels vertritt die Soziolinguistin Ruth Wodak in ihren Arbeiten, zuletzt vor allem in einem an der österreichischen Akademie der Wissenschaften angesiedelten Großprojekt, das sein Programm im Namen trägt: „Diskurs, Politik, Identität.“ In einem rezenten Aufsatz bringt sie die Dialektik von Identität und Differenz, von Integration und Ausgrenzung auf den folgenden zeithistorischen Nenner: „In dieser medialen Gesellschaft, die ganz neue Konzepte von Zeit und Raum anbietet, werden Identitäten aufgeweicht, Grenzen neu geschaffen und wieder aufgehoben, Widersprüche stehen im Raum und müssen auch ausgehalten werden. Nur ein generelles Umdenken entlang dieser neuen Kategorien wird es letztlich ermöglichen, alte (rhetorische) Muster zu sprengen und damit zu leben, dass es weder die ‚Fremde‘ noch die ‚Heimat‘ mehr gibt bzw. geben kann. Das eröffnet letztlich auch positive Bilder: denn dann ist jeder und jede nirgends mehr und überall zu Hause.“

Sprache und Nation

Nach einer wohl überlegten und ausgewogenen Definition von Alfred Klose in der zweiten Auflage des „Katholischen Soziallexikons“ (Graz–Wien–Köln 1980) lässt sich der viel diskutierte und auch politisch brisante Begriff der Nation so darstellen: „Nation umfasst eine Gemeinschaft, die durch Tradition und gewisses gemeinsames politisches Bewusstsein verbunden ist. Dazu kommen weithin noch Sprache und Abstammung als gemeinsames Kennzeichen; in vielen Fällen ist es allerdings nur eine Staatssprache, die staatlich organisierten Nationen gemeinsam ist. Vom Volk, bei dem die stammesmäßige und naturhafte Verbindung mehr hervortritt, unterscheidet die Nation deutlich das politische Element als gemeinsames Kennzeichen. Heute leben in sehr vielen Staaten mehrere Nationen; dennoch wird vielfach für die staatlich organisierte Nation der Begriff der ‚Nation‘ verwendet (so Vereinte Nationen). Der anglo-amerikanische Sprachgebrauch ‚nation‘ im Sinne von Staatsvolk tritt heute immer mehr hervor. Die nationalen Unterschiede innerhalb des Staates werden als Nationalitätenproblem gekennzeichnet.“ Verknüpft man dieses politische Merkmalaggregat mit sprachlichen Parametern und korreliert sie mit linguistischen Teildisziplinen (Soziolinguistik, Sprachpolitik, Zweitspracherwerb), so bieten sich als erste Stichworte die Termini Diglossie und Multilingualismus an. Der von Charles A. Ferguson in Umlauf gesetzte Begriff der Diglossie bezieht sich auf eine stabile Sprachensituation mit streng getrennten Benützungsweisen und Gebrauchsregeln des Primärdialekts (Low-Variety) und der darüber gebreiteten „Decke“ der Hochsprache (High-Variety). Die Wahl der jeweils adäquaten Sprachvariante ist eine Funktion der Sprechsituation, wobei neben dem Ausmaß an Formalität und Offizialität auch das Gesprächsthema als steuerndes Moment von Belang ist: Ein akademischer Vortrag unterscheidet sich von lockerer privater Unterhaltung, eine Parlamentsdebatte wird anders eingeschätzt als die anschließenden oder vorausgehenden Couloirgespräche; im Rundfunk haben Weltnachrichten oft einen anderen Stellenwert als lokale Meldungen oder volkstümliche Sendungen. Notorische Situationen von Diglossie im angeführten strikten Sinn bestehen z. B. in vielen arabischen Staaten (klassisches Arabisch des Koran vs. moderne Dialekte), weiters in Griechenland (Katharevus(s)a vs. Dimotiki) sowie besonders in der Schweiz (Hochdeutsch – Schwyzerdütsch).

Bei der Mehrsprachigkeit, die zumeist in der Variante des Bilingualismus auftritt, lassen sich zwei Grundmuster methodisch auseinanderhalten: Wird eine mehrsprachige Kompetenz schon im Kindesalter und in einem Ambiente erworben, in dem die jeweiligen Idiome gleichberechtigt koexistieren und frei miteinander variieren, wenn es sich demnach um einen bi- oder multilingualen Primärspracherwerb handelt, dann liegt der sogenannte zusammengesetzte Typus (composite type) vor. Die alternative Spielart (coordinate type), bei der nach einsprachiger Kindheit die Zweit- bzw. Drittsprache erst in der Schule oder im Berufsmilieu erworben wird, charakterisiert zumeist eine ungleiche und inhomogene Sprachbeherrschung, wobei Unterschiede im Ausdrucksregister, aber auch eine Trennung der sprachlichen Anwendungsbereiche auffallen. Die Interessen zwei- oder mehrsprachiger Gruppen der Bevölkerung, also die viel berufenen ethnischen Minderheiten werden dabei nicht selten zu einem (vor allem innen-) politischen Konfliktpotential und Problemreservoir. Man denke nur an jene Sprachstreitigkeiten der jüngeren Vergangenheit, die mit den Stichwörtern Südtirol, Kärntner Slowenen, Elsässer und Bretonen assoziiert werden. Nachbarstaaten mit durchaus vergleichbarer ethnischer Struktur und ähnlichen sozialen Verhältnissen wählen trotzdem oft unterschiedliche, ja gegensätzliche Verfahrensweisen in ihrer Sprachenpolitik: Man denke nur an den Kontrast zwischen dem zentralistischen, rigoros monolingualen Frankreich und der Schweiz, deren föderaler Liberalismus nicht weniger als vier Landessprachen (Deutsch, Französisch, Italienisch, Rätoromanisch) anerkennt.

Unter einer Nationalsprache versteht man in der modernen Soziolinguistik zunächst die „Gesamtmenge aller regionalen, sozialen und funktionalen, gesprochenen und geschriebenen Varianten einer historisch-politisch definierten Sprachgemeinschaft.“ In einer strengeren Auslegung meint der Begriff allerdings die Hoch- bzw. Schriftsprache einer historisch-politisch definierten Sprachgemeinschaft, was also Dialekte oder so genannte Soziolekte ausschließt. Die Axiome beider Begriffsvarianten erscheinen freilich insofern anfechtbar, als die Koinzidenz von Nation und Sprache keineswegs den Regelfall darstellt, wofür sowohl politische wie historische Ursachen verantwortlich sind. Gerade die zuvor erwähnte Schweiz ist der Musterfall für eine Koexistenz zwischen sprachlicher Vielfalt und nationaler Einheit. Umgekehrt hat die Tatsache, dass in Deutschland, in Österreich und in der Schweiz Hochdeutsch als sprachlicher Standard (mit regionalen Differenzen wie Austriazismen und Helvetismen im Wortschatz, aber auch in der Phraseologie, Phonetik und Morphologie) anerkannt ist, zu keiner nationalen Einigung geführt. Gerade die Situation des Deutschen mit seinen abgesetzten ‚Standardvarietäten‘ hat die gelungene Bezeichnung solcher Verhältnisse als plurizentrische Sprache motiviert. Denn Differenzierungen (z. B. des Wortschatzes oder in der Aussprache) sind zwar nicht zu verkennen, doch das Postulat einer eigenen Sprache als besonderes System ist methodisch unhaltbar. Der auf die verbalen, vor allem aber kulturellen und spirituellen Unterschiede zwischen Deutschen und Österreichern abzielende Ausspruch „Was uns trennt, ist die gemeinsame Sprache“ bleibt demnach ein boshaft pointiertes Aperçu.

Der Sachbereich „Sprache und Nation“ ist durch die jüngste, ja noch andauernde politische und wirtschaftliche Entwicklung Europas in ein neues Licht getreten. Die linguistischen Aspekte der sukzessiven Integrationsschritte sind in ihrer Tragweite und ihren Konsequenzen noch kaum abzuschätzen. Ein neues Forschungsparadigma, für das sich bereits der Name Eurolinguistik eingebürgert hat, verspricht jedenfalls ein großes Betätigungsfeld mit lohnenden, auch praxisrelevanten Aufgaben. Peter Hans Nelde, einer der führenden Vertreter dieser neuen Richtung, beschreibt die Forschungssituation so: „Die umsichtig abwägende Haltung und die behutsam für eine sprachgrenzüberschreitende Sprachplanung formulierten Vorschläge der Kontaktlinguistik sowie zahlreiche empirische Projekte zu ihrer Umsetzung in multiperspektivische und multidisziplinäre Sprachenpolitiken scheinen einen vorsichtigen Optimismus hinsichtlich der sprachpolitischen Zukunft Europas zu rechtfertigen.“

Literaturhinweise

Sprache und Identität

Gauß, Karl-Markus: Die sterbenden Europäer. Wien 2001.

Haarmann, Harald: Lexikon der untergegangenen Sprachen. München 2002.

Kaindl, Kurt: Die unbekannten Europäer. Fotoreise zu den Aromunen, Sepharden, Gottscheern, Arbëreshe und Sorben. Mit Texten von Karl-Markus Gauß. Salzburg 2002.

Metzeltin, Michael (u. a.): Der Andere und der Fremde. Wien 1996.

Wodak, Ruth: „Diskurs, Politik, Identität“, in: Panagl, Oswald; Hans Goebl; Emil Brix (Hg.): Der Mensch und seine Sprache(n), Wien–Köln–Weimar 2001, S. 133–153.

Sprache und Nation

Ammon, Ulrich: Die deutsche Sprache in Deutschland, Österreich und der Schweiz. Das Problem der nationalen Varietäten. Berlin 1995.

Fishman, Joshua A.: Soziologie der Sprache. Eine interdisziplinäre sozialwissenschaftliche Betrachtung der Sprache in der Gesellschaft. München 1975.

Guchmann, M. M.: Der Weg zur deutschen Nationalsprache. 2 Bde. Berlin 1969/70.

Nelde, Peter Hans: „Präliminarien zu einer europäischen Sprachenpolitik“, in: Panagl, Oswald; Hans Goebl; Emil Brix (Hg.): Der Mensch und seine Sprache(n). Wien–Köln–Weimar 2001, S. 191–210.

Wiesinger, Peter (Hg.): Das österreichische Deutsch. Wien 1998.

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