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10.17. Die Mozartkugel. Von der lokalen Spezialität zum nationalen Symbol Österreichs[3596] (Ulrike Kammerhofer-Aggermann) - Langtext

Salzburg ist heute international gesehen ein vorrangiges Tourismusland (besonders für Amerika und Japan), das durch Berge und Seen, die Architektur der Stadt und nicht zuletzt durch Mozart und seine Festspiele Gäste aus aller Welt anzieht. 20 % der Salzburger Wirtschaft sind dem direkten Tourismus zuzuschreiben. 1990 zählte die Stadt Salzburg bei 142.000 Einwohnern im Hauptwohnsitz 1.946.478 Übernachtungen und 1.071.700 Ankünfte von Touristen.[3597]

Die „Tourismus Salzburg GmbH“ weist dazu statistische Zahlen aus, die auch den Rückgang von Gästen aus Übersee im Zuge der Katastrophe des 11. September 2002 wie des amerikanischen Krieges gegen den Irak spiegeln. An Gästeankünften und Übernachtungen für das Jahr 2002 ergaben sich an Gesamtankünften: 910.778 (2001: 908.077), das heißt ein Plus gegenüber 2001 von 0,3 %. Die Übernachtungen ergaben ein Minus von 0,8 %; 2002: 1.669.238 (2001: 1.683.463). „Berücksichtigt man die enormen globalen Problemfelder (Terrorangst, Aktienkurseinbrüche, allgemeine schlechte Wirtschaftslage, so kann trotz allem von einem achtbaren Ergebnis gesprochen werden. Die durchschnittliche Aufenthaltszeit in Salzburg beträgt 1,83 Tage (2001: 1,85 Tage). ... Die fünf wichtigsten Herkunftsländer mit jeweils mehr als 100.000 Übernachtungen im Jahr 2002 waren: Österreich – Deutschland – USA (2002: 165 949 Übernachtungen = 9,9 % Anteil am Gesamtaufkommen von Touristen zu 2001: 215 955 Übernachtungen = 12,8 %) – Italien – Vereinigtes Königreich. Von den Gästen aus dem asiatischen Raum (ohne Israel, Türkei und arabische Länder in Asien) wurden 131 234 Übernachtungen – das sind 7,9 % der Gesamtübernachtungen (Japan, 2002: 72 756 Übernachtungen = 4,4 % Anteil gegenüber 2001: 85 312 Übernachtungen = 5,1 %) – verzeichnet.“

Mozarts Geburtshaus und Mozart-Wohnhaus haben im Abrechnungszeitraum des Wirtschaftsjahres der „Internationalen Stiftung Mozarteum“ (1.7.2001–30.6.2002) insgesamt 421.647 Personen besucht. Die Mozarthäuser liegen daher mit knapp der Hälfte der Festungsbesucher an zweiter Stelle.

Tourismus als Wirtschaftsfaktor heißt in Salzburg € 420.000.000. Am Gesamt-Tourismus-Umsatz in der Stadt Salzburg gemessen bedeutet das 25 % des lokalen Bruttosozialproduktes und die Sicherung von ca. 6.400 Arbeitsplätzen in der Stadt. (Stand: März 2003). Der Stand der geprüften StadtführerInnen ging vom Jahr 2001 von 150 Personen bis zum 4.11.2002 auf 100 Personen herunter.[3598] Auch der Mozartkugelversand in die USA wurde zu Weihnachten 2002 sowohl von Konditoreien wie Privatpersonen eingeschränkt, da die Post über Radio und Fernsehen verlautbarte, Stanniolpapiere könnten bei den Kontrollen vom Metalldetektor beanstandet werden.

Mit dem Salzburg-Tourismus sind auch immer wieder neue „Mythen“ von Salzburg verbunden. Als Teile dieser Alltagsmythen fungieren auch einige international bekannte Spezialitäten (Salzburger Nockerl, Geselchtes mit Kraut, Mozartkugel), die gleichzeitig Indikatoren des Salzburg-Tourismus sind, dessen Strömungen – sowohl zeitlich gesehen als auch schichtenspezifisch – daran abzulesen sind. Die Mozartkugel wurde durch den Tourismus von der lokalen Spezialität zum Symbol der Stadt Salzburg und schließlich, im Ausland, zum nationalen Symbol Österreichs. Seit den 1990er Jahren ist sie selbst zum Mythos geworden und repräsentiert damit kulturelles Gedächtnis, kann auf Wahrheitsansprüche verzichten und übt Faszination aus.[3599]

10.17.1. Früher Salzburg-Tourismus

Als reichsunmittelbares, geistliches Fürstentum (bis 1803) war Salzburg bis zur Erbauung der Eisenbahnen im 19. Jahrhundert einerseits Transitland für Wirtschaftsgüter von Süden nach Norden und andererseits, während der Regierungstage, Treffpunkt der geistlichen Regierungsmitglieder, die dem internationalen Adel angehörten. So ist Salzburg vor dem Industriezeitalter, das dort erst im späten 19. Jahrhundert einsetzte, als Handelsumschlagplatz und Salinenland gekennzeichnet. Das Bürgertum war unbedeutend und hatte kaum Rechte und gesellschaftliche Möglichkeiten. Die gesamte Regierung wurde von Geistlichen geleitet.

Von kulinarischem Interesse ist das 1719 verfasste Kochbuch des fürsterzbischöflichen Hofkoches Conrad Hagger, das einerseits den aktuellen Stand der internationalen Entwicklung der Kochkultur jener Zeit darstellt und zu einem Schulwerk wurde und andererseits auch einfache Gerichte aus dem Lande unter die Beilagen aufnahm.[3600] Dieses Kochbuch diente unter anderem dazu, den Ruhm des Salzburger Hofes zu unterstützen, erwies sich doch der Erzbischof (Franz Anton Graf Harrach, 1709–1727) damit als „arbiter elegantiarum“ (als Lehrmeister des „guten Geschmacks“; Bezeichnung zurückgehend auf Gajus Petronius, † 66 n. Chr., röm. Schriftsteller und „arbiter elegantiae“ am Hofe Neros. Bekannt sein satirisch-parodistisches „Satiricon“ in dem das „Gastmahl des Trimalchio“ enthalten ist[3601]). Kochbücher stellen zu jener Zeit auch Dokumentationen vorhandenen Wissens dar, die den Besitzer als dieses Wissens mächtig ausweisen. Und dabei geht es nicht nur um handwerklich-technische oder botanisch-pharmazeutische bzw. medizinische Kenntnisse, sondern ebenso um kulinarische und gastrosophische Kochbücher sind auf ihrem Sektor „das inkorporierte kulturelle Kapital der vorausgegangenen Generationen“, das den Nachfolgenden als Wissensvorschuss und - vorsprung mitgegeben werden soll,[3602] nämlich „... solche Wissenschaft ... ja von Fürsten und Herren hoch geachtete Kunst ... welche man die Koch-Kunst zu nennen pflegt“, so Conrad Hagger in seiner Vorrede 1719.

Vor 1800 finden wir vereinzelt Reiseberichte von Künstlern und Gelehrten, aber schon Wolfgang Amadeus Mozart (1756 in Salzburg geboren, 1791 in Wien verstorben) soll in einem Brief an seinen Vater über den „schlechten Kaffee und die schimmlige Limonade“ im Café Steiger geklagt haben. Die Maler und Schriftsteller der Romantik machten Salzburg weithin bekannt, sie schwärmten für Landschaft und Volkskultur und litten unter der fehlenden Infrastruktur. Im Jahre 1800 marschierten die Franzosen in Salzburg ein und der letzte Fürsterzbischof, Hieronymus Graf Colloredo (Erzbischof: 1772–1812), verließ fluchtartig die Stadt. Nach wechselnden Regierungen wurde Salzburg 1815/1816 auf dem Wiener Kongress Österreich zugesprochen. Die Stadt Salzburg wurde Kreisamt und der oberösterreichischen Landesregierung in Linz unterstellt. Gebietsreduktion, starke Abwanderungen und wirtschaftliche Probleme waren die Folge. Der Maler Wilhelm Bogner, Reisebegleiter des Dichters und Hofrates Franz Grillparzer (1791–1872) hielt die Stadt Salzburg für einen „wirklichen Ratzenstadel“ und ihre Bewohner „ihren Straßen nach beurteilt“ für „ziemliche Schweinemägen“.[3603] 8 Alle Aktivitäten der Regierung und der Bürger richteten sich darauf aus, der Stadt ihr Ansehen wiederzugeben und neue wirtschaftliche Möglichkeiten zu finden. Die Suche nach Identifikation und Selbstdarstellung ist prägend für das 19. Jahrhundert, in dem erstmals ein bürgerlicher Mittelstand eine eigenständige Kultur entwickeln konnte.

10.17.2. Der Beginn des Salzburg-Tourismus

Die aufblühende bürgerliche Kultur- und Freizeitpflege jener Zeit wies die Richtung zum Einsatz jenes Kapitals, das Salzburg verblieben war; eine weitgehend unberührte und dem Schönheitsempfinden der Zeit entsprechende Landschaft, eine architektonisch besonders beeindruckende und nach den Erfordernissen der Zeit gut zu erweiternde Stadt, bestehend aus mittelalterlicher Bürgerstadt und frühbarocker Fürstenstadt und ein Künstler (eben W. A. Mozart), dessen öffentliche Wertschätzung im Kommen war. Daraufhin folgten die Schleifung der Befestigungsanlagen, eine großzügige Stadterweiterung und die Salzach-Regulierung. In einer Denkschrift heißt es 1861: „wurde der Ausbau der Stadt nach den Erfordernissen des Tourismus beschlossen“. 1861 war auch das bedeutsame Jahr, in dem Salzburg eigenständiges Kronland der Habsburger Monarchie wurde und sich der erste selbständige Landtag konstituierte.

Salzburg versuchte ab der Mitte des 19. Jahrhunderts mit allen Bereichen des Tourismus – von der Widmung der Stadt für den Fremdenverkehr, Hotel-, Straßen- und Bahnbauten, über Postkarten und Menügestaltungen – die selbst empfundene Randlage und Provinzialität abzustreifen und den „Anschluss an die große Welt“ zu finden.[3604] Der „Grenzbote“ von 1855 beklagte bereits die Veränderungen durch den Tourismus: „Sonst nahm der Wirt das grüne Kappel ab, und sah darauf, daß der Gast gut bedient wurde. Jetzt beglücken sie nur selten mit ihrer Gegenwart, gehen schweren Schrittes auf und ab, schlagen höchstens einem Gast auf die Schulter, der besonders in der Gnade steht. Früher zinnene Schüssel, gute Suppe; jetzt silberne oder porzellaine Schale, schlechte Suppe. Vormals wurde Bier nur aus Hopfen und Malz gebraut, und konnte alsowohl feil sein; – da aber jetzt mehrere Ingredienzien dazukommen – die Apotheker-Artikel teuer sind, muß es natürlicherweise teuer sein. Bierversilberer haben sich nicht geändert, sie versilbern jetzt wie damals, nicht sowohl das Bier, als sich selbst.“[3605]

In jener Zeit ist auch das „Salzburger Nockerl“ entstanden, ein typisch großbürgerliches Omelette soufflée, das über Salzburg hinaus zum eleganten Dessert der Habsburger Monarchie wurde.[3606] In die moderne Massengastronomie fand es, schon wegen der schwierigen Herstellungs- und Servierbedingungen, keinen Eingang. Ähnlich erging es der Forelle à la Mozart, die vielleicht besser zu Franz Schubert (1797–1828) gepasst hätte. Dieses wieder gefundene Selbstbewusstsein suchte Bestätigung einerseits in größtmöglicher Anpassung an den „internationalen“ Tourismus und andererseits in der engagierten Pflege lokaler Besonderheiten, die zu dieser Zeit eine Konzentration auf Wolfgang Amadeus Mozart bedeutete. Und damit sind wir bei den Anfängen des Mozart-Tourismus.

Der ersten Mozart-Touristen, das englische Ehepaar Novello, besuchten 1829 Salzburg. Mit der Denkmalenthüllung 1842 und der Mozart-Säkularfeier 1856 begann die bewusste Pflege des Mozart-Kultes. Seit 1877 führte die ISM („Internationale Stiftung Mozarteum“) periodische Versammlungen, die Mozart-Tage, und Musikfeste durch. 1842 wurde in einem großen Festakt das Mozartdenkmal enthüllt. Internationale Prominenz, Künstler und Kulturliebhaber waren dabei anwesend. 1888 wurde die internationale Mozartgemeinde gegründet.[3607] Diese Ereignisse legten den Grundstein zum späteren Festspieltourismus, die für Salzburg so bedeutsame Symbiose von Kultur, Tourismus und Folklorismus manifestierte sich bereits.

Stefan Zweig (1881–1942) schreibt über Salzburg: „Freilich war es damals noch nicht die durch ihre Festspiele berühmte (und im Sommer snobistisch sich gebärdende) Rendezvous-Stadt der Prominenten (sonst hätte ich sie mir nicht als Arbeitsort gewählt), sondern ein antiquarisches, schläfriges, romantisches Städtchen am letzten Abhange der Alpen ...“[3608]

In diese Zeit des jungen Salzburg-Bewusstseins fällt nun die Erfindung der Salzburger Mozartkugel. „Allerdings war sie damals noch ein Confiserieprodukt und keine Devotionalie“.[3609] Die Idee, einen Konsumartikel, eine Speise nach dem großen Komponisten der Stadt zu benennen, war allerdings nicht neu. Schon 1843 schrieb der Redakteur der Salzburger Zeitung, Ludwig Mielichhofer, in der Denkschrift zur Enthüllungsfeier des Mozartdenkmales (1842): „Mozartfestprogramme, Mozartbiographien, Mozartportraite, Mozartfestconcert ec. An den Kaufläden sah man Mozartbüsten, Mozartsmodeln, Mozartspfeifen, Mozartsstatuetten ec. in Mengen zum Verkaufe ausgestellt. In den Gasthäusern fand man sogar Mozartszimmer, Mozartsbrot, Mozartsweine – alles wurde auf den Namen Mozart getauft, den man täglich unzählige Male und allüberall ertönen hörte, der das Losungswort dieser Tage war“.[3610]

Kurz nach der Jahrhundertmitte gab es bereits eine Mozarttorte aus Schokolademasse.[3611] 1911 erzeugte der Schuster Hladik in der Getreidegasse, in der auch Mozarts Geburtshaus steht, eine „Mozart-Creme“, keine Schokoladespezialität, sondern „das beste Schuhputzmittel Salzburgs“.[3612] Bald nach 1900 stellte auch die Konditorei „Schatz“ in Salzburg die Mozartkugel (Firmenangabe) her und benannte sie erstmals „Mozartkugel“, und die Firma „Zuckerlmayer“ inserierte Mozartkugeln und Salzachkiesel (bunte Dragees, die heute noch erzeugt werden).[3613]

10.17.3. Die Mozartkugel

Als Geniestreich, hinsichtlich ihrer späteren touristischen Vermarktbarkeit, kann die Mozartkugel gelten. Peter Kubelka, damals Professor an der Städel-Musikschule in Frankfurt, später unter anderem Kunstprofessor am Schillerplatz in Wien, sparte 1990 nicht mit ätzendem Kommentar: „Mozart ist der am meisten überschätzte Komponist ... Er wird zurecht in Gestalt einer mit Schokolade überzogenen Pistazienkugel verehrt“.[3614]

Im Jahre 1890 erfand der sechs Jahre zuvor nach Salzburg gekommene Konditormeister Paul Fürst ein „Mozart-Bonbon“, das er 1905 auf der Pariser Gewerbeausstellung vorstellte und dafür mit der Goldmedaille ausgezeichnet wurde. Heute zählt die Mozartkugel zu den wesentlichen Salzburg-Souvenirs und wird in jedem Geschäft, an jedem Kiosk in der Stadt angeboten. Auch Kleider- und Geschirrgeschäfte führen sie in ihrem Programm. Drei Firmen in der Stadt (bis 1987 waren es noch vier, 2003 sind es mehrere, die teils halb-, teils ganz manuell herstellen), darunter der Urenkel des Erfinders, Norbert Fürst, erzeugen die Mozartkugel noch manuell, viele Firmen im In- und Ausland führen sie in ihrem Programm. Auch bei Diskontern sind namenlose Produkte erhältlich. Heute erzeugen die österreichischen Marktleader (Mirabell, Hofbauer) jährlich 100.000 Millionen Stück, der Enkel des Erfinders 300.000 Stück.[3615] Die „Echte Salzburger Mozartkugel“ von „Mirabell“ wird in 50 Länder exportiert und in „14 Arbeitsschritten und 2 ½ Stunden Arbeitszeit pro Kugel“ (laut Internet; da muss wohl die Trocknung eingerechnet sein!) erzeugt.[3616] Zum 200. Todestag des Komponisten 1991 entwickelte fast jede Konditorei der Innenstadt mit eigener Erzeugung eine „Mozartspezialität“: Mozartwürfel, Mozarttrüffel, Mozartkonfekt, Mozartlebkuchen, Mozartkaffee, Mozarteis ...

Zur Zeit ihrer Entstehung war die Mozartkugel ein Bonbon mit lokaler Widmung, gemäß dem neuen bürgerlichen Selbstbewusstsein und der neuen Mozartwertschätzung der Stadt. Der 1884 nach internationaler Ausbildung (Wien, Budapest, Paris und Nizza, etc.) nach Salzburg gekommene Erfinder Paul Fürst wollte damit wohl seiner neuen Heimatstadt und deren großem Komponisten eine Referenz erweisen und sein persönliches Eingliederungsbedürfnis dokumentieren. Neu an der Mozartkugel waren vor allem ihre runde Form und der technisch schwierige konzentrische Aufbau. Dieser komplizierten Herstellungstechnik galt auch der Preis der Pariser Gewerbeausstellung 1905.[3617]

Die Fachgruppe Süßwarenindustrie in Dresden legte 1939 fest, „daß Mozartkugeln Pralinen sind, deren Füllung aus mehreren Teilen zusammengesetzt ist, die Füllung kann unter anderem aus Marzipan und Nougat, aus Marzipan und Trüffelmasse oder aus Marzipan mit Pistazien bestehen“.[3618] 1931 verlegte die Münchner Firma „Dreher“ eine Konditorei-Filiale nach Berchtesgaden um am Tourismus Salzburgs zu profitieren und erzeugte als erste deutsche Firma en gros die „Original Dreher Mozart Kugel“, die es heute auch als Diätvariante gibt.[3619]

Weder Produkt noch Verpackung wurden vom Erfinder markenrechtlich geschützt, und bereits vor dem Ersten Weltkrieg (1914–1918) erzeugten auch andere Konditoren Mozartkugeln und wickelten sie wie der Erfinder in silbernes Stanniol mit blauer Mozartsilhouette und mit blauem Aufdruck. Die Mozartkugel war eine Bonbonkomposition, eine Spezialität am Ort, die Erfindung eines bemühten und selbstbewussten Konditors, dessen Hausspezialität, nicht mehr, aber auch nicht weniger. Die industrielle Herstellung begann vor dem Ersten Weltkrieg und nahm danach größere Dimensionen an. Rudolf Weikl nennt die Berliner Firma „Fassbänder“ 1914 als ersten industriellen Erzeuger.[3620] Um 1950 kam die heute international bekannte Verpackungsform in goldenem Stanniol mit rotem Medaillon und buntem Mozartportrait auf dem Markt. Sie erinnert deutlich an das unvollendete Portrait des erwachsenen Mozart. 1916, mitten in den Wirren und wirtschaftlichen Nöten des Ersten Weltkrieges, meldete das „Wiener Fremdenblatt“: „Mozartkugeln gibt es in unwahrscheinlicher Menge auch im Kriege“.[3621] Das Jahr 1916 war auch das Jubiläum „100 Jahre Salzburg bei Österreich“, die Feierlichkeiten fanden, bedingt durch die Kriegsnöte, in sehr bescheidenem Rahmen statt. Die Mozartkugel war bereits über die Stadt hinaus, zur bekannten Spezialität, vielleicht auch schon zum Symbol Salzburgs geworden. Sonst würde sie wohl nicht in einem Feuilleton erscheinen, das die historischen Taten und landschaftlichen wie kulturellen Besonderheiten des Landes darstellt.

In der Zwischenkriegszeit begann auch die Salzburger Firma „Reijsigl“ mit der industriellen Erzeugung. Aus dieser Firma wurde der heutige österreichische Marktleader „Mirabell“, dem als erstem ein maschineller, konzentrischer Aufbau und eine tadellos runde Form gelangen. Alle anderen maschinell erzeugten Mozartkugeln sind an ihren „Füßchen“, die ihnen eine „Bombenform“ statt der Kugelform geben, zu erkennen.

Obwohl nach 1919 in der Notzeit nach dem Ersten Weltkrieg ein Einreiseverbot für Touristen in Salzburg erlassen werden musste,[3622] inszenierte Max Reinhardt (1873–1943) bereits 1920 für die 1916 begründete Festspielhausgemeinde den ersten „Jedermann“ vor dem Salzburger Dom und rief damit die Salzburger Festspiele ins Leben. Das Publikum der Festspiele kam aus dem Gebiet der einstigen Habsburger Monarchie, aus Deutschland, Österreich, Frankreich und England. Die Salzburger Sommertouristen an den Seen und im Gebirge stammten zu einem großen Teil aus Österreich und Deutschland. Die Tausendmarksperre – eine Ausreisesteuer – zwischen Österreich und Deutschland (1933–1936) schädigte die Salzburger Wirtschaft sehr, besonders betroffen waren Klein- und Mittelbetriebe. Dagegen zogen die durch die Machtübernahme Hitlers in Deutschland (1933) vertriebenen Künstler über Max Reinhardt nach Salzburg. Mit ihnen kam vermehrt international hochrangiges Publikum aus aller Welt, um dem kleinen Österreich gegenüber dem Anschlussbestrebten Deutschland Sympathie zu bekunden. Davon profitierten einige wenige Betriebe, die als die Initiatoren des „Austrian Look“ und des „Salzburgtypischen“ gelten können.[3623] 1937 nannte Ferdinand Czernin in seinem ironischen Reiseführer für die „Anglo- Saxons“ „Mozart: The reason for Salzburg“.[3624]

In dieser Zeit entstand das berühmte „Salzburger Flair“, über das Stefan Zweig berichtet: „Etwas merkwürdiges hatte sich in aller Stille ereignet. Die kleine Stadt Salzburg mit ihren 40.000 Einwohnern, die ich mir gerade um ihrer romantischen Abgelegenheit willen gewählt hatte, hatte sich erstaunlich verwandelt. Sie war im Sommer zur künstlerischen Hauptstadt nicht nur Europas, sondern der ganzen Welt geworden. ... mit einem Mal wurden die Salzburger Festspiele eine Weltattraktion, gleichsam die neuzeitlichen olympischen Spiele der Kunst, bei denen alle Nationen wetteiferten, ihre besten Leistungen zur Schau zu stellen. ... Könige und Fürsten, amerikanische Millionäre und Film-Divas, die Musikfreunde, die Künstler, die Dichter und Snobs gaben sich in den letzten Jahren in Salzburg Rendezvous; ... in seinen Straßen begegnete man im Sommer jedwedem aus Europa und Amerika ... in Salzburger Landestracht – weiße kurze Leinenhosen und Joppen für die Männer, das bunte „Dirndlkostum“ für die Frauen –, das winzige Salzburg beherrschte mit einem Mal die Weltmode. In den Hotels kämpfte man um Zimmer, die Auffahrt der Automobile zum Festspielhaus war so prunkvoll wie einst jene zum kaiserlichen Hofball, der Bahnhof ständig überflutet; andere Städte versuchten diesen goldhaltigen Strom zu sich abzuziehen, keiner gelang es. Salzburg war und blieb in diesem Jahrzehnt der künstlerische Pilgerort Europas.“[3625]

1938, mit der Annexion Österreichs durch Hitlerdeutschland, kam der Salzburg-Tourismus immer mehr zum Erliegen, erst nach dem Zweiten Weltkrieg (1939–1945) ging es wieder bergauf. Bis 1949 war die Hungersnot der Bevölkerung groß, dennoch stagnierte die Mozartkugelproduktion nicht. So erinnern sich heute noch Salzburger daran, dass es zwar kein Brot gab, aber ihnen der Duft frischer Mozartkugeln im Umkreis der Handerzeuger in die Nase stieg und in den offenen Fenstern die frisch in Schokolade getauchten Bonbons zum Trocknen standen. Die Amerikanische Zone, zu der auch Salzburg gehörte, wurde aber bald zum Inbegriff des Goldenen Westens. Ab 1955 öffneten die großen Hotels ihre Pforten. 1966 nahm Salzburg die Spitzenstellung in Österreichs Wirtschaft ein.[3626] 1958 erhielt die Mozartkugel auf dem Österreichischen Bundestag der Zuckerbäcker eine Goldmedaille.[3627]

Nach der ersten Phase von Kultur- und Ausflugstourismus und der zweiten von internationalem Festspieltourismus folgte nun die Phase des totalen Tourismus. Sommer- und Winterfremdenverkehr, Kultur- und Festspieltourismus, Kongress- und Städtereisen, Tramper und Tagestouristen – sie alle kamen nach Salzburg und fanden ein Zielgruppen orientiertes Arrangement. Doch bald setzte auch die Gegenbewegung ein. 1973 wurde der Verkehr aus der Altstadt verbannt, 1980 trat das Altstadt-Erhaltungsgesetz in Kraft.[3628] 1955 und 1991, in den Mozartgedenkjahren, bemühte sich die Landesregierung vergeblich, den Namen Mozarts gegen die Vermarktung schützen zu lassen.[3629] Der Name war bereits Allgemeingut geworden. In den 1980er Jahren erschienen laufend neue „Mozart-Produkte“. Darin ist wohl eine Orientierung am Massen- und besonders Jugendtourismus, andererseits eine Vorarbeit der Firmen hin auf das Jubiläumsjahr 1991, den 200. Todestag Wolfgang Amadeus Mozarts, zu sehen. Ein neues Mozartimage entstand.

In der ersten Welle der bürgerlichen Kulturbewegung war Mozart das Musikgenie, dem es zu huldigen galt. „In Mozart ist der Stadt sowie dem ganzen Lande Salzburg ein Werthmesser gegenüber dem Fremdlande zu Theil geworden, der selbe für ewig auf eine hohe Stufe stellte ...“.[3630] Das Schlagwort von 1865 hieß „Mozart“. Zur Zeit des berühmten frühen Festspieltourismus wurde auch die Figur Mozarts in das „Salzburger Flair“ aus romantischer Landschaft, mittelalterlicher Bürgerstadt, frühbarocker Fürstenstadt, Leichtigkeit und Lebenslust einbezogen. Der liebliche Rokokopage und oft ungehobelte Lebenskünstler wurde Teil der „fiebernden Spiegelwelt“ Salzburgs.[3631] In der breiten Bevölkerung wurde Mozart zum herzigen Kind „Wolferl“, das in weißer Lockenperücke und Seidenhose der Kaiserin Maria Theresia (1717–1780; Erzherzogin seit 1740, Königin von Böhmen und Ungarn seit 1740, seit 1745 Kaiserin) auf den Schoß sprang und ihr ein „Busserl“ gab.[3632]

Das neue Mozartimage der späten 1980er Jahre hat zwei Musiker und einen Regisseur als Väter: vor allem den österreichischen Rocksänger Falco (Johann Hölzel; 1957–1998), der mit seinem Hit „Rock me Amadeus“ (Album Falco 3, 1985) und dem dazugehörigen Videoclip das Bild des jugendlichen Unangepassten, des Aufrührers und Freaks aufbrachte. Auf der Seite der ernsten Musik wurde dieses Image vom Geiger Nigel Kennedy (britischer Violinist, geboren 28.12.1956) übernommen. Milos Formans (amerikanischer Filmregisseur tschechischer Herkunft, geboren 18.2.1932) Film „Amadeus“ (1984) machte Mozart zum Idol der jungen Generation. „Amadeus“ war das neue Schlagwort. Damit war gleichzeitig eine neue Zielgruppe am Markt eröffnet: Mozart-T-Shirts nicht mehr mit bravem Mozartkopf, sondern mit Neongraffiti, Schier mit Mozartdrucken, Sportbekleidung, Sticker, Schmuck, Fastfood und Mozartkugeln in bunte Folien und Neon-Plastik-Schläuche verpackt, kamen auf den Markt. Auch 2003 bieten Geschäfte in der Altstadt wie im Internet Mozartsüßwaren, „Mozart-Düfte“ wie CDs in Mozartkopf-, Edelweiß- oder Riesenrad-Verpackung neben Mozart-Sticker und T-Shirts an.[3633]

Unter den über 1.120 Einträgen zum Suchbegriff „Mozartkugel“ wie 2,290,000 Einträgen zum Suchbegriff „Mozart“ in der Suchmaschine „google“ finden sich 2003 eine Fülle kritischer bis subversiver Beiträge unterschiedlichster Herkunft, die „Mozart“ bzw. „Mozartkugel“ pointiert sowohl als Synonym des Widerstandes wie als Synonym des Spießbürgertums („Mozartkugel- Visage“, „Mozartkugel-Wolferl“), des Nachwirkens faschistischer Idee etc. oft gegenteilig verwenden. Die „Berliner Zeitung“ titelte am 17.5.1997 die Ankündigung der „Chaos-Tage“ rund um den Weltwirtschaftsgipfel in Salzburg mit „Mozartkugel-Schlacht“.

Von den beiden internationalen Marktleadern (Reber/Bayern, Mirabell/Salzburg) setzte die österreichische Firma in der Werbung auf „Feeling Amadeus“ und sprach rund um 1991 ein jugendliches, speziell japanisches Publikum an, während die deutsche Firma auf den lieblich- höfischen Rokoko-Mozart setzt und damit die deutsche und amerikanische Mittelschicht älterer Semester bewirbt.

In den 1980er Jahren kulminierte ein Salzburger Urheberstreit unter den Konditoreien, ein Konkurrenzkampf österreichischer Firmen und schließlich ein österreichisch-bayerischer Wirtschaftskrieg, der bis vor die EG getragen wurde. Es ging nie um das Rezept, aber um die Alleinvertriebs- und Exportrechte, um Art und Farbe der Verpackung sowie um die Bezeichnung als „Mozartkugel“ und die Zusätze „echt“, „original“ und „Salzburger“. Der Wiener Redakteur Ernst Schmiederer ist diesen Wirtschaftskriegen nachgegangen: „Schon vor Jahren (1981) entbrannte deshalb an der Schokoladefront der so genannte Mozart-Kugel-Krieg, ein deutsch- österreichisches Scharmützel, in dem es um die angestammten Rechte einiger Süßwarenhersteller geht. Zu einem dauerhaften Friedensschluß kam es nicht, glücklicherweise herrscht derzeit zumindest Waffenstillstand ...“[3634]

Setzt die österreichische Firma auf Gold und Dunkelrot, eine Jubiläumsblechdose mit alten Stichen Salzburgs und lässt lebensgroße Mozartpuppen in den Geschäften unter einem Himmel aus Mozartkugelluftballons und vor Mozartportraits im Pappgoldrahmen posieren, bietet die bayerische Firma Konzertflügel- und Tastaturverpackungen an und baut in den Geschäften veritable weiß-goldene Klaviere und Mozartpuppen auf, so werben die Handerzeuger mit edlen Konfiserieverpackungen und Mozartbezug. Die „Original Salzburger Mozartkugel“ gibt es als hochwertige Praline, nicht als Mozartsouvenir – wie Norbert Fürst betont – im Klarsichtpack bzw. mit Ansicht des Konditoreigewölbes des Erfinders. Während andere Firmen Mozartkugeln in verschiedenen Geschmacksrichtungen, Mozartrollen, -taler oder Törtchen anbieten, gehört es zum „guten Ton“ der Handerzeuger, keine weiteren Mozartprodukte herzustellen. Dagegen werden „Bachwürfel“ oder „Doppler Kon(Ef)fekt“ auch zum gezielten und individuellen Kultursponsoring eingesetzt.[3635]

Mozartkugeln begleiteten sowohl den österreichischen Astronauten Franz Viehböck ins All, wie auch die Verhandlungen zum EU-Beitritt Österreichs (1.1.1995). Wer will kann sich durch einen Internetfragebogen zur Mozartkugel ein Zertifikat als „Mozartkugelkenner“ ausdrucken. Es stellt auch einen Bezug zu Mozarts Vater her, der an den Sohn schrieb: „... – und dann nach der Kirche leichte Chocolate; aber keinen Coffée.“[3636] Besonders Interessierte können auch ein „Mozartkugelseminar“ buchen, auf Deutsch, Englisch oder Japanisch, und sich „als Fachmann(frau) für die Herstellung von St. Gilgner Mozartkugeln“ besonders qualifizieren. „As you like it“ – ob „Nostalgiebox“ oder „Mozartballen“, Kaffee oder Likör – an keinem geht das Genie vorbei.[3637]

Neben Mozartschuhen, -hemden, -T-Shirts, -uhren, -Parfums, neben Mozart-Hamburger (Bosna), Mozarttaler, Mozartrolle, Mozartwürfel, Mozartzopfmilchbrot, Mozartkaffee und Mozart- wie Amadeus-Likör in den Salzburger Gassen führten Leitlinien und Markierungen auch zur Landesausstellung 1991: „Mozart. Bilder und Klänge“. Salzburg zur Zeit der Familie Mozart wurde im Stadt- und Landesmuseum Salzburger Museum Carolino Augusteum (SMCA) unter dem Titel „Die Bürgerstadt zur Zeit der Mozart“ gezeigt und im Dommuseum als „Der Fürstenhof zur Zeit der Mozart“. Die Mozartkugel war nun ihrerseits zum Inventor geworden. Bereits 1981 entstand der Mozartliqueur in einer der goldpapierumwickelten Kugel nachgeschaffenen Flasche. Nun kamen auch entsprechende Porzellandosen, Pillendöschen und Broschen auf den Markt. An Umsätzen brachten 1992 österreichweit Mozartkugeln jährlich 300 Millionen Schilling (das wären etwa 22.000.– Euro) und Mozartsüßwaren 400 Millionen Schilling (30.000.– Euro). Dagegen spielten Mozartaufführungen in österreichischen Opernhäusern, Landestheatern und Festspielhäusern jährlich 6 Millionen Schilling (436.000.– Euro) ein.[3638]

Auch die Verpackungen, die bis in die 1980er Jahre auf das Mozartportrait beschränkt waren, wurden mit musikalischen Requisiten und Details aus Mozarts Biographie erweitert. Die Mozartkugel bewegt sich immer weiter weg von einem der Person gewidmeten Konfekt und erhält immer mehr den Charakter des Künstlerischen und Kulturellen, sie wird zum kulturellen Emblem und zur Reliquie. So existieren neben einer Konzertflügel- und Tastatur-Verpackung auch eine „Mozart-Kugel-Schallplatten-Packung“ und ein Mozartweinkarton mit Compact Disc. Eine Kostprobe aus der Jubiläumsbroschüre einer großen Firma soll aufzeigen, wie facettenreich die Werbung dazu gestaltet ist. Sie ist suggestiv gehalten, erzeugt persönliche Sentimentalität, lässt nostalgische Gefühle und soziale Statusträume aufkommen: „Der Kaiserin Maria Theresia sprang das kleine Musikgenie sogar ohne Scheu auf den Schoß und legte ihr die Arme um den Hals, um sie herzhaft abzuküssen. Die ‚Echten Reber-Mozart- Kugeln‘ in der hocheleganten Quartett-Packung, in der Klarsicht-Herzform mit Seidenrose und in der heute schon klassischen Mozart-Duett-Packung wären sicherlich auch die richtigen Damenpräsente am kaiserlichen Hof gewesen.“[3639]

In Verpackung und Werbung nahmen die Marktleader 1991 mit „exklusiven Jubiläumsprodukten“ Bezug auf das Mozartjahr. Deutlich sichtbar wurde dabei, dass nicht Musikwissenschaft oder Biographie, ja nicht einmal Inhalt und Material der Produktionen, sondern ausschließlich Verpackung und Bezeichnung des Artikels seinen Preis und auch seinen ideellen Marktwert ausmachten. Was Gottfried Korff und Utz Jeggle 1974 in „Homo Zillertaliensis“ festhielten, nämlich, dass die fehlende Echtheit, in unserem Fall der fehlende Mozartbezug, durch das Verkaufskonzept ersetzt wird, ist klar ersichtlich.[3640]

Keinerlei Personen- oder Jubiläumswerbung finden wir bei den Handerzeugern. Sie setzen auf Exklusivität und profitieren indirekt von der Werbung durch die Industrie, sie bieten die Mozartkugeln in augenblicklich üblicher Konfiserieverpackung mit edlen Seidenpapieren, Schachteln, Bändern und Seidenblumen beziehungsweise in Spanschachteln mit Mozartportrait oder Salzburgstich an.

1991 gestaltete der Seehamer Künstler Peter Mairinger eine Ausstellung „Von Mozart bis Kugel – ein Name und seine Vermarktung“ (CA Rainerstraße) und im selben Jahr sorgte der Kapruner Bildhauer und Objektkünstler Anton Thuswaldner mit seinem „Attentat auf Mozart“ für Bürgerempörung und Politikerentrüstung. Er verpackte eine Woche lang das Mozartdenkmal auf dem Salzburger Mozartplatz in eine Pyramide aus Einkaufswägen.[3641]

Schon 1981 besetzte Günther Nussbaumer auf seiner Titelgraphik zu einer Salzburger Textsammlung den Sockel der Mozartstatue mit dem „M“ eines internationalen Fastfood Betriebes und betitelte sie „Mc. Mozart’s“.[3642] Und eine Salzburger Kabarettgruppe nannte sich „MotzArt“, was in der österreichischen Umgangssprache so viel bedeutet wie kritische oder unangepasste Kunst. Dieses Wortspiel wurde einerseits in der Jugendszene aufgenommen und andererseits zum Namen einer exklusiven Bekleidungskollektion von teurer Landhausmode, die auf jedem Stück Portrait und Autograph Mozarts, sowie Noten, Violine oder Klaviertasten zeigt.

Der Salzburger Literat Walter Kappacher schlägt in seinem Roman „Touristomania“ (1990) – in dem er eine touristenfreundliche „Happy World“-Satellitenstadt um Salzburg ansiedelt – vor, bei künftigen Festspielen Herbert von Karajan (1908–1989) auf einer Mozartkugel stehend dirigieren zu lassen: „Zwanzig als Mozart verkleidete Burschen boten Süßigkeiten an, den neu creierten zuckerfreien Mozart-Oktaeder. Auf den Bühnenvorhang wurden vor Beginn der Aufführungen ... Werbe-Videos projiziert ... Die Regisseure wehrten sich zunächst dagegen, daß die Sängerinnen und Sänger nach einer Arie ... Werbespots singen sollten, wobei blitzschnell eine entsprechende Kulissenwand hinter den Künstler geschoben wurde. Der Beifall war gerade bei diesen Darbietungen ... nicht enden wollend.“[3643] Hans Haids Gedanken über touristische Monostruktur und die Versteinerung „kultureller Identität“ durch das periodische Zelebrieren von angeblich „Althergebrachtem“ hämmern dabei in den Ohren.[3644]

Qualitätsvolle Bonbons als Geschenk, speziell als Mitbringsel von der Reise haben oder hatten zumindest seit dem 19. Jahrhundert das Flair des Exklusiven. Als Reiseandenken in der Form „Mozartkugel“ sind sie einerseits lokale Spezialität und über den Mozart-Bezug Zeichen von Kulturbewusstsein geworden. Dazu verraten sie weniger über Geschmack und Vorlieben des Schenkenden als manch anderes Geschenk, verlangen am Reiseziel keine große Umschau und Auswahl, sie sind überall erhältlich, fordern keine Rücksicht auf den Geschmack des Beschenkten, sie klammern das Problem der individuellen Ästhetik aus. Der Beschenkte muss sie nicht in die Vitrine stellen, sich nicht Jahre später an den Schenkenden erinnern, er isst sie einfach auf. Ob das mit zu den Geheimnissen der Mozartkugel gehört? Und dazu das Bewusstsein für Käufer und Genießer eine kulturelle Tat begangen zu haben, Anteil zu haben an historischer, lokaler und musikalischer Kultur, an 200 Jahren Mozart in Salzburg. So sind die Mozartkugel und ihre Nachfolgeprodukte der einfachste Weg der Annäherung an diese große Persönlichkeit. Weder Musikverständnis, noch Zeitaufwand, noch persönliches Engagement sind erforderlich, ein Schokolade-Bonbon oder Likörchen genügt, um eine große Persönlichkeit, ein musikalisches Werk, spätbarocke Kunst zu erfassen.

Mozartprodukte sind zum Inbegriff des modernen Massentourismus und vorrangige österreichische Exportartikel geworden. Auch 2003 wird bereits von den Touristik-Anbietern das Projekt „Mozart 2006“ zum 250. Geburtstag von Wolfgang Amadeus Mozart beworben: „Salzburg spielt heute im internationalen Kunst- und Kulturleben eine herausragende Rolle, seine Festspiele genießen weltweites Ansehen. Sein Ruf ist traditionell gewachsen mit W. A. Mozart als dem wichtigsten Impulsträger. Der 250. Geburtstag von W. A. Mozart im Jahre 2006 bietet die einmalige Chance für Salzburg, ein Kulturereignis von europäischer Dimension zu gestalten. Das Mozartjahr: Auf die kulturelle Tradition der Vergangenheit aufbauend, aber auch dank der kulturellen Leistungen der Gegenwart, der Kreativität seiner zeitgenössischen Kunstszene, ist Salzburg ein musikalisches Zentrum von Weltgeltung. Zur Wiederkehr des 250. Geburtstages von Wolfgang Amadeus Mozart im Jahr 2006 plant Salzburg, dieses Jubiläumsjahr zu einem kulturellen Ereignis werden zu lassen, das über die Würdigung Mozarts hinaus auch Impulsträger sein soll für neue kulturelle und künstlerische Perspektiven.“[3645] „Mozart 2006“ wird als europäisches Netzwerk erarbeitet und wird neben einer Großausstellung im bis dahin neu eröffneten Haus des Salzburger Museum Carolino Augusteum, in der neuen Residenz am Mozartplatz, „Europäische Mozart-Wege“, bauliche Verbesserungen des Festspielbezirks, Kinder- und Jugendprogramme sowie viele kleine Symposien bringen.

Der Umgang – sowohl der konsumierenden Reisenden als auch der anbietenden Bereisten – mit der Stadt, mit ihrer Kultur und Geschichte zeigt deutlich die Linie in der Entwicklung des Tourismus auf. Auf Begeisterung für Landschaft und Kultur in der Frühzeit und einen gleichmütigen Umgang mit den Reisenden folgten eine Verehrung der Kulturtouristen und eine große Anpassung an deren Lebensstil mit weitgehender Verinnerlichung touristischer Klischees am Ort. Im Weiteren ist eine immer größere Anpassung an die Touristen und deren Forderungen und Vorstellungen von „Lokaltypischem“ zu sehen. So wird auch die Produktion für den Massentourismus nicht eine Vereinfachung oder Verkürzung der „typischen Waren“, sie bietet nicht symbolhafte Dinge für die Region, sondern Zeichen mit völlig neuem Inhalt. Fast möchte man die Ablösung der Symbole und Attribute der Heiligen von der Legende der Personen im Volksglauben zum Vergleich heranziehen (etwa „Heiliger Sankt Veit, wecke mich zur rechten Zeit“, ein weitverbreitetes volkstümliches Stoßgebet, das den Ölkessel seines Martyriums zum Nachttopf mutierte). Die grundsätzliche Beziehungslosigkeit und Kulturdifferenz zwischen Erzeuger und Produkt, Konsument und Produkt, Produkt und Region beziehungsweise Kultur kommt deutlich zum Ausdruck. Krimhild Kapeller schreibt in ihrer Auseinandersetzung mit Hermann Pollings Arbeit „Airport art“ von 1987: „Die hervorstechendsten Merkmale des ‚durchschnittlichen Souvenirs‘ unserer Zeit sind, handlich und relativ günstig zu sein ... und weiter: Vorrangig an der airport art ist aber nicht nur ihr Massencharakter, (außer für den Produzenten), sondern das in ihr enthaltene Kulturverständnis. Die auf wenige Stereotypen beschränkten Inhalte ..., sagen daher mehr aus über den Käufer ... als über das betreffende Land“.[3646]

Die Ware Mozart hat sich im Jahr 1991 bereits als Kassenhit erwiesen. Mozart wurde zur Kultfigur unserer Zeit. Süß und niedlich, als Schokolade und Rokokopüppchen für die einen; exklusiv und Status hebend als Goldkollier für die anderen; individuell und aufmüpfig als Systemverweigerer für dritte. Ganz allgemein steht heute die Frage im Raum, wieweit Nivellierungen und Inhaltsveränderungen schließlich Bewusstseinsveränderungen mit sich bringen. Daran schließt sich die Frage an, wieweit ein empfundener oder tatsächlicher „Kulturmangel“ der Gegenwart oder eine Unsicherheit im Umgang mit den Veränderungen eine Suche nach Kultur in der Vergangenheit einleitet. Einen Rückgriff auf bereits Gesichertes, Unbestrittenes und bereits Bewertetes, der die direkte persönliche Entscheidung und Auseinandersetzung mit der Kultur der Gegenwart umgeht. Leicht fassliche, plakative und marktorientierte Konsumkultur bietet sich dann als Surrogat an.

In Zusammenhang mit der Mozartkugel zeigt sich auch, dass lokale, regionale und nationale Klischees, die von außen, also über den Reisenden, an ein Land herangetragen werden, dort durchwegs auch rezipiert werden. Peter Bichsel stellte in seiner Arbeit „Des Schweizers Schweiz“ fest: „... unsere Vorstellung von unserem Land ist ein ausländisches Produkt. Wir leben in der Legende, die man um uns gemacht hat ...“[3647]

War die Mozartkugel in der Zeit vor dem Zweiten Weltkrieg noch für Salzburger und Österreicher eine Salzburger Spezialität, so ist sie inzwischen über den Amerikamarkt und schließlich den japanischen Tourismus zum „Österreichprodukt“ im ganzen Lande geworden. Sie ist Leistung und Repräsentationsgegenstand Österreichs, beliebtes Geschenk an Freunde im Ausland, patriotisches Geschenk im Inland. Für amerikanische Reisende ist die Mozartkugel neben dem Lipizzaner das Österreichsymbol schlechthin und für den Japaner gemeinsam mit der Musik Mozarts Markenzeichen Österreichs und Inbegriff europäischer Kultur. 1993 wurde die Mozartkugel als „Austrian classic“ in die Liste der „Austrian Ingenious Products“ aufgenommen.[3648]

Das Beispiel der Mozartkugel zeigt deutlich, dass lokale Spezialitäten oder Besonderheiten in Zeiten mangelnden Selbstbewusstseins nicht entstehen können. Erst mit einer selbstbewussten Imagepflege treten sie hervor und werden als regionale oder nationale Leistung gegenüber dem Fremden aufgewertet. Das gilt gleichermaßen für überlieferte wie neue nationale Besonderheiten. Eine vermehrte Hervorhebung, Stilisierung und Produktion solcher Erzeugnisse und deren Aufwertung zu nationalen Symbolen ist dann gegeben, wenn die Existenz gegen andere abgegrenzt werden muss. Diese Rolle kommt in Salzburg nicht der Mozartkugel zu, sondern sie ist den Trachten vorbehalten. Salzburg präsentiert sich in ihnen gegenüber den Touristen, aber auch gegenüber dem übrigen Österreich als anders und vielleicht sogar als „wertvoller“.

Die Mozartkugel dagegen ist ein von außen durch die Touristen an Salzburg herangetragenes und verinnerlichtes Nationalsymbol. Und es verschafft dem 1816 und dann von Österreich geschädigten Salzburg-Bewusstsein wohl Genugtuung, dass diese lokale Spezialität heute zum vorrangigen Exportartikel Österreichs zählt und von einzelnen Nationen als nationales Symbol Österreichs verstanden wird. Als man 1841/42 den damaligen Michaelsplatz (heute Mozartplatz) für die Aufstellung des Mozartdenkmales vorbereitete und den Michaelsbrunnen abtrug, kamen die Grundfesten einer römischen Villa zutage. Ein Fußbodenstück trug die Inschrift: „Hic habitat felicitas“. Und dieses Glück in Verbindung mit dem Namen „Mozart“ blieb wohl weiterhin in Salzburg wohnen.[3649] In den Briefen an das Bäsle (die Cousine) in Augsburg schrieb Mozart einmal: „Ich will alles haben was echt, gut und schön ist“.



[3596] Dieser Beitrag war Festvortrag zur Jubiläumstagung der Finnischen Gesellschaft für Volkskunde „Ethnos“ anlässlich „75 Jahre Staat Finnland“ unter dem Thema „Nationale Symbole“ im Nationalmuseum von Helsinki am 13. November 1992. Er erschien, übersetzt ins Amerikanische von Helga Maier ([Kammerhofer-Aggermann 1993a]). In deutscher Sprache: [Kammerhofer-Aggermann 1993b] sowie als Firmenbroschüre der Firma Norbert Fürst [Kammerhofer-Aggermann 1995]. Weniges wurde 2003, also 10 Jahre später, zur weiteren Entwicklung ergänzt.

[3597] [Bürgerservice 1991], S. 2; vgl. [Keul/Kühberger 1996], bes. S. 15–18.

[3598] 2003 macht sich gerade das Manko an Gästen aus Übersee, besonders aus den USA in Salzburg bemerkbar. Die Betroffenheit durch das Attentat vom 11. September 2002 sowie der Krieg der Partner USA und Großbritannien gegen den Irak führten zu Einbrüchen im Tourismus. Zahlen liefert die Tourismus Salzburg GmbH, Rubrik Presse nach der Quelle: Magistrat Salzburg – Archiv und Statistisches Amt. http://www.salzburginfo.at.

[3599] [HoffmannR 2002], S. 6f., dort zitiert: [Barthes 1964], S. 141. Vgl. [Bachleitner/Haas/Weichbold 2003], bes. S. 62f.

[3601] [Meyers Neues Lexikon]. 6. Bd., S. 219. Vgl. dazu: http://www.Inblackandwhite.com/FedericoFelliniv2.0/films/sartyr.html und http://www.gis.net~kcollins/petron/satyr/complete.html [Anm.: Zum Zeitpung der Publikation nicht mehr online.]: Nach Oscar Wilde’s (1854–1900) Übersetzung von Petronius‘ „Satiricon“ enstand 1969/70 Federico Fellinis berühmter Film „Satyricon“.

[3602] Vgl. [Bourdieu 1982], S. 127ff. ganz im Sinne seines genetischen Strukturalismus.

[3606] Zur Entwicklung des Salzburger Nockerls: vgl. [Rumohr 1832], S. 188; [Brillat-Savarin 1976]; [Kochbuch 1822]; [Prato 1858]; [Zöhrer 1873].

[3611] Kochbuch der Familie Reinitzer, Hs., dt., 2. H. 19. Jh., o.Inv.Nr. In: [ZotterH/ZotterH 1979], S. 6; [Zöhrer 1873].

[3612] ´Salzburger Chronik 64. 18./19. März 1911, S. 22.

[3613] Freundliche Mitteilung der Firma Schatz an Frau Dr. Irmtraut Froschauer vom 3. April 1991. Vgl. [GTZ 1912] 9 (1913), S. 79.

[3614] [Schmiederer 1990], S. 128–130.

[3615] Salzburger Woche 1/2, 11. Januar 1991, ; Kleine Zeitung, 28. Dezember 1990, S. 68.

[3617] Freundliche Mitteilung von Herrn Norbert Fürst vom 27. März 1991 und Firmenarchiv. Auskünfte der Firma „Mirabell“, Frühjahr 1990 und Herbst 1992. Beiden Firmen danke ich für die Auskünfte und die Unterstützung meiner Arbeit sehr herzlich.

[3621] Wiener Fremdenblatt 70/118. 29. April 1916, S. 1f.

[3622] Salzburger Landesarchiv. Landtagsprotokolle 1919.

[3626] [Peternell/Dopsch/Hoffmann 1984], S. 4. Freundliche Mitteilung von Frau Dr. Irmtraut Froschauer.

[3627] [Salzburger Nachrichten]. SN-Dokumentation im Amtscomputer der Salzburger Landesregierung, 1958–09–25.

[3628] [Thuswaldner 1984], S. 7–9, bes. S. 4.

[3629] [Salzburger Nachrichten]. SN-Dokumentation im Amtscomputer der Salzburger Landesregierung, 1955–08–06; Kulturkommissionsprotokoll 1990/91.

[3637] Café Konditorei Dallmann; http://sweetaustria.bizland.com ; www.allesoverballen.com/engels/Mozart.html [Anm.: Zum Zeitpunkt der Publikation nicht mehr online.].

[3638] Salzburger Woche 1/2, 11. Januar 1991; Kleine Zeitung, 28. Dezember 1990,S. 68.

[3639] Firmenprospekt Reber. Bad Reichenhall 1990; Reber Sepezialitäten.

[3641] Aktion von Anton Thuswallner, Verpackung des Mozartdenkmales mit Einkaufswägen: 7.–13. September 1991; [Thuswaldner 1991].

[3642] [AignerCh 1981]; darin u. a.: Jatzek, G.: o. T, S. 106; Aigner, Christoph W.: Altsalzburg, S. 202–205.

[3644] Haid, Hans: [Pöllinger Briefe] 5 (1991), S. 13.

[3645] Tourismus Salzburg GmbH, Rubrik Presse, Mozart2006. http://www.salzburginfo.at.

[3647] [Bichsel 1969], zitiert nach: [LehmannA/Kuntz 1988], S. 329. Diese Abhandlung ist teilweise übernommen aus: [Kammerhofer-Aggermann 1993c].

[3649] [Kästner 1938], S. 123.

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