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10.12. Komplementäre Kulturlandschaften. Die Stadt München und die touristifizierten Alpen (Christoph Köck) - Langtext

10.12.1. Facetten des Regionalen

„Das Regionale” bezieht sich im öffentlichen Sprachgebrauch auf Nahwelten, auf kleinräumige Einheiten abseits der globalen Lebensformen. „Regionale Identität” ist ein Leitbild, das im Unterschied zur „nationalen Identität” in Deutschland nie sonderlich umstritten war. Mit der Region wird das Überschaubare und Authentische verknüpft, ein Territorium, dessen Struktur jenseits übergreifender und uniformer kultureller Strukturen liegt.

Regionale Kultur wird tradiert – dies ist ihre konstante Seite – sie ist andererseits permanent in Bewegung und verändert sich. Wer was wann unter Region versteht, und wie sich Region für den einzelnen gestaltet, ist nicht immer leicht fassbar. Mit dem kulturellen Baustein Region wird von unterschiedlichen Interessengruppen strategisch operiert. Die Begriffe „Region” oder „Kulturregion” werden in der politischen Debatte Deutschlands und Europas – sowie auch in der touristischen Produktwerbung – häufig mit „ländlichem Raum” oder „historischem Raum” gleichgesetzt und durch bestimmte materielle Symbole identifiziert: etwa die Keramikregion Westerwald, die Fachwerkregion Sauerland, die Spreewälder Gurkenregion oder die Hopfenregion in der Hallertau.[3505] Kulturregionen – so scheint es – machen vor den Umgehungsautobahnen der Großstädte halt. Die Großstadt gilt als Treffpunkt der transregionalen und globalen kulturellen Ausdrucksformen. Eine oft vorgebrachte Kritik an den Großstädten zielt auf deren landschaftliche Einförmigkeit: allerorten ähnliche Fußgängerzonen, ähnliche Industriegebiete, ähnliche Vororte im ähnlichen Reihenhausstil machen heute – so die Kulturkritik – das Wesen moderner urbaner Zentren aus. Diese Einstellung hat historische Wurzeln:

Aus Verunsicherung gegenüber Modernisierungsprozessen etablieren sich deutschlandweit gegen Ende des 19. Jahrhunderts und verstärkt erneut in den 1920er Jahren die Heimatschutzbewegungen, die sich in lokalen und regionalen Vereinen organisieren. Sie propagieren regionales Bewusstsein gegenüber kulturellen Vereinheitlichungstendenzen. In der Kritik stehen insbesondere Kulturelemente die angloamerikanisch beeinflusst sind: Jazz, moderne Tänze und Musik und auch das Radio als transregionale Kulturübermittler stehen in der Kritik. Regionale Identität wird im Kontrast zu diesen neuen Formen als authentische Haltung naturalisiert. Heimat-, Naturschutz- und Gebirgsvereine bemühen sich, das „Althergebrachte” zu bewahren: regionaltypische Mundarten, „typische” Häuser, Bräuche, Tänze, Lieder und Trachten werden als genuine Repräsentationszeugnisse definiert, erhalten und tradiert.[3506]

Die Entdeckung des Heimatregion ist eng verknüpft mit der Industrialisierung und Touristifizierung von Landschaften. Dabei sind sich die industrielle und die touristische Region zunächst gar nicht ähnlich. Während sich erstere als Produktionslandschaft darstellt (etwa das „Kohlerevier”, also das Ruhrgebiet), ist letztere ein Konsumraum, wo „Landschaft” genossen oder, in Form der „regionalen Küche” sogar verzehrt wird. Mit dem Regionaltypischen, dem Traditionellen, lässt sich werben und Geld verdienen. Der Arbeitsethos des Ruhrgebiets ist ein positiver Standortfaktor,[3507] genauso wie das Bier der Bayern oder der Schwarzwälder Schinken. Die Europäische Union hat für „traditionelle Spezialitäten” ein Schutzsystem eingeführt, das die Herkunft eines Produktes garantieren soll. Es gibt drei Varianten: Lebensmittel mit „geschützter Ursprungsbezeichnung, „geschützter geografischer Angabe” und als „garantiert traditionelle Spezialität”.[3508]

Das von der Politik proklamierte „Europa der Regionen” setzt sich aus grenzüberschreitenden ökonomischen Räumen – den „Euregios” – zusammen, die letztlich nicht auf realen, kulturellen Vorgaben, sondern auf dem Einfallsreichtum der Werbestrategen bzw. auf dem systematisierenden Denken von Politikern und Regionalplanern (oder Verkehrsplanern) fußen. Das Grenzgebiet von Ostbayern und Böhmen ist so eine neue Region, die sich in ihrer Vermarktung auf ihr vorgeblich gemeinsames kulturelles Erbe beruft: die historische Goldgewinnung ist das verbindende Element, das heute durch Touristiker „euregionalisiert” wird. Die Transformation der Geschichte in die Gegenwart erfolgt mit Hilfe von Goldsucher- Events, die für Urlauber arrangiert werden. Im Hochglanz-Urlaubsmagazin „Gold im Herzen Europas” des Tourismusverbandes Ostbayern e.V. von 1996 heißt es: „Ostbayern war nicht nur eines der wichtigsten Herkunftsgebiete für die mittelalterliche Eisenproduktion, sondern es wurde auch das edelste aller Metalle, Gold, in Ostbayern gewonnen. In großer Zahl kann man auch heute noch die Halden des Goldwaschens aus Flüssen und Bächen im Gelände nachweisen (...). Es ist ein breites ‚goldenes' Band zu erkennen, das sich vom Fichtelgebirge im Norden entlang der böhmischen Grenze im Süden zieht. Das gleiche Phänomen findet sich auf böhmischer Seite, so daß man hier tatsächlich von einer grenzübergreifenden Landschaft der Goldgewinnung sprechen kann”.

Das Beispiel verdeutlicht, dass es für lokale Einheiten zunehmend wichtiger wird, sich Regionen jenseits tradierter Grenzziehungen definitiv zuzuordnen, und sich an der (Neu-)Gestaltung der Bezugräume aktiv zu beteiligen. „Ansonsten fließt kein Geld aus Brüssel” ist die gängige Sorge der Kommunalpolitiker, besonders dann, wenn sie so genannten „strukturschwachen Gebieten” vorstehen.

Nahwelten sind – historisch gesehen – schon häufiger als Komplemente zu unvertrauten Räumen etabliert worden. Dies war so, als der Vaterlandsgedanke im Ersten Weltkrieg auf die engere Heimat projiziert wurde: das Zuhause – Heim und Herd (gemeint waren Familie und Heimat) galt es, an der nationalen Front zu verteidigen. Die neuen Fronten verlaufen in den Schaltzentralen des internationalen Business. Der Kosmopolit gilt als wurzelloser Protagonist der Gegenwart, der sich hauptsächlich in den bezugslosen Nicht-Orten der Flughäfen und Geschäftszentren aufhält – so wird er von den Theoretikern der Postmoderne, wie Zygmunt Baumann, beschrieben.[3509]

Doch auch der Kosmopolit kann sich seine kulturellen Wurzeln mit Hilfe nahräumlicher Komponenten zusammenbauen: die UNESCO hat in vielen Ländern der Erde so genannte „Weltkulturerbe” ausgerufen, mit der Absicht für die Menschheit besonders außerordentliche kulturelle Leistungen – für die Nah- und die Nachwelt – zu bewahren. Zum Beispiel in Quedlinburg. Dort ist die gesamte Kernstadt Mitte der 1990er Jahre zum „UNESCO-Weltkulturerbe der Menschheit” ernannt worden. 1200 zum Teil äußerst baufällige Fachwerkhäuser mit zum Teil 600 Jahre alter Vergangenheit wurden en bloc unter Schutz gestellt. Die „Süddeutsche Zeitung” bewertete die Unterschutzstellung am 27.3.1995 unter der Rubrik „Ritterschlag für eine Altstadt” mit dem nicht ironisch gemeinten Satz: „Der idyllische Ort im Harz steht nun auf einer Stufe mit Berühmtheiten wie den Pyramiden von Gizeh, der Chinesischen Mauer und dem Schloß Sanssouci in Potsdam.” Mittlerweile hat eine regelrechte Jagd nach der Auszeichnung „Weltkulturerbe” begonnen. Immer mehr Orte und Regionen versuchen die Anerkennung der UNESCO zu erhalten, auch wenn dies mit zum Teil gravierenden Folgen für die beteiligten Bürger verbunden ist, wie in Quedlinburg, wo an der Baustruktur der Altstadt so gut wie gar nichts mehr verändert werden darf. Ein „lebendiges Museum” also.

10.12.2. Die Regionen der Volkskunde

Und was ist der Beitrag der akademischen Disziplin Volkskunde, wenn es darum geht, Kulturregionen habhaft zu werden? Kultur räumlich zu erfassen und zu analysieren hat in der Volkskunde eine ausgewiesene Tradition. Die volkskundliche Kulturraumforschung beschäftigte sich in den Vor- und Nachkriegsjahrzehnten mit der Entstehung und regionalen Verbreitung von Sachgütern, von Alltags- und Brauchhandlungen und von Erzählstoffen. Zu ihren vordringlichen Aufgaben gehörte es, ausgewählte Kulturformen der jeweiligen Erhebungszeit räumlich zu kartieren und auszuwerten, um damit regionale Zusammenhänge abzubilden.[3510] Vor allen anderen erweiterten die Volkskundler Günter Wiegelmann (Münster) und Nils-Arvid Bringéus (Lund) mit der Innovations- und Diffusionsforschung die eindimensionale räumliche Betrachtungsweise durch die soziale und die zeitliche Koordinate. Sie untersuchten den kulturellen Wandel und die sozialräumlichen Verbreitungsmuster vor allem hinsichtlich populärer Nahrungsgewohnheiten.[3511]

Der territoriale Bezug von Kultur ist auch das Thema von Freilichtmuseen, die in Deutschland an vielen Orten zeitlich in etwa parallel zur Kulturraumforschung der Nachkriegsjahrzehnte entstanden. „Hauslandschaft” oder „Möbellandschaft” sind Begriffe, die durch die volkskundliche Regionalforschung gesetzt wurden. Wissenschaftlich geleitete Freilichtmuseen verstehen sich als Institutionen, die die materielle Kultur einer spezifischen Region sammeln, konservieren, erforschen und in zeitlichen und sozialen Kontexten ausstellen. Dabei haben sich die Akzente in den letzten Jahrzehnten verschoben: vom Darstellen des regionaltypischen, historischen Hausgefüges und der tradierten Bauformen hin zur Musealisierung der Lebenspraxis – des Bauens und Wohnens.

Die Museums-Region ist häufig ein durch politische Grenzziehungen umschlossenes Gebiet: Westfalen, Oberbayern, Schleswig-Holstein, Franken. Nicht immer decken sich dabei die kulturellen und die politischen Grenzen, was bisweilen zu einem Dilemma in der Präsentation führt: Darf eine nordtiroler Almhütte, die bau- und funktionsgleich mit einer oberbayerischen ist, in einem oberbayerischen Freilichtmuseum stehen? Die Experten würden abwiegeln, nicht nur, aber auch, weil sie der Proteste der Kulturpolitiker scheuen. An Freilichtmuseen kritisiert wird deren „Milieuethnozentrismus”, d.h. die Funktion der Museen als regionale Identitätsproduzenten durch folkloristische Präsentationen und Veranstaltungen.[3512]

Im Gefolge dieser Kritik beginnen Volkskundler verstärkt, regionale Stereotypen zu untersuchen und versuchen, der Konstruktion von Regionalcharakteren auf die Spur zu kommen.[3513] Regionen und regionale Typisierungen werden als integrale Teile des Modernisierungprozesses gesehen: sie sind kulturelle Bausteine, die die enorme Geschwindigkeit des kulturellen Wandels im 20. Jahrhundert kompensieren helfen.[3514] Gleichfalls wird betont, dass es die Aufgabe ethnologischer Arbeit nicht sein dürfe, kollektive Regionalität als bloßes kulturelles Konstrukt zu brandmarken. Kaspar Maase schreibt: „Wir können nachweisen, dass die Vorstellung eines Regionalkollektivs mit homogenen Qualitäten absolut irreal ist. Aber das ändert nichts daran, dass aus der Perspektive der Lebenswelt regionale Differenzen ein relevantes Instrument zur Ordnung von Erfahrungen und zur Abgrenzung des je Eigenen bilden".[3515]

Volkskundler untersuchen heute „Region” nicht mehr nur als territoriale Maßeinheit für den ländlichen Raum abseits der Metropolen. Auch die Städte und Ballungszentren werden als – urbane – Regionen erfasst und analysiert. Die so genannte „urban anthropology” steht für diese Perspektivenerweiterung. In der Regel trennt jedoch auch diese Forschungsrichtung – strukturell ganz ähnlich wie dies etwa die Freilichtmuseen in ihren Präsentationen realisieren – die territoriale Kategorie Stadt deutlich von der Kategorie Land. Das zu Grunde liegende Gedankenmodell geht von relativ eindeutig isolierbaren regionalen Bezügen der Stadt- oder Landbewohner aus.[3516]

10.12.3. Kulturregion und Alltagspraxis

Anlass zum Nachdenken über den Sinn eines solchen bipolaren Gedankenmodells, das Regionen in ihrer Gestalt klar umkreist, war eine Seminarveranstaltung, die vor einigen Jahren am Volkskunde-Institut der Universität München stattfand. Das Seminar hatte ich mit „Anatomie der Stadtlandschaft” betitelt, und es beschäftigte sich mit der landschaftlichen Struktur und der ästhetischen Wahrnehmung der Großstadt München. Aufgabe der Studierenden beim ersten Seminartreffen war es, anhand einer Luftbildkarte vom südlichen Oberbayern, die Grenzen Münchens zu beschreiben. Nach einigen zähen Versuchen, die politischen Grenzen der Stadt korrekt abzustecken, trat eine Kursteilnehmerin vor und zeichnete die Umrisse der Stadtlandschaft weit über die politischen Stadtgrenzen hinaus: im Norden bis zum Flughafen (ca. 30 km), im Süden zunächst bis zum Starnberger See (25 km), dann noch sehr viel weiter bis nach Garmisch-Partenkirchen und der angrenzenden Alpenkette (100 km). Die Studentin bemerkte, bei ihrer Grenzziehung handele es sich um eine zusammengehörige Kulturlandschaft, die durch die moderne Stadt hervorgerufen werde. Das Freizeitverhalten der Stadtbewohner sei sehr stark am Münchener Umland orientiert und das Konsumverhalten der Landbewohner konzentriere sich unter anderem auf das Zentrum der Stadt München. Es entbrannte daraufhin eine heftige Diskussion darüber, ob es Stadt und Land als eigenständige kulturelle Territorien überhaupt gebe oder jemals gegeben habe und was eine solche Einteilung außerhalb einer analytischen Kategorienbildung eigentlich bezwecke. Schließlich gebe die Alltagspraxis ganz andere Koordinaten vor: Städter bewegen sich häufig in ländlichen Räumen und umgekehrt, Landbewohner nutzen die städtischen Räume, es existiert eine wechselseitige Relevanz, ja sogar eine wechselseitige Abhängigkeit, die kulturelle Ursachen hat.

Ein Versuch, in diesem Sinne eine Kulturregion zu beschreiben, ergab sich aus einem Studienprojekt, das ich am Institut für deutsche und vergleichende Volkskunde an der Universität München durchführte. Dabei ging es – verkürzt formuliert – um die Funktion von Jahreszeiten als Ordnungskategorie und Bedeutungsträger in modernen Lebenszusammenhängen. Einige – zunächst mehr zufällige als zielgerichtete – vergleichende Beobachtungen zu diesem Thema fanden in München und in den Tiroler Alpen (man könnte auch sagen: in der Stadt und auf dem Land) statt. Das Vorhaben hatte zum Ziel, herauszufinden, auf welche Weise heutzutage Jahreszeiten in unterschiedlichen räumlichen Kontexten „materialisiert” werden.[3517] Im Verlauf der Untersuchung wurde deutlich, dass es sich bei der Stadt München und den Tiroler Alpen sehr viel weniger um verschiedene Kontexte handelte als angenommen, sondern vielmehr um unterschiedliche formale Ausprägungen von sich ergänzenden Kulturlandschaften. Es ließen sich Phänomene herausfiltern, die symbolisch auf einen zusammengehörenden Raum verweisen, der als „Kulturlandschaft München- (nördliche) Alpen” bezeichnet werden kann.

10.12.4. Eine ungleichzeitige Panoramakarte

Der erste Zufallsfund war eine Karte, die es in vielen Münchener Schreibwarengeschäften zu kaufen gibt. Die Karte trägt die Artikelbezeichnung „Panoramakarte Oberbayern Schwaben Allgäu”. Sie zeigt – auf einer Fläche von 1,40 m Breite mal 0,90 m Höhe – zweidimensional die Reliefs der zentralen und nördlichen Alpen, des Alpenvorlandes sowie von Oberbayern, Oberschwaben und dem Oberallgäu. Begrenzt wird der Raum im Osten durch die Linie Altötting-Salzburg-Hohe Tauern-Gailtaler Alpen, im Westen durch die Linie Augsburg-Memmingen-Bregenzer Wald-Rätikon.

Ein besonderes Merkmal der Karte ist ihre Ausrichtung: Der Blick wird, sofern man sich an den Konventionen der Geografie orientiert, in die „verkehrte” Himmelsrichtung geführt, und zwar von Norden am unteren Kartenrand hin zum Süden am oberen. Der Blick führt von der Metropole München hin zum Voralpenland und schließlich zu den alpinen Gebirgsketten. Den oberen Kartenrand bilden die groben Umrisse der zentralen Südalpen mit Defereggenkette und Dolomiten. Die Karte ist also nicht „eingenordet”, sondern „eingesüdet”. Ein mathematisch korrekter Maßstab wird auf der Karte nicht eingehalten; der abgebildete Raum im „Vordergrund” (also im Norden) ist überproportional groß wiedergegeben.

Auffällig ist die grafische Wiedergabe der realen Landschaft als Kartenlandschaft. Von München weg bzw. auf München zu führen markante weiße Linien: Es handelt sich um Autobahnen und andere größere Verkehrsstraßen. Sie sind die Verbindungen zu den Landschaften, die im Hintergrund der Karte dargestellt werden. München wirkt wie eine vielgliedrige Krake, deren Arme bis weit in die Alpentäler hineinreichen, teilweise aber auch schon an den nahen Seen des Münchener Umlandes enden. Die Seen und Flüsse heben sich durch ihre blaue Farbgebung deutlich von der Umgebung ab und wirken, gemessen an der realen Fläche, ähnlich wie die Stadt München, überdimensioniert. Einzeln identifizierbar sind die Bergketten- und Berggipfel der Alpen. Zur leichteren Orientierung sind diese, wie auch die Ortschaften, beschriftet. Da der Panoramablick von Norden nach Süden geht, sind ausschließlich Nord-, Ost- und Westhänge der Gebirge auszumachen. Der Eindruck entsteht, die Berge neigten sich der Großstadt zu.

Bemerkenswert ist die zeitliche Repräsentanz der Kartenlandschaft. Offensichtlich bildet das Panorama – hauptsächlich – die schneefreie Zeit ab. Auf eine Sommer- oder Frühlingslandschaft weist die Farbe grün hin, die in unterschiedlichen Tönungen das Bild dominiert. Farblich anders gekennzeichnet sind lediglich Gewässer (blau), Ortschaften (rot), Straßen (weiß) sowie die Höhenzüge und Gletschergebiete der Berge (weiß). Die weiße Farbgebung der Hochgebirgslandschaft ist es auch, die eine eindeutige zeitliche Zuordnung der Karte nicht zulässt. Die zentrale Alpenkette ist auf der Karte bis fast in die Tallagen hinunter „eingeschneit”, was eher auf eine winterliche oder winternahe Darstellungszeit hindeutet. Die Verquickung zweier oder mehrerer Jahreszeiten ist für die primäre Funktion der Karte nicht unerheblich: Es handelt sich um eine Freizeitkarte, die eine von München aus erschließbare Konsumlandschaft abbildet, die für die regionale Ökonomie und auch für die regionale Identifikation der beteiligten Menschen eine ganz erhebliche Bedeutung hat.

10.12.5. Eine Winterreise von München nach Tirol

Nach Vorgabe der Karte unternahm ich den Versuch, die Kartenlandschaft ethnographisch „in situ” anhand markanter „Inventarstücke” zu erfassen. Die unten folgende Darstellung dieser Schnellinventarisation beinhaltet auf den ersten Blick recht banale Markierungen, sie erwiesen sich jedoch als wichtige Verknüpfungen regionaler Landschaftsmarken.

Der gewählte Ausgangspunkt, ist München, der ökonomische Mittelpunkt Süddeutschlands. Die Stadt ist deutschlandweit als Wohn- und Arbeitsplatzstandort unter anderem deswegen populär, weil hier der so genannte „Freizeitwert” sehr hoch ist. In München sind der Englische Garten, die Isarstrände, der Olympiapark und der Schlosspark Nymphenburg die am meisten frequentierten öffentlichen Freizeiteinrichtungen. Sie erfüllen ihre Funktion vor allem dann, wenn zwei äußere Bedingungen erfüllt sind: wenn es warm ist, besser noch, wenn die Sonne dazu scheint. Sobald der Freitagnachmittag oder der Feierabend das Ende der Arbeitszeit einläutet, bricht „draußen” – die Landschaftsplaner sagen: „in den Freiräumen” – eine zeitspezifische Betriebsamkeit aus: grellbunt bekleidete Fahrradfahrer bevölkern die Wege entlang der Isar, von den Flussstränden dringen Grillschwaden bis in die umliegenden Stadtviertel, aneinanderklirrende Gläser sind aus den Biergärten zu hören, in den Freibädern gleicht die Liegeordnung der des Strandes von Palma de Mallorca. Überregional bekannt sind die Bilder der freizügigen Sonnenanbeter im Englischen Garten, die in aller Regelmäßigkeit bereits im Februar auf allen Fernsehkanälen zu bewundern sind.

Den Freizeitwert der Stadt München erhöht das so genannte „Umland”. Diese Landschaft umringt München mit einem Radius von durchschnittlich 50 km und reicht im Süden bis an die Alpen heran. Im Umland wohnen sehr viele Berufspendler. In Immobilienannoncen wird das Wohnen im Umland häufig mit „Leben im Grünen” gleichgesetzt. Im Umland befinden sich viele „sommerliche” Betätigungsfelder, die sowohl von den Münchnern wie auch von den Umlandbewohnern selbst genutzt werden: Badeseen, Flussstrände, Schlösser und ihre Parklandschaften, größere zusammenhängende Waldgebiete, liebliche im „traditionellen” Stil gestaltete Dörfer, in deren Freiräumen „bayerische Gemütlichkeit” kulissenartig vorherrscht. Von München aus erschlossen wird dieses Umland mit einer vielschichtigen Infrastruktur: es gibt ein weitverzweigtes Wander-, Fahrrad- und Autostraßennetz, zusätzlich verkehren S-Bahn und Busse in regelmäßigen Takten.

Der Freizeitwert von München und seinem Umland sinkt erheblich, sobald Wärme und Sonne durch Kälte, Frost und Schnee abgelöst werden. Dann erhält eine Landschaft zunehmende Bedeutung, die von München aus als „die Berge” bezeichnet wird. Zwar sind die Berge auch im Sommer Austragungsstätte für unterschiedliche Freizeitaktivitäten, sie haben aber – im Unterschied zu München und seinem Umland – zusätzlich einen hohen Wert als Winterlandschaft. Eine Hauptroute in die Berge Tirols führt von München aus durch das Umland über die Inntalautobahn. Links und rechts der von Schnee und Eis befreiten – also entwinterten – Fahrbahn Richtung Berge beginnen sich Schneehaufen, die von den Räumdiensten des Umlands zusammengeschoben werden, immer höher zu türmen, je näher man den Bergen kommt. Kurz vor Kufstein befindet sich nicht nur die Landesgrenze zwischen Deutschland und Österreich, sondern auch die Landschaftsgrenze zwischen dem Münchner Umland und den Bergen. Hier teilen sich die Jahreszeiten. Während auf der deutschen Seite noch die Schnee- und Eisfreiheit der Autobahn wichtig ist, gerät in Österreich zunehmend die „richtige” Schneehöhe in den Bergen ins Visier. Was fortan zählt, ist die Menge des von den Touristikern so genannten „weißen Goldes”, der materiellen Basis Tiroler Ökonomie. Nur wenige Meter hinter der Staatsgrenze befindet sich ein Servicebüro, das diesen Übergang deutlich werden lässt. In dem Büro, das einst primär dazu diente, Geld einzutauschen oder eine Autobahnplakette zu erwerben, informiert ein Computerausdruck über die berg- und tallagigen Schneehöhen in den Wintersportorten Tirols. Hier erfährt der Reisende, wie viel Winter an seinem Zielort vorhanden ist und ob das wichtigste Element der Jahreszeit, der Schnee, ausreicht, um dem populären Jahreszeit-Vergnügen nachzugehen.

Je näher der Wintersportler seinem Ziel kommt, desto häufiger schweifen seine Blicke aus den Autofenstern heraus, um die Pistenverhältnisse zu taxieren. Die Autofahrt verläuft fast immer problemlos, die Straßen sind gut ausgebaut und gewartet, fast alle Ortschaften Tirols haben in den letzten 25 Jahren eine Umgehungsstraße bekommen. Großzügig wird der Verkehr um die alten Ortskerne herumgeleitet. In den Ortskernen wird im Winter die beschauliche Ruhe des Tages (die Wintersportler sind dann unterwegs) vom turbulenten abendlichen Treiben des Apres-Ski abgelöst. Groß- und farbig geratene Hinweisschilder verweisen von den Umgehungsstraßen auf die technischen Hilfen, die den Wintersport ermöglichen: die Lift- und Bergbahnbetriebe. Auf dem Parkplatzarealen der Talstationen schwindet der letzte Rest von Ablehnung, den der Automobilist gegenüber dem Winter hat: Sobald das Fahrzeug verlassen ist, verwandelt sich der Straßenfahrer in den Schneefahrer. Mit Liften und Bahnen geht es bergauf in die Ski-Gebiete, manchmal bis über 3.000 Meter Höhe in die Gletscherregionen. Dort zeigt sich der Winter am ehesten so, wie er beworben und gewünscht wird: mit glitzerndem meterhohen Pulverschnee und gleißender Sonne, als Bilderbuchwinter.

Die Orte Tirols unternehmen viel, um ihre Landschaft den Vorstellungen der Besucher von einer „richtigen Jahreszeit” anzupassen. In den 1980er und 1990er Jahren hat sich in sämtlichen Wintersportgemeinden die Praxis durchgesetzt, künstlichen Schnee herzustellen, der den Winter „sicherer” macht. Panoramakameras schwenken über die Ski- und Snowboardreviere (in der warmen Jahreszeit sind es Wandergebiete) und senden Fernsehbilder, die mit populärer Volksmusik unterlegt sind. Täglich von morgens 7.00 Uhr bis um 9.00 Uhr bieten das Österreichische und das Bayerische Fernsehen solche Panoramabilder an. Im Winter verschafft das Panoramafernsehen dem Städter Kontrolle darüber, ob die Landschaft (die Jahreszeit) an seinem Wintersportort so ist, wie sie zu sein hat. Auch ein „Schneetelefon” halten sämtliche Tiroler Orte abrufbereit. Hier meldet sich eine Tonbandstimme, die über Lufttemperaturen, Schneemengen und Schneequalitäten sowie über die Pistenzustände informiert.

Auch die Bewohner der alpinen Regionen beschaffen sich Informationen über das Wetter. Für sie hat die jeweils mittelfristige „Großwetterlage” große Bedeutung. Interessant ist zum Beispiel, ob das folgende Wochenende schneereich wird oder welche Warm- oder Kaltfronten zu erwarten sind. Diese Informationen werden von den amtlichen Wetterdiensten und den Medien (Fernsehen, Radio) beschafft. Sie sind die Grundlage für bestimmte alltagspraktische Einsätze: zum Beispiel die Bereitschaft von Schneepräparierungsgeräten und von Schneekanonen, für die Einstellung von Aushilfen in den Gastronomiebetriebe, für die Einsätze von Kursleitern von Wintersportkursen oder auch für den Straßenräumdienst.

„Grüß Gott in Fieberbrunn – Sommerfrische Wintersport”, steht auf einem hölzernen Begrüßungsschild am Ortseingang der Tiroler Gemeinde Fieberbrunn im Pillerseetal, unweit von Kitzbühl, eineinhalb Autostunden von München gelegen. Der 4.000- Einwohner-Ort Fieberbrunn und seine alpine Umgebung, die bis 2.117 Meter zum Aussichtsberg Wildseeloder hinaufreicht, gehört heute zum so genannten „Schneewinkel”, ein Verbund mehrerer benachbarter Gemeinden, der eine besonders schneesichere Landschaft verspricht. Nach Fieberbrunn reisen vornehmlich Tages- und Wochenendtouristen aus Süddeutschland, sowie sehr viele niederländische und belgische Urlaubsgäste. In der Wintersaison verkehren Züge direkt bis Brüssel. Fieberbrunn gilt als familienfreundlicher Urlaubsort. Der Ortskern ist verkehrsberuhigt, in der Ortsmitte versammeln sich vornehmlich touristische Betriebe: Hotels, Gaststätten, Tanzlokale, Ferienwohnanlagen, Sportgeschäfte und Einkaufsmärkte, Souvenir- und Postkartenshops. Weiter zum Ortsrand hin wohnen Einheimische und Wochenendhausbesitzer, noch weiter an der Peripherie prägen vereinzelte Bauernhöfe sowie wenige Gewerbe- und Industriebetriebe das Siedlungsbild. Randlagig sind auch der künstliche Moorbadesee in der Nähe der Sprungschanze, die Übungswiese mit Lift für Wintersportanfänger und die voluminöse Talstation des Skigebiets, von der aus die Ski- und Snowboardfahrer auf die Berge bzw. auf die Pisten gezogen werden.

10.12.6. Ein altes Haus in Tirol, aufgenommen im Winter

Am Rande einer Straße, die ortsauswärts bei einigen Almwirtschaften endet, befindet sich, etwa ein halbe Stunde zu Fuß von der Ortsmitte entfernt, in etwa 1.000 Meter Höhe ein auf den ersten Blick unauffälliges Gebäude. Bautypologisch ist es ein so genannter Unterländer Einhof. Bei diesem Bautyp sind Wohn- und Wirtschaftsteil hintereinander unter einem gemeinsamen First mit flacher Dachneigung angeordnet. Der Wohnteil wird meistens dreiseitig von einem breiten Balkon umschlossen, der mit reich ornamentierten Stäben verziert ist. Auf das Erbauungsdatum weist häufig eine Initiale mit Jahreszahl in der Firstpfette hin. Erschlossen werden die Häuser über einen Mittelflur, von dem aus im Erdgeschoss Küche und Kammer auf der einen Seite, Stube und Schlafkammer auf der anderen Seite abzweigen. Eine Treppe führt hinauf zum Obergeschoss, in dem sich weitere Schlafkammern befinden. Der hintere Teil des Obergeschosses ist ein großer Raum, die Heulege (auch Tenne oder Scheune). Unter ihr befinden sich Stallungen und Lagerräume.

„Altes Haus” nennen es die einen, „unsere Hütte” sagen die anderen. Die einen, das ist eine Familie, die das Gebäude bis Ende der 1960er Jahre als Bauernhof bewirtschaftet hat. 1968 baute sich die Familie einen neuen Hof etwa 50 Meter oberhalb des alten. Dort wohnen heute drei Generationen: Ein Altbauer sowie die wirtschaftende Generation mit drei volljährigen Töchtern, von denen eine den Hof übernehmen wird. Der Wohnteil des alten Bauernhauses wurde 1972 verpachtet – an „die anderen”, zwei Münchener Lehrerinnen mit ihren Familien. Sie nutzen das Haus seitdem als Feriendomizil für Urlaubs- und Wochenendfreizeiten und richteten den Wohnbereich nach ihren Vorstellungen ein. Ein Rundgang durch das Gebäude verdeutlicht ein Nebeneinander verschiedener Werthaltungen und verrät einiges über die Bedeutung der Jahreszeiten für dieses Haus und die Menschen, die es nutzen.

Der Rundgang beginnt im Wirtschaftsteil, der Scheune, die hangseitig über eine Auffahrt zugänglich ist. Die Scheune dient heute nicht mehr als Heulager. Sie ist jetzt Abstellraum für landwirtschaftliche Arbeitsgeräte. Der Blick nach links erfasst eine Mischmaschine, Handsägen, Eimer und Holzbretter. Eine Güllespritze, eine Hangmähmaschine sowie zwei Anhänger warten im Hintergrund auf ihre Saison. Rechts des Scheuneneingangs noch mehr altes Bretterholz, eine Blechtonne und Gerümpel.

An den Scheunenwänden hängen drei geländegängige Fahrräder, Mountain-Bikes, die den Töchtern der Landwirtfamilie gehören. Im Winter werden sie nicht benutzt. Drei typologisch ziemlich ähnliche, funktional aber sehr unterschiedliche Fortbewegungsmittel stehen in der Mitte der Scheune dicht nebeneinander: Übereinandergestapelt sind zunächst zwei alte Hörnerschlitten, die (der Landwirtfamilie) einst zum winterlichen Abtransport von Holz und Heu aus den Wald- und Almgegenden gedient haben. Daneben ein kleiner Rodelschlitten, den die Töchter einer der Lehrerinnen ihr Eigen nennen und mit dem sie den Hang nahe ihrer Hütte zum Spaß herunterfahren. Auf die temporäre winterliche Nutzung des Hauses durch die Stadtbewohner weist ein Fund in der Nähe der Sägen und Eimer hin: Eine „Süddeutsche Zeitung”, die Silvesterausgabe von 1992, liegt am Boden. Plattgetreten und vergilbt, scheint sie seit fünf Jahren unangetastet dort zu liegen.

Über die Tenne erreicht man den Eingang zum Wohnteil des Obergeschosses. Hier hat eine der Lehrerinnenfamilien aus den bäuerlichen Schlafkammern Küche, Stube und Schlafzimmer gemacht. Alle Zimmer sind betont „rustikal” eingerichtet, mit Flohmarktmöbeln aus der Region oder mit abgelegten Stücken aus der Stadtwohnung, die als Ensemble einen sehr eigenen (individuellen) Charakter vermitteln, der auf den ersten Blick „volkstümlich” oder „bäuerlich” erscheint, beim zweiten Hinsehen allerdings den kulturellen Abstand zum „Bäuerlichen” offenbart.

Zum Beispiel im Wohnzimmer: Dort befindet sich an zentraler Stelle ein Holztisch mit naturfarbener Buchenplatte und rotlackierten Füßen. Ein blau-weißes Blümchenmuster ziert als Vorhangstoff die Fenster und als Kissenbezug die Eckbank. Von der Decke hängt eine schmiedeeiserne Lampenkonstruktion mit zwei geblümten roten Stoffschirmen. Links neben der Tür steht ein Ölofen, den die Familie vor 25 Jahren neu installiert hat. Gerahmte Druckgrafik mit religiösen Motiven des frühen 20. Jahrhunderts ziert die Wände. Ebenso ein paar Bierkrüge und Glasgefäße auf einem Regal oberhalb der Eckbank. Eine Ablage mit einem Stapel Süddeutscher Zeitungen, drei Bücherbretter mit akademischer Literatur und ein Notebook auf dem Tisch lassen die Nutzung durch Münchner Stadtbewohner vermuten. Unter der Eckbank liegen Gesellschaftsspiele wie „Monopoly” und „Mensch ärgere Dich nicht”.

Die Wohnung zeigt eine ganze Reihe „typisch bäuerlicher” und quasi-alpiner Einrichtungselemente: ein Sparherd in der Küche, „Bauernschränke” in den Schlafräumen und im Flur. Ähnlich die Erdgeschosswohnung, die von der zweiten Familie ausgestattet wurde. Hier befinden sich in der Wohnstube (die auch die Landwirtfamilie so nutzte) ein Herrgottswinkel und ein Ensemble aus Votivbildern. An der Stubenwand hängt an einer Garderobe ein Filzhut. Regalbretter mit wissenschaftlichen und anspruchsvollen literarischen Büchern (Heinrich Böll, Herbert Marcuse, Aldous Huxley) verweisen auch dort auf das Bildungskapital der Hausbewohner.

In dem alten Gebäude treffen verschiedene jahreszeitengebundene Praxen aufeinander. Die Landwirtfamilie nutzt das Haus als winterlichen „Ruheraum” für die „sommerlichen” Arbeitsgeräte, und auch für einen Teil des Viehs: Unter der Scheune sind in einem Stall drei Ziegen einquartiert, die im Sommer auf den hofnahen Wiesen grasen.

Die Münchner Familien dagegen nutzen das Haus im Rahmen ihrer jahreszeitgebundenen Aktivitäten. Die Wohnung im Obergeschoss liefert die Indizien für spezifische Sommer- und Wintertätigkeiten: Im Durchgangszimmer zum Flur befindet sich ein Schuhregal mit Wanderschuhen, an der Wand hängt ein Rucksack, auf der Anrichte liegt ein Schlauchboot, mit dem die Kinder der Familie sommertags auf dem nahen Badesee rudern. Im Schlafzimmer hängt an einem Wandschrank ein Skipass für das Fieberbrunner Skigebiet aus der Saison 1995/96. Unter dem Fenster steht ein Elektroofen für die kalte Jahreszeit. Über dem Ölofen in der Wohnstube werden Skioveralls und Skischuhe getrocknet. An der Innenseite der Küchentür befinden sich acht Wärmflaschen, die die vorhandenen Schlafplätze aufheizen, wenn die Raumtemperaturen im Winter nachts deutlich unter 10 Grad Celsius sinken.

Während die Landwirtfamilie längst in einem modern ausgestatteten Haus mit Zentralheizung und Solarstrom wohnt, erfreuen sich die Münchner Familien an den „traditionellen” Wohnformen. Das alte Gebäude verweist auf einige gleichzeitige Ungleichzeitigkeiten. Die moderne Sommertechnik des Landwirts ist räumlich direkt neben der antiquiert wirkenden Wintertechnik positioniert, mit der die Stadtflüchter ihren Aufenthalt in der kalten Jahreszeit gestalten. Nebeneinander auch Arbeit und Freizeit, Transportschlitten und Rodelschlitten. Beide Schlitten sind Schlüsselobjekte: sie markieren nicht nur die unterschiedliche Nutzung des Hauses, sondern darüber hinaus die unterschiedliche Nutzung der alpinen landschaftlichen Umgebung. Während der Transportschlitten die ehemalige winterliche Produktionslandschaft (Holzabfuhr, Heutransport) symbolisiert, steht der Rodelschlitten für die Konsumlandschaft, für den Winter als Erlebnisraum und Erlebniszeit.

10.12.7. Komplementäre Kulturlandschaft

Zu beurteilen, ob der alte Unterländer Einhof ein städtisches oder ein ländliches Kulturelement ist, fällt schwer. Allein sein Standort sagt wenig über die Werthaltungen aus, die ihm beigemessen werden. Die Schilderung verdeutlicht, wie wenig konstruktiv es ist, München und die Alpen (Stadt und Land) als voneinander isolierte kulturelle Einheiten, als Ausdrucksformen unterschiedlicher Regionen zu sehen.

Auf der Strecke von München nach Fieberbrunn fanden sich eine ganze Reihe von „regionaltypischen” Gegenständen, die sich gegenseitig ergänzen und erklären, Gegenstände, die weder als städtisch noch als ländlich zu kategorisieren sind. Hierzu gehören die Panoramakameras, das Schneetelefon, die Winterreifen, die Schneeketten, das Streusalz, die Skiausrüstung, die Autobahn, der Parkplatz, die Liftanlagen, die Schneekanone, die Hütte oder die Schlitten. Die Landschaft wird aus zwei sich ergänzenden Positionen wahrgenommen:

  1. Aus der Position des so genannten „Städters”, der ein umgrenztes Territorium als Freizeitlandschaft absteckt. Um diese Freizeitlandschaft entsprechend seines Idealbildes zu konsumieren, steht ihm bereits im städtischen Räum ein ganzes Arsenal von Gegenständen zur Verfügung: zum Beispiel in Sportgeschäften, die einen großen Teil ihres Umsatzes vor dem Hintergrund der Alpen machen. In Buchläden, die Alpenreiseführer, Landkarten und Ratgeberliteratur in hohen Auflagen verkaufen. Im Autofachhandel, der mehr und mehr darauf ausgerichtet ist, seine Ware nach den Freizeitgewohnheiten der Kunden auszustatten.

  2. Aus der Position der Anbieter der Landschaft (die so genannten „Einheimischen”), die mit ihrer Arbeit dafür sorgen, dass die Freizeitlandschaft den Leitbildern der Konsumenten entspricht. Für die Anbieter sind die Alpen keine Konsumlandschaft, sondern vordringlich eine Erwerbslandschaft, mit der sie ihre ökonomische Existenz sichern, wobei Tourismus und Landwirtschaft eng zusammen gehören. Dies bedeutet nicht, diese Landschaft würde keinen Identitätsraum für die Alpenbewohner schaffen, ganz im Gegenteil: Befragungen in Fieberbrunn belegen, dass eine hohe Identifikation mit der Arbeit und mit der daraus resultierenden Landschaft besteht. Für die in den vergangenen Jahren so häufig geäußerte Meinung, der Tourismus mache die Alpen und deren soziale Struktur „kaputt”, gibt es seitens der Tiroler Alpenbewohner nur wenig Verständnis. Eher trägt dort die Ansicht: die Alpen wären längst kaputt, hätte man das Inventar der Landschaft nicht den Konsumerwartungen der Gäste angepasst.

München und die Alpen bilden eine „komplementäre Kulturlandschaft”. Die Bewohner der Alpendörfer sehen die Stadt und ihre Bevölkerung als Markt, der auf Grund seiner „Naturlosigkeit” zur Grundlage ihrer eigenen Erwerbslandschaft wird. Der Schweizer Volkskundler Werner Bellwald hat zurecht und mit Nachdruck darauf hingewiesen, dass die Frage nach einer eigenständigen „alpinen Kultur” zu sehr anhand der Betrachtung von Brauchformen behandelt worden sei. Das Forschungsinteresse orientiere sich zu wenig an einer differenzierten Alltagsrealität.[3518] Bellwald weist auf die vielfältigen und verzweigten ökonomischen Verbindungen hin, die es im Lauf der Geschichte zwischen den Alpen und den vorgelagerten Städten gab. Das Klischee von der Altertümlichkeit alpiner Kultur nennt er einen naturalistischen Fehlschluss, der so genannte „alpine Alltag” habe sich längst dem städtischen angeglichen. Fortschrittliche Geister und traditionalistische Bremser gebe es hier genauso wie dort. Zahlreiche technische Innovationen des 19. Jahrhunderts, wie der Explosionsmotor von Isaac De Rivaz von 1804, entstammen nachweisbar den Köpfen von Alpenbewohnern. Bellwalds Kritik wendet sich scharf gegen die zahlreichen und leider auch erfolgreichen Versuche, die Alpen als isolierten homogenen Kulturkosmos zu definieren.

Kulturlandschaften zu beschreiben setzt voraus, ein Inventar herauszufiltern, an dem spezifische Gestaltungsprinzipien von Umwelt und Lebenspraxis ablesbar sind. Dieses Filtrat führt jedoch nicht zu jenen homogenen Umwelten, die Volkskundler oder Museologen (oder EU-Bürokraten) gerne herausinterpretieren und ausstellen. Was Kulturlandschaft ist und wie sie als regionale Identitätskomponente wahrgenommen wird, hängt letztlich von den agierenden Menschen ab, die spezifische Umwelten schaffen und für die spezifische Umwelten unterschiedlich relevant werden. Nach Michel de Certeau ist ein Raum als „ein Resultat von Aktivitäten (zu verstehen), die ihm eine Richtung geben, ihn verzeitlichen und ihn dahin bringen, als eine mehrdeutige Einheit von Konfliktprogrammen und vertraglichen Übereinkünften zu funktionieren, ist also ein Ort, mit dem man etwas macht.”[3519] Hinzuzufügen wäre: Kulturraum (und damit auch Kulturregion) ist nicht nur handlungsdefiniert, sondern darüber hinaus ein Ergebnis verdinglichter Aktivität.

Verwendete Literatur:

[BaumannZ 1994] Bauman, Zygmunt: Vom Pilger zum Touristen. In: Das Argument 36 (1994), S. 389–408.

[Bausinger 1996] Bausinger, Hermann: Kulturen – Räume – Grenzen. In: Frieß-Reimann, Hildegard; Schellack, Fritz (Hg.): Kulturen, Räume, Grenzen. Interdisziplinäres Kolloquium zum 60. Geburtstag von Herbert Schwedt. Mainz 1996, S. 7–24.

[Bellwald 1997] Bellwald, Werner: Kultur aus Natur? Alpen und „alpine Kultur“ in wissenschaftlichen Perspektiven und die Instrumentalisierung des „Alpinen“ in der Öffentlichkeit. In: Dittmar, Jürgen; Kaltwasser, Stephan; Schriewer, Klaus (Hg.): Betrachtungen an der Grenze. Gedenkband für Peter Assion. Marburg 1997, S. 199–238.

[Bringéus 1986] Bringéus, Nils-Arvid: Perspektiven des Studiums materieller Kultur. In: Jahrbuch für Volkskunde und Kulturgeschichte 29 (1986), S. 159–174.

[Certeau 1988] Certeau, Michel de: Kunst des Handelns. Übersetzung aus dem Französischen von Ronald Voullié. Berlin 1988.

[Daxelmüller 1994] Daxelmüller, Christoph: Wieviel „Volkskunde“ verträgt ein Museum? In: Denecke, Dietrich; Daxelmüller, Christoph (Hg.); Heimatkundlicher Arbeitskreis im Forum Nabburg e.V. (Auftragg.): Kontroversen um die Konzeption und kulturelle Aufgabe von Freilichtmuseen – Das Beispiel Oberpfälzer Freilichtmuseum. Nabburg 1994 (Heimat Nabburg 15), S. 134–163.

[Greverus/Moser/Salein 1994] Greverus, Ina-Maria; Moser, Johannes; Salein, Kirsten (Hg.): STADTgedanken aus und über Frankfurt am Main. Der Stadt Frankfurt am Main zum 1200. Geburtstag. Frankfurt am Main 1994 (Kulturanthropologie-Notizen 48).

[Greverus 1998] Greverus, Ina-Maria [u. a.] (Hg.): Frankfurt am Main. Ein kulturanthropologischer Stadtführer. Frankfurt am Main 1998.

[Grober-Glück 1988] Grober-Glück, Gerda: Zum Abschluß des Atlas der deutschen Volkskunde – Neue Folge. Ein Beitrag zur Wissenschaftsgeschichte der Volkskunde. In: Bringéus, Nils-Arvid [u. a.] (Hg.): Wandel der Volkskultur in Europa. Festschrift für Günter Wiegelmann zum 60. Geburtstag. Bd. 1. Münster 1988 (Beiträge zur Volkskultur in Nordwestdeutschland 60), S. 53–70.

[Jeggle/Staib/Valet 1995] Jeggle, Utz; Staib, Heidi; Valet, Friederike (Bearb.): Schwäbische Tüftler: der Tüftler ein Schwabe? Der Schwabe ein Tüftler? Ausstellungsbegleitbuch, Württembergisches Landesmuseum Stuttgart 13. Oktober 1995 bis 18. Januar 1996. Stuttgart 1995.

[JohlerR/Nikitsch/Tschofen 1995] Johler, Reinhard; Nikitsch, Herbert; Tschofen, Bernhard (Hg.); Feurstein, Michaela (Red.): Schönes Österreich. Heimatschutz zwischen Ästhetik und Ideologie. [Sonderausstellung, 26. Oktober 1995 bis 25. Februar 1996. Begleitbuch und Katalog]. Wien 1995 (Kataloge des Österreichischen Museums für Volkskunde 65).

[KöckCh 1993b] Köck, Christoph: Die Entdeckung des Sauerlandes. Zur kulturellen Symbolik einer Region. In: Baumeier, Stefan; Köck, Christoph (Hg.): Sauerland. Facetten einer Kulturregion. Fredeburg 1994, S. 10–33.

[KöckCh 1997] Köck, Christoph: Schwarz-Weiß-Gold. Die Geometrisierung einer Landschaft. In: Brednich, Rolf-Wilhelm; Schmitt, Heinz (Hg.): Symbole. Zur Bedeutung der Zeichen in der Kultur. 30. Deutscher Volkskundekongreß in Karlsruhe 1995. Münster [u. a.] 1997, S. 285–297.

[KöckCh 2000] Köck, Christoph: Gegenstände ziehen sich an. Über Dingpopulationen in komplementären Umwelten. In: Heidrich, Hermann (Hg.): SachKulturForschung. Tagung der Arbeitsgruppe Sachkulturforschung und Museum in der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde 1998. Bad Windsheim 2000, S. 195–210.

[KöstlinK 1996] Köstlin, Konrad: „Heimat“ als Identitätsfabrik. In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 99/50 (1996), S. 312–338.

[KöstlinK 1994e] Köstlin, Konrad: Die Innenstadt als Freizeitpark. In: Regensburger Verein für Volkskunde (Hg.): Stadttourismus und Stadtalltag. Regensburg 1994, S. 85–96.

[Lindner 1993] Lindner, Rolf: Das Ethos der Region. In: Zeitschrift für Volkskunde 89 (1993), S. 169–190.

[Kuntz 1998] Kuntz, Andreas: Keramik im Kannenbäckerland. Produktgeschichte im Kontext regionaler Identitätsstiftung. In: Lauterbach, Burkhart; Köck, Christoph (Hg.): Volkskundliche Fallstudien. Profile empirischer Kulturforschung heute. Münster [u. a.] 1998 (Münchner Beiträge zur Volkskunde 22), S. 153–164.

[Maase 1998] Maase, Kaspar: Nahwelten zwischen „Heimat“ und „Kulisse“. Anmerkungen zur volkskundlich-kulturwissenschaftlichen Regionalitätsforschung. In: Zeitschrift für Volkskunde 94 (1998), S. 53–70.

[Meyer-Abich 1976] Meyer-Abich, Klaus Michael: Komplementarität. In: Ritter, Joachim [u. a.] (Hg.); Eisler, Rudolf (Begr.): Historisches Wörterbuch der Philosophie. Bd. 4. Basel [u. a.] 1976, Sp. 933 f.

[Simon/Schürmann 1994] Simon, Michael; Schürmann, Thomas: Ein Kapital für sich – der Atlas der deutschen Volkskunde. In: Zeitschrift für Volkskunde 90 (1994), S. 230–237.

[Schroubek 1979] Schroubek, Georg R.: Die künstliche Region: Beispiel „Sudetenland“. In: Gerndt, Helge; Schroubek, Georg R. (Hg.): Regionale Kulturanalyse. Protokollms. einer wissenschaftl. Arbeitstagung der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde vom 8. bis 11. Okt. 1978 in München. München 1979, S. 25–29.

[Wiegelmann/Zender/Heilfurth 1977] Wiegelmann, Günter; Zender, Matthias; Heilfurth, Gerhard: Volkskunde. Eine Einführung. Berlin 1977.



[3505] Vgl. zum Beispiel: [KöckCh 1997]; [Kuntz 1998].

[3508] Süddeutsche Zeitung, 19.9.1996, S. 22.

[3515] [Maase 1998], hier S. 69.

[3518] [Bellwald 1997], hier S. 228–230.

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