Von Anbeginn an war die technische Erschließung des Gebirges Gegenstand von Kontroversen. Doch die Begeisterung für die neuen Verkehrsmöglichkeiten und ihre skeptische Ablehnung sind gleichzeitige Phänomene. Denn während in den Alpen die ersten Seilbahnen fasziniert aufgenommen und als Vehikel einer neuen Bergerfahrung gefeiert wurden, sind die „echten” Bergsteiger der Gangbarmachung ihres einstmals exklusiven Erfahrungsraumes mit Scheu – wenn nicht Abscheu – begegnet: Zwei eng verwandte Spielformen moderner Alpenliebe – und ein schönes Beispiel für den beharrlichen Versuch, abgenutzter Unberührtheit zu entkommen.
Staunende Skepsis spricht aus den Zeilen, mit denen 1904 die „Mittheilungen” des Alpenvereins über Bergbahnpläne in den Alpen berichteten: Die „Wetterhorn-Bahn”, heißt es da, soll „den Höhenunterschied als ‚Aufzug', und zwar in einer neuen Form, als Drahtseilbahn an zum Teile freihängenden Drahtseilen überwinden. Angeblich hat man bereits mit dem Bau begonnen […].”[3667]
Diesem untersten Teil eines bis zum Gipfel des Wetterhorns geplanten Systems von „Aufzügen” war kein langes Dasein beschieden, bei seiner Eröffnung (1908) war zudem die Seilbahn von Bozen nach Kohlern als erste in den Alpen bereits erfolgreich in Betrieb. Und was in technischer Hinsicht nur als erfolgreiche Adaptierung einer bestehenden Materialseilbahn auf das Bozener Mittelgebirge für den Personenbetrieb erscheinen mag, leitete immerhin eine neue Epoche der Bergwahrnehmung ein. Denn die Gondeln dieser eigentlich ersten alpinen Seilschwebebahn verweisen bereits auf ein Phänomen, das für die ästhetische Erfahrung der Seilbahnfahrt in den folgenden Jahrzehnten bestimmend werden sollte. Sie erzwangen von den Passagieren den talgewandten Blick und beförderten diese mit dem Rücken zum Berg in die Höhe.
Lautlos schwebend ging es fortan bergauf. Eines der wenigen Zeugnisse einer Seilbahnfahrt aus der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg macht die Revolutionierung des Fahrterlebnisses deutlich, die Beschreibung einer Fahrt mit der 1912 eröffneten Lana- Vigiljochbahn: „Bequeme Wagen […] führen uns empor in die lichten Höhen. Nur das leise Surren der Seile zeigt die Fahrt an, und das Hinabsinken der hohen Träger, das Winzigwerden aller Dinge da unten mahnt an die Höhe, die der Wagen scheinbar ganz ohne irgend eine Arbeit erklimmt.”[3668]
Doch der hier beschriebene Naturgenuss zählt in den Anfängen keinesfalls zu den Selbstverständlichkeiten einer Seilbahnfahrt, zu sehr standen die Sorge um die Sicherheit und wohl auch Angst im Vordergrund. Das hielt jedoch Städte, Gemeinden und Gesellschaften nicht davon ab, eine ganze Reihe von neuen Seilbahnprojekten ins Auge zu fassen, die allerdings alle dem Ersten Weltkrieg zum Opfer fielen.
Erst 1926 konnten wieder Seilbahnbauten realisiert werden, jetzt aber in rascher Folge und einem regelrechten Boom folgend. Mit dem im Gebirgskrieg an der Dolomitenfront entwickelten System Bleichert-Zuegg wurde die Seilschwebebahn zum alpinen Massenverkehrsmittel nun auch konsequent in die Überlegungen zur Belebung des Fremdenverkehrs einbezogen. Die Projekte sollten das touristische Angebot erweitern und gleichzeitig der Arbeits- und Auftragsbeschaffung dienen. Dieser doppelte Nutzen hat dann auch die mehrfachen Symbolqualitäten der Seilbahn als einer alpinen Fortschrittschiffre geschärft. Eine 1925 erschienene und reich illustrierte Broschüre warb beispielhaft für die Vorzüge des Baus der Rax-Seilbahn. Sie enthält bereits das komplette Inventar der sich erst entwickelnden Seilbahnmythologie und verknüpft weitreichende nationale Hoffnungen mit dem stolzen Bauwerk: „Schon in wenigen Monaten werden die ersten Wagen lautlos zur Höhe schweben und dem Auslande einen neuen Beweis dafür geben, daß Österreich nichts unversucht läßt, um aus eigener Kraft wieder emporzukommen, und daß dieses Land dem Fremden wirklich Hervorragendes an Schönem und Fesselndem zu bieten vermag."[3669]
Die mit den Seilbahnbauten verbundenen Erwartungen scheinen sehr direkt mit den medialen Eigenarten des frühen Seilbahnerlebnisses zusammenzuhängen. Die Schilderungen von Bergfahrten beschreiben vor allem die neue Erfahrung von Raum und Zeit, die Wahrnehmung der raschen Wechsel der Ausblicke und Panoramen: „,Glückliche Bergfahrt!' rufen die Zurückgebliebenen. – Ein letztes Winken, und schon hebt die Luftreise an. Im Wagen herrscht Schweigen. Die Blicke suchen durch die Kabinenfenster die entschwindende Stadt – Berge, Seen – unsere schöne Alpenwelt. Auch die grundlos Ängstlichen wollen, wenn auch zunächst zaghaft, die Wunder schauen, die sich in stets wechselnder Pracht und ungeahnter Weite unter uns ausbreiten. […] Das Auge muß flink sein, um hüben und drüben die stets wechselnden Bilder zu erfassen. […] Wir werden zwischen Himmel und Erde Zeuge einer seltsamen Begegnung. Hurtig eilt der zu Tal gleitende Wagen vorüber, sein Tempo ist auch das unsrige. Kaum gegrüßt, schon gemieden, schwebt unser Luftfahrzeug in einer senkrechten Höhe von 170 m über der zerklüfteten Kesselbachschlucht. Nun gehts mitten hinein in die an malerischen Szenen reiche Alpenlandschaft […].”[3670]
Das Schema ist meist dasselbe, und die in den Fünfzigern geprägte Alliteration „Schweben und Schauen und Seligsein” könnte über der oben zitierten Beschreibung einer Fahrt mit der Predigtstuhlbahn (1928) genauso stehen wie über den zahlreich überlieferten kürzeren oder längeren Prosatexten einer Rax-, Zugspitz-, Pfänder-, Hafelekar- oder Schmittenhöhefahrt. Gemeinsam ist dieser „Gebrauchsliteratur”, dass die Fahrt „wie im Fluge” vergeht und dass die Ankunft bei der Bergstation unvermittelt und noch inmitten staunenden Schauens geschieht. Das Tempo der Fahrt scheint sich zudem auf das Tempo der Wahrnehmung und selbst auf das Tempo der Sprache zu übertragen: Gelegentlich erscheinen die Texte wie die Montage unvollendeter Wahrnehmungen. „Durch die Geschwindigkeit”, resümiert der Kulturhistoriker Wolfgang Schivelbusch für den panoramatischen Blick der Eisenbahnreisenden, „wird also eine erhöhte Anzahl von Eindrücken hervorgerufen, mit denen der Gesichtssinn fertig werden muß”; bei der Seilbahnfahrt scheint diese Erfahrung durch die Vertikalgeschwindigkeit und den erhöhten Standort noch gesteigert. Der Vordergrund tritt noch weiter zurück, der flugähnliche Aufstieg wird als Aneinanderreihung von in Dynamik geratenen Hintergründen wahrgenommen.
Neben der Luftfahrt wird die Seilbahnfahrt als die am meisten entmaterialisierte Form der Fortbewegung aufgefasst. Das Gefühl des lautlosen, ferngeleiteten Schwebens rückt die Seilbahn wiederum in die Nähe der medialen Reisesurrogate des 19. Jahrhunderts. Das Einfahren in die Landschaft wird wie der Eintritt in eines jener Alpen- und anderen Panoramen empfunden, die wie die kleinen Vergnügungsbähnchen aus den Anfängen des Seilbahnwesens die Besucher von Ausstellungen und Volksbelustigungen mit ungekannten Illusionen konfrontierten. Die Herkunft des Seilbahnsehens aus den neuen Medien findet ihre Bestätigung in den Assoziationen an die „bewegten Bilder” der Kinematographie: „Es sind nicht zehn Panoramen, die sich uns erschließen, es sind tausend, es sind unendlich viele. Landschaft ist auf einmal kein stilles Bild mehr, nichts Ruhendes, Beharrendes, kein lyrisches Gedicht. Sie ist Geschehen geworden, Bewegung, Aktion und Kampf. Landschaft als Handlung! Landschaft als Drama!”[3671]
Nachvollziehbar werden die virtuelle Dimension der Fahrt und das entmaterialisierte Erleben in der Schilderung der durchfahrenen unterschiedlichen Vegetationsgürtel, Jahres- und Tageszeiten: „Trunken und tief erregt vom vogelhaften Schauen mag man dann [1926 bei einer abendlichen Fahrt auf die Zugspitze, B.T.] rasch den Abstieg nehmen und rasch in den blauen Abend hinunterschweben, im Nu aus dem Schnee in den tropisch schwülen Juliabend des Tals, im Nu aus dem Blick über die starrblauen Abendberge hinunter in ihre Schatten, von einem rätselhaften Triumphgefühl der Ueberwindung aller Gegensätze erfüllt […].”[3672]
Diese Erweiterung des Horizonts und der touristischen Möglichkeiten ist das meistbestaunte Moment einer Seilbahnfahrt und in der Folge naturgemäß auch ein beliebtes Argument für den Bau weiterer Bahnen. Wenn ein Berichterstatter über die Pfänderbahn ausrief, „glückliche Bregenzer, die fortan jeden halbwegs sonnigen Tag, jede Stunde ausnützen können, um den Nebeln der Tiefe zu entfliehen und hier oben im Lichte herumzuspazieren”[3673], dann mischen sich unter die Bewunderung für die neuen Möglichkeiten der Technik freilich jene aus dem älteren Alpinismus bekannten zivilisationskritischen Fluchtmotive. Auch das zeitgenössische „Erlebnis der Fahrt” mit der Innsbrucker Nordkettenbahn beginnt 1928 mit dem „Film der Stadt”, mit der Schilderung des „schier großstädtischen Verkehr(s)” in der Innsbrucker Maria- Theresien-Straße, um dann in der Losung zu enden: „Empor, und zwar sofort!”[3674]
Wie die Seilbahn ein Kind der technischen Moderne ist, so sind die in den Text- und Bilddiskursen ihrer frühen Jahre mitgelieferten Gebrauchsanleitungen nicht nur Antriebswellen im Modernisierungsgefüge, sondern bereits Funktionen einer radikal modernen Ästhetisierung der Natur. Hundert Jahre früher noch war es selbst für den bereits romantisch geschulten Postkutschenreisenden ein Gefühl sicheren Glücks, in der Stadt anzukommen, die Tore zu passieren und in einem Gasthof abzusteigen, der die Zeitungen und Mahlzeiten offerierte, mit denen man von Zuhause vertraut war: Das Reisen konfrontierte ausreichend mit Fremdem und Unvertrautem, man sehnte sich nach so genannter Zivilisation. Jetzt hat sich die Perspektive gewendet, „aus grauer Städte Mauern” fühlte man sich hinausgezogen, man suchte das ästhetische Erleben in der Wildnis einer – technisch gebändigten – Natur.
Und überhaupt zeigt sich bei genauerem Hinsehen, dass die Ästhetik der Seilbahnfahrt zwar auf die neuen Formen der Wahrnehmung baut, in der Ordnung und Beschreibung der Eindrücke aber immer wieder auf den Kanon altvertrauter Motive des klassischen Alpinismus zurückgreift. Neben den „eskapistischen”, zivilisationskritischen und stadtflüchtigen, Tendenzen findet selbst noch – das Medium legt solches nahe – die alte Aufstiegsmetapher von der geistigen Hebung des Bergansteigenden ihre Fortsetzung. Übernommen wird auch das bei der Wiedergabe „überwältigender Panoramen” hilfreiche Motiv der Belebung der Gebirgsnatur. Hatte schon der Alpinismus, also das Vordringen in bis dahin unbekannte Höhen, mit Unvertrautem konfrontiert, so musste der rasche und unbeschwerliche Anstieg einer Seilbahnfahrt erst recht zunächst einmal seine „Sprache” finden. Wirkliche Hilflosigkeit verbirgt sich wohl hinter manchem heute befremdlich anmutenden Topos, und fast neigt man dazu, jenem Besucher des Pfänders aus den dreißiger Jahren Glauben zu schenken, der sich „mit einemmal auf der Höhe stehen und wie hilflos die Augen schweifen lassen” sah, „nicht wissend, wie man in diese Fülle von überwältigenden Eindrücken Ordnung bringen kann”.
Dass eine solche, zumindest seit der Mitte des 19. Jahrhunderts hochidealisierte Erfahrung durch die Mittel der Technik plötzlich allgemein gemacht werden sollte, fand naturgemäß den Widerspruch der eingeschworenen Alpinisten. Dabei geht es um weit mehr als um die Angst vor dem Verlust angestammter Bergeinsamkeit. Vielmehr scheint der Anstieg ohne Schweiß und ohne Anstrengung die in jahrzehntelanger alpinistischer Praxis und Selbstvergewisserung mühsam definierten idealen Motive außer Kraft zu setzen: „In feierlichen ‚Entschließungen' der Hauptversammlungen, in Protestversammlungen, in Schrift und Wort, in Eingaben an die Regierungen hat der D. und Ö. Alpenverein den Bau von Bergbahnen im Hochgebirge bekämpft. Er hat diesen Kampf geführt nicht allein aus Gründen des Naturschutzes […], auch aus dem Grunde der Reinhaltung der Bergesgipfel von dem Publikum, das diese Aufzüge in Massen hinaufbringen und das zu den Gipfelfelsen paßt, wie die Faust auf das Auge. Der ruheliebende Bergsteiger meidet daher heute diese Gipfel (s. Zugspitze), sie sind ihm, der auf dem Gipfel die Erhabenheit und Ruhe der Natur sucht, verekelt."[3675]
Die alpinen Vereine gehen – wie hier in einer Stellungnahme 1929 – in ihrer Kritik vor allem mit den Skisportlern besonders hart ins Gericht – „denn so fällt jede Anstrengung weg, es bleibt rein nur das Vergnügen der Abfahrt, der ‚Sport' und der Genuß der Höhensonne” heißt es. Ansonsten steht bei Besuchern von Seilbahnbergen meist die um den Preis des Verlustes eines individuellen Erlebnisses erkaufte Popularisierung im Mittelpunkt der Kritik. Wenn dann etwa Kurt Tucholsky 1926 über einen Ausflug auf die Zugspitze, „eine Plattitüde von dreitausend Metern”, lakonisch vom letzten Anstieg „zum noch unasphaltierten Gipfel” berichtet, dann kann es nicht nur keinen schärferen Gegensatz zu den idealisierten Mühen des Aufstiegs geben, sondern auch kaum eine bessere Charakterisierung alpiner Kulturkritik: „Grammophon mit Schinkensemmeln” und „Ansichtskarte” kontra tradierte Rede von der heiligen Einsamkeit der Berge.
Im weitesten Sinne ästhetisch – im Sinne nämlich der Erhaltung eines idealen Bildes alpiner Naturlandschaft – argumentierte auch der in den zwanziger Jahren zu einer mächtigen Kulturbewegung angewachsene Heimatschutz. „Die Störungen der Natur durch die Seil-Schwebebahnen sind im Vergleich zu den früheren Bergbahnsystemen als außerordentlich verringerte zu bezeichnen, ja sie sind bei schonender Rücksichtnahme auf die Natur […] auch absolut genommen oft so geringfügig, daß man auch bei Kenntnis der Lage der Bergbahn ihr Vorhandensein völlig übersehen kann. […] Die Gittermaste haben ein so leichtes Gefüge […]. Sie verschwinden völlig im Gelände.”[3676]
Konnte sich etwa in Österreich der Verband der Heimatschutzvereine mit Rücksichtnahme auf die für die junge Republik immer wichtigere Tourismuswirtschaft mit Seilschwebebahnen gerade noch arrangieren, so machten den Heimatschützern vor allem nachfolgende Hotelanlagen auf den Gipfeln und damit das vielgeschmähte „Bergbahn-Publikum” Angst: „Leute, die alpiner Art sehr ferne stehen und eine Verdrängung der wirklichen Turisten bedeuten”, schließlich die „Verpflanzung großstädtischer Umweltformen.” Eindringlich formulierte man daher die Warnung: „Das Uebertragen der Formen großstädtischer Abendunterhaltung in die Bergwelt ist schlechthin ekelhaft”[3677]. Aber aus der Ambivalenz der Haltungen heraus beschloss man, vom Einspruchsrecht nicht grundsätzlich Gebrauch machen zu wollen, und stattdessen zu versuchen, Seilbahnbauten von nicht ohnehin bereits gut besuchten Bergen fernzuhalten. Wie im gesamten Wirkungskreis des Heimatschutzes tendierte man dabei zu „angemessener Ausführung”, anstatt Projekte grundsätzlich zu bekämpfen. Farblich angepasste Gittermasten – keinesfalls Betonmasten, Mitsprache bei der Gestaltung der Stationsgebäude – Einhaltung bestimmter Form- und Materialzitate: Das war die neue heimatschützerische Doktrin, wie sie bald auch in die Praxis umgesetzt wurde. Entschieden indes verwehrte man sich gegen „snobistische Unternehmen”, wie man es etwa in einer möglichen Erschließung des Glockner- oder Venedigergipfels erkennen wollte. Da hätte man dann doch im Unterschied zu manchem Aussichtsberg das nationale Naturerbe gefährdet gesehen.
Was die architektonische Lösung der Bauaufgabe Seilbahn betraf, war die Sorge des organisierten Heimatschutzes unbegründet, mit der Planung wurden nämlich fast durchwegs dem Heimatschutz eng verbundene Architekten beauftragt: In Bregenz war das Willibald Braun, für die Innsbrucker Nordkettenbahn Franz Baumann, für die Patscherkofelbahn dortselbst Hans Feßler – und fast ein Jahrzehnt später Clemens Holzmeister für die Galzigbahn in St. Anton.
Gerade die Bauten Baumanns rund um die Innsbrucker Seegrube zählen zu den konsequentesten Lösungen modernen Bauens im Gebirge. Sie können als Hinweis darauf verstanden werden, wie Symbole formuliert werden, im Ausspielen der Dialektik von Natur und Technik. Anders gesagt: die von einem Zeitgenossen einmal als „Brücke in die Urwelt” bezeichnete Bergbahn verdankt ihre Rolle als alpine Fortschrittsmetapher nicht zuletzt dem scheinbaren Gegensatz von menschlicher Zivilisation und urgewaltiger Natur – in den Stationsbauten hat er seinen sichtbaren Ausdruck gefunden. Die Durchwirkung von „heimatlicher Natur” und „heimatlichem Menschenwerk” – wie die beiden Säulen des nationalen Ästhetisierungsprogrammes der Heimatschutzbewegung formuliert wurden – fügte sich dementsprechend glatt und unwidersprochen in die kollektive Wahrnehmungspraxis, und Seilbahnen wurden zum festen Bestandteil „alpiner Landschaften”. Betrachtet man die Bildbände, Diapositivserien oder selbst die Reihen der einschlägigen Schulwandtafeln aus den dreißiger bis sechziger Jahren, läßt sich die Geschichte erahnen: Es sind Erzählungen von der Moderne in den Alpen, Erzählungen von den Leistungen heimischen Pioniergeistes.
Für einen Zeitraum von drei bis vier Jahrzehnten war die Seilbahn die am meisten benützte Chiffre des Fortschritts im Gebirge. Sie konfrontierte die traditionelle Ästhetik des Wilden und Erhabenen in einem bis dahin nicht gekannten Maße mit Mechanismen des „neuen Sehens”. Wenn dabei die Denk- und Wahrnehmungsgewohnheiten zunächst nur zögerlich mit den Eindrücken zurecht kommen, bleibt doch die Medialisierung des Alpenerlebnisses unübersehbar. Dieser Modernität – der Geschwindigkeit und dem Eindruck einer schwerelos erlebten Natur – verdankt sich letztlich die Bedeutung der Seilbahn für die Formierung einer spezifisch alpinen Berg- und Fortschrittssymbolik, in Österreich sogar ihre Rolle für die Betonung einer modernen Nationalkultur.
Die Seilbahnunternehmen indes sind – offensichtlich in Einvernehmen mit ihrem Publikum – gerade darangegangen, aus der Kulturgeschichte der Seilbahnfahrt einen neuen Mythos zu wirken: In Kitzbühel, Bregenz und anderswo entstehen Seilbahnmuseen, auf der Zugspitze werden Ausstellungen gezeigt, Großfotos aus der Pionierzeit des Seilbahnwesens helfen die Wartezeiten in den Stationen zu verkürzen, und historische Gondeln werden zum musealen Aufputz der Parkplätze und Skiflächen. In Innsbruck wurde in Zusammenarbeit mit dem Denkmalamt das gesamte Ensemble der Nordkettenbahn einer behutsam das verlorengegangene Image aufmöbelnden Restaurierung unterzogen; und ein junger Unternehmer träumt davon, nach einigen technischen Verbesserungen diese als „stadtnahe Kulturbahn” positionieren zu können.
Die Modernisierung zeigt hier ihre doppelte Konsequenz: sie lässt Relikte anfallen; und sie verlangt nach deutender Sinnstiftung. Die kleinen Erzählungen und Erlebnispräparate, die wir inzwischen zunehmend in und um die Seilbahnzentren aufgetischt bekommen, wollen dabei behilflich sein. Was als Veränderung erfahren und als spezifischer Fortschritt reflektiert wird, fassen sie in Worte und Bilder – und neuerdings auch wieder in Architektur. So steht auch die Gegenwart im Zeichen eines di der Alpen beklagt wird, ist – und das heute bloß rasch und unmittelbar erscheinend – in ihren Zauber integriert.
Verwendete Literatur:
[Allgeuer 1998] Allgeuer, Wolfgang: Seilbahnen und Schlepplifte in Vorarlberg. Ihre Geschichte in Entwicklungsschritten. Graz 1998.
[JohlerR/Nikitsch/Tschofen 1995] Johler, Reinhard; Nikitsch, Herbert; Tschofen, Bernhard (Hg.); Feurstein, Michaela (Red.): Schönes Österreich. Heimatschutz zwischen Ästhetik und Ideologie. [Sonderausstellung, 26. Oktober 1995 bis 25. Februar 1996. Begleitbuch und Katalog]. Wien 1995 (Kataloge des Österreichischen Museums für Volkskunde 65).
[Luger/Rest 2002] Luger, Kurt; Rest, Franz (Hg.): Der Alpentourismus. Entwicklungspotentiale im Spannungsfeld von Kultur, Ökonomie und Ökologie. Innsbruck [u. a.] 2002.
[Schivelbusch 1989] Schivelbusch, Wolfgang: Geschichte der Eisenbahnreise. Zur Industrialisierung von Raum und Zeit im 19. Jahrhundert. 2. Aufl. Frankfurt am Main 1989.
[Stremlow 1998] Stremlow, Matthias: Die Alpen aus der Untersicht. Von der Verheißung der nahen Fremde zur Sportarena. Kontinuität und Wandel von Alpenbildern seit 1700. Diss. Zürich 1998. Bern [u. a.] 1998.
[Tschofen 1999] Tschofen, Bernhard: Berg – Kultur – Moderne. Volkskundliches aus den Alpen. Wien 1999.
[Virilio 1992] Virilio, Paul: Rasender Stillstand. München [u. a.] 1992.
[3666] Frühere Fassungen dieses Textes sind veröffentlicht unter: [Tschofen 2001a], sowie unter [Tschofen 1996].
[3667] [Mitteilungen des Deutschen und Oesterreichischen Alpenvereins]. 20/14 (1904), S. 172.
[3668] [Vigiljoch [1913]], S. 5.
[3669] [Seilschwebebahn 1925], S. 36.
[3670] [Niedermeier [1928]], S. 17–20.
[3671] [Vogath 1957], S. 9.
[3675] [Moriggl 1929], hier S. 341.
[3676] Bundesdenkmalamt Wien. Archiv. Heimatschutz, K. 8/F. 7. „Bergbahnen“. Sitzungsprotokoll (19. Mai 1926) des Verbandes Österreichischer Heimatschutzvereine, S. 3f.
[3677] Bundesdenkmalamt Wien. Archiv. Heimatschutz, K. 8/F. 7. „Bergbahnen“. Sitzungsprotokoll (19. Mai 1926) des Verbandes Österreichischer Heimatschutzvereine, S. 12.