Seine Exzellenz Dr. Alois Kothgasser, Erzbischof von Salzburg, übersandte am 24. Jänner 2005 ein schriftliches Statement an die Herausgeberinnen. Die Fragen wurden von Ulrike Kammerhofer-Aggermann gestellt.
In jedem Menschen wohnt eine tiefe Sehnsucht nach Angenommensein, Beheimatung und Geborgenheit. Es ist bittere Realität auf unserer Welt, dass es „ein vollkommenes Sich-zu-Hause-Wissen“ aber hier nicht gibt. Das gehört zu unserem Menschsein, dass wir unterwegs bleiben auf dem Weg durch die Zeit in die ewige Heimat. Die Bibel spricht einmal davon, dass wir „Pilger und Fremdlinge“ sind auf dieser Welt. Trotzdem bleibt seit Jesu Zeit der Auftrag und Appell, einander anzunehmen und aufeinander zu achten, immer ein Gebot der Stunde. Unter den Werken der Barmherzigkeit steht markant der Satz: „Ich war obdachlos und ihr habt mich aufgenommen!“ Diese „sozial-karitative Diakonie“ ist ein ethischer Imperativ an jeden Christen und an die Gemeinschaft der Kirche, jene Menschen nicht zu übersehen, die auf der Flucht sind und nach einem schützenden Dach Ausschau halten. Zu Anfang des 20. Jahrhunderts hat Friedrich Nietzsche ein düsteres Gedicht geschrieben mit dem sich wiederholenden Refrain: „Weh dem, der keine Heimat hat!“ Dieser Satz ist nicht nur Ausdruck von Nietzsches eigener Traurigkeit, er kommt mir fast wie eine Grundmelodie des gesamten vergangenen Jahrhunderts vor. Bischof Reinhold Stecher schreibt in seinem Buch „Geleise ins morgen“: Das 20. Jahrhundert „hat die kühnsten Sprünge nach vorne und die deprimierendsten zurück gemacht. Es hat die größten Flüchtlingsströme der Weltgeschichte produziert. Wir haben alle Rekorde an Vertriebenen, Verschleppten, Um- und Ausgesiedelten, Verjagten, Geplünderten, in irgendwelche Lager Gepferchten und argwöhnisch als ‚Fremde‘ Verachteten gebrochen. Das Jahrhundert der stolzen Autobahnen hat endlose Elendszüge von Frauen, Kindern, Alten und Kranken über die Straßen gejagt.“ Als Christen können und dürfen wir uns deshalb niemals davon dispensieren, die Türen unseres Herzens sowie die Türen unserer Häuser zu öffnen für jene, die um Aufnahme bitten. „Erga migrantes Caritas Christi“ („Die Liebe Christi zu den Migranten“) lautet ein aktuelles päpstliches Schreiben, am 3. Mai 2004 herausgegeben vom Päpstlichen Rat der Seelsorge für die Migranten und Menschen unterwegs. Hier werden uns viele gute Ideen und Motivationen in die Hand gegeben, wie wir die „Migration als Zeichen der Zeit und als Sorge der Kirche“ heute sehen und diesem Phänomen aus der Sicht des Glaubens tatkräftig und wirksam begegnen können.
In den vergangenen Jahren hat der Begriff „Nachhaltigkeit“ eine steile Karriere gemacht und ist in vieler Munde. Nachhaltigkeit ist „als Prinzip und als Forderung mittlerweile kaum noch aus gesellschaftlichen, politischen und auch kirchlichen Konzepten, die sich mit der Zukunft der Menschheit beschäftigen, wegzudenken …“ (Karl Lehmann) Ursprünglich aus dem ökonomischen Denken kommend hat dieser Begriff inzwischen auch die geistige und geistliche Ebene erreicht und Eingang in die Sorge der Kirche um die Bewahrung der Schöpfung, um die Erhaltung und Förderung von Gerechtigkeit und Frieden sowie ganz besonders um den Schutz des menschlichen Lebens in all seinen Phasen bekommen.
Gott allein ist „Herr über Leben und Tod“. Unsere Berufung ist es, Anwalt für das Leben zu sein. Die Gottesebenbildlichkeit des Menschen als Grundlage für seine Würde und für seine Grundrechte ruft uns in die sittliche Pflicht und Verantwortung, dem Leben in Liebe zu dienen. Niemand darf durch die Hand des Menschen sterben. Sterbebegleitung wie sie z. B. die Hospizbewegung in vorzüglicher Weise leistet, achtet die Würde des Menschen und hilft dem Sterbenden an der Hand eines guten Menschen sein irdisches Leben in die Hände des Schöpfers zurückzugeben.
Zu den unverzichtbaren Werten in unserer Gesellschaft gehören Liebe und Treue, wie sie in Ehe und Familie gelebt und erfahren werden. „Die Zukunft der Menschheit geht über die Familie“, sagt Johannes Paul II. Deshalb darf uns für die Familie kein Opfer zu groß sein. Der Einsatz für die Familie dient vor allem auch dazu, den einzelnen Menschen vor seelischer Verwahrlosung zu bewahren. Kardinal Franz König hat einmal gesagt:„Der Mensch kann nicht leben und seelisch gesund bleiben ohne echte, selbstlose Liebe. Denn der Mensch ist zur Liebe geschaffen.“ Kein Mensch kann ohne Bindungen leben. Freiheit und Bindung bedingen einander und bewahren den Menschen davor, haltlos zu werden und in einem als trostlos und sinnlos empfundenen Dasein zu scheitern.
Ganzheitliche Bildung ist und bleibt immer gefragt und notwendig. Es gilt nicht allein den Kopf zu bilden, sondern vor allem auch das Herz des Menschen. Seit ihren Anfängen ist die Kirche bestrebt und bemüht, der Bildung des Menschen im umfassenden Sinne Wege zu bereiten. Diese „kulturelle Diakonie“ der Kirche hat auf dem Bildungssektor nachhaltig beigetragen, dass Talente, Begabungen, Charismen in einer ungemein breiten Vielfalt entdeckt, entfaltet und gefördert werden konnten. Die Kirche sieht ihre Sendung deshalb auch darin, bei der Wertevermittlung zu helfen. Der schulische Religionsunterricht will hier eine Hilfe sein, aber auch alle Formen von Fest und Feier sowie die Hochschätzung der von einem vierfachen Bewusstsein geprägten Volkskultur und Brauchtumspflege (Geschichts-, Heimat-, Gemeinschafts- und Glaubensbewusstsein) helfen den Menschen, das Leben dankbar anzunehmen und miteinander fruchtbringend zu gestalten.
Das Gespür und der Sinn für das Wahre, Gute und Schöne müssen dazu immer wieder neu gestärkt werden. Hier kann die Religion sehr viel beitragen. Wenn Bildung und Erziehung „wertorientiert“ sein sollen, muss auch deutlich auf jene Werte hingeführt werden, deren Nützlichkeit nicht unmittelbar auf der Hand liegt, wie z. B. am Spiel, an der Musik und auch an Ethik und Religion sichtbar wird. Bildung erstreckt sich deshalb nicht nur auf technisches Können, naturwissenschaftliche Erkenntnisse und „erdhaftes“ Wissen, sondern wesentlich auf Geist, Gemüt und Leib; sie sieht nicht nur auf den Kopf des Menschen, sondern auf das Herz, also auf die Mitte der menschlichen Person.
Als Erstes „Ermutigung zum Leben“ und Zuspruch zum Wagnis der Bindung an Gott und die Menschen. „Den Mutigen gehört die Welt!“ sagt ein bekanntes und bewährtes Sprichwort. In Zeiten wie diesen sind nicht Resignation oder Frust angesagt. In der Bibel begegnet man sehr oft dem Zuruf: „Fürchte dich nicht!“ oder „Fürchtet euch nicht!“ Angeblich steht 365-mal dieser Zuspruch in der Heiligen Schrift, also für jeden Tag des Jahres.
Als Zweites: „Lasst uns das Licht auf den Leuchter stellen!“ Ein schönes Bild aus der Bergpredigt. Damit meine ich die Entdeckung und Entfaltung der vielen guten Anlagen und Begabungen, die in jedem jungen Menschen stecken. Damit aber dies gut gelingen kann, braucht es die Erfahrung von Gemeinschaft und Geborgenheit. Freilich ist dies in unserer Zeit nicht immer leicht, vor allem dann wenn junge Menschen sich selbst überlassen sind, kein gutes Daheim und wenig Geborgenheit in der Familie erfahren haben. Die Pflege von Freundschaft und die (aktive) Teilnahme am Gemeinschaftsleben bewahren vor Vereinsamung und seelischer Niedergeschlagenheit. Vielleicht kann dabei auch ein Gebet wie jenes vom heiligen Franz von Assisi hilfreich sein:
„Herr, mach mich zu einem Werkzeug deines Friedens, dass ich liebe, wo man hasst;
dass ich verzeihe, wo man beleidigt; dass ich verbinde, wo Streit herrscht;
dass ich die Wahrheit sage, wo Irrtum ist; dass ich Glauben bringe, wo Zweifel droht;
dass ich Hoffnung wecke, wo Verzweiflung quält; dass ich ein Licht entzünde, wo Finsternis regiert; dass ich Freude bringe, wo der Kummer wohnt!“
Und als Drittes möchte ich einen Glück- und Segenswunsch mitgeben. Es gibt im Leben viele Anlässe, einander Glück zu wünschen. Es gibt in uns Menschen eine starke Sehnsucht nach einem erfüllten, geglückten und gelungenen Leben. Wer lebt, möchte glücklich sein. Dies bedeutet, dass man in Einklang steht mit allem, was lebt. Das Ganze unseres Daseins erscheint als stimmig: Das Verhältnis zur Um- und Mitwelt, zu Gott und zu sich selbst. Glück lässt sich nicht kaufen, nicht erzeugen und machen, nicht erzwingen. Man kann es nicht direkt anpeilen und unmittelbar ergreifen.
Denker aller Zeiten haben darauf hingewiesen, dass das Glück indirekt, vor allem auf dem Rücken einer guten Tat kommt. Wir merken erst nachher, dass wir glücklich sind. Glück ist also eine Sache der Aufmerksamkeit. Es ist kein sentimentaler Spruch, sondern es steckt eine tiefe Wahrheit in den Versen: „Willst du glücklich sein im Leben, trage bei zu anderer Glück, denn die Freude, die wir geben, kehrt ins eigene Herz zurück.“ Wir Christen sagen, dass wir den Segen Gottes brauchen und dass wir auf seine Gnade angewiesen sind. Im Glückwünschen sagen wir viel aus über den Menschen, vor allem dass wir es gut mit ihm meinen. Darum ist es gut und immer wieder richtig und wichtig, wenn wir uns einander aus vollem Herzen Glück und Segen wünschen.