Der Inhalt des hier besprochenen Schatzkästleins einer oberbayerischen Bäuerin enthält im Wesentlichen drei Sorten von Objekten:
Goldmünzen, die sichtlich als Wertanlage für die Kinder gesammelt wurden und auch in den für diese bestimmten Laden – unmissverständlich – aufbewahrt wurden. Sie dienten als ein sicheres und unantastbares Erbe nach der Mutter.
Dinge des religiösen Kultes, die allesamt auch einen Erinnerungswert besitzen. Es sind Mitbringsel (eigene sowie als Geschenk erhaltene, das lässt sich hier nicht nachprüfen; Gnadenpfennige, Heiligenbilder) von Wallfahrten, Geschenke zu besonderen Anlässen (etwa die Klosterarbeiten) und wohl auch Erinnerungen an die Eltern (Weihbrunnkesseldeckel; also der Rest eines nicht mehr existenten Gefäßes, das selbst oder über die Erinnerung an liebe Menschen hoch geachtet wurde).
Liebesgaben sind der dritte Bereich. Zu ihnen gehören die seidenen Bänder, möglicherweise ein Kirtagsangebinde eines Verehrers und die Neidfeige, die hier als inoffizielles Verlobungsgeschenk beschrieben wird.
Aus der Darstellung des Schmuckkästchens müssen wir annehmen, dass kostbarere Schmuckstücke – vielleicht eine Kropfkette oder Ringe – bereits von den Erben und Erbinnen entnommen worden waren.
Die Volkskunde der Jahrhundertwende hat Schmuck fast ausschließlich unter dem Aspekt des Amulettes und nicht unter jenem des Schmückens oder Repräsentierens betrachtet, was auch in dieser Darstellung zum Ausdruck kommt.
Im Wörterbuch für Volkskunde findet sich zum Amulett der Hinweis, dass es häufig als Analogiezauber (Gleiches mit Gleichem bzw. Ähnliches mit Ähnlichem vertreiben oder abwehren) verwendet wird und magischen Schutz verleihen soll. Die Wirksamkeit des Amulettes soll besonders groß sein, wenn dieses als Geschenk erworben wurde.
Die Neidfeige (Verschreifeige, lat. Fica) – die obszöne Geste der Aufforderung zum unfreiwilligen Geschlechtsverkehr und damit als Geste der Schmach – ist seit der Antike bekannt und in Südeuropa allgegenwärtig. Sie hat sich im Alpenraum, besonders in Österreich und Deutschland (erste Erwähnung in Deutschland 1178) weithin verbreitet und bis heute als Amulett erhalten. Dort wird sie an Halsbändern von Kindern, Miederschnüren der Bräute und Frauen, ja sogar an Rosenkränzen getragen und soll den bösen Blick bannen.[4999]
„In meiner Heimat im Isarwinkel, verfertigen die sogen. Kistler in Tölz kleine Schränkchen mit Geheimfächern, aus Holz, zum Teil mit imitierter Intarsien-Arbeit bemalt oder mit der buntfarbigen Blumenmalerei (blau, rot und weiss) ausgestattet, wie sie Architekt Zell in München in seinem Werke Oberbayerische Bauernmöbel so vortrefflich wiedergegeben hat [( …)].[5001] Nicht jedermann ist es vergönnt, einen neugierigen Blick in die verschiedenen Abteilungen eines solchen Holzschränkleins werfen zu dürfen. Bei der Verteilung der Erbschaft einer alten Weberswitwe zu Tölz, die eine Bauerstochter vom ‚Wasensteiner am Rieschenhof‘ war, hatte ich Gelegenheit dazu, diese bäuerlichen Separanda und Intima zu sehen. Das darin befindlich gewesene Goldgeld war natürlich schon längst unter die lachenden Erben verteilt; aber ein gut von Mädchenhand mit Bleistift geschriebener Zettel gab Aufschluss darüber, dass darin 581 Gulden in Gold verborgen gewesen waren und wie schwer jedes Goldstück sein sollte. Jedes Schublädchen gehörte für je 2 Kinder der Rieschenbäuerin am Wasenstein, deren Namen aussen fein säuberlich aufgemalt waren; die oberste für Georg und Jakob, die zweite für Michael und Marie, die dritte für Anna und Katharina, die letzte für die zukünftigen, noch zu erwartenden Kinder.
Die Silberringe, Brustgeschmeide und Taufgelder waren nicht mehr darin zu finden; aber 2 Lotterie-Zettel aus dem Jahre 1861, die noch 49 Jahre die Hoffnung erwecken durften, dass die auf Ambo gesetzten Zahlen 6, 65 und 23, 56 einen Gewinn von 13 fl. 30 Kr., bezw. 18 fl. erhebbar machen liessen. Obwohl die Lotterie schon längst aufgehoben war, konnte sich die Erblasserin doch nicht von dem Reize der Hoffnung auf diesen Gewinn trennen. Messingene Gnadenpfennige, Klosterfrauen-Stickereien, Wachs-Heiligenbilder, gemusterte Seidenbänder, das hölzerne Auge der hl. Dreifaltigkeit, ein zinnerner Weihbrunnenkessel-Deckel; diese mit dem religiös-christlichen Kulte zusammenhängenden Gegenstände waren ebenso sorgfältig bewahrt gewesen als das hexenabwehrende ‚Palmkätzel‘ und die sogen. ‚Feige‘, die einst der Bursch ihr (der Bauerstochter) als Angebinde und Anfrage zugleich geschenkt hatte. Schickt das altbayerische Bauernmädchen ihrem Bewerber die silberne oder beinerne Miniatur-Feige wieder zurück, so ist’s aus mit allen Annäherungsversuchen; schickt es aber als Gegengabe ein silbernes ‚Herz‘ (…), dann ist die gegenseitige Zustimmung sicher; es trägt dann der Bursche das Herz an der Uhrkette, das Mädchen die ‚Feige‘ (ein Arm mit geschlossener Hand, wobei der Daumen zwischen dem Zeige- und Mittelfinger durchgesteckt ist, …) am Brustgeschnür. Da es in unserem Falle nur beinern, nicht silbern war, so wurde es von den Erben im Schatzkästlein belassen.
Der Gebrauch der Feigengeste ist wohl aus Italien nach Oberbayern und vermutlich nach ganz Deutschland gedrungen[5002]; … – Palmkätzchen am Hochzeitstage in der Tasche getragen sind ein Mittel gegen eheliches Unglück und Zauber, ebenso wie die Korallen und die Feige am Brustgeschnür.“
[4999] Wörterbuch der Deutschen Volkskunde. Beründet von Oswald A. Erich und Richard Beitl (1948) bearbeitet von Richard und Klaus Beitl. Stuttgart, 3. Auflage 1974, S. 20 und S. 209.
[5000] Höfler, M.: Was das Schatzkästlein einer oberbayerischen Bäuerin enthält. In: Weinhold, Karl (Hg.): Zeitschrift des Vereins für Volkskunde. Neue Folge der Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft. Jg. 10. Berlin 1900, S. 448–449.
[5001] Anmerkung im Original: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde. Neue Folge der Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft. Berlin 1899, S. 344.
[5002] Anmerkung im Original: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde. Neue Folge der Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft. Berlin 1893, S. 26. – Höfler, Max: Volksmedizin und Aberglaube in Oberbayerns Gegenwart und Vergangenheit. Neue Ausg. München 1893, S. 195. – Schmeller, Johann Andreas: Bayerisches Wörterbuch. Sonderausgabe der von Karl Frommen bearbeiteten 2. Ausgabe München 1872–1877. Bd. 1/1. München 1985, Sp. 697. – Höfler, Max: Deutsches Krankheitsnamen-Buch. Nachdruck der Ausgabe München 1899. Hildesheim 1970, S. 127 unter Feige 5. – Über das Palmkätzl siehe: Zeitschrift des Vereins für Volkskunde. Neue Folge der Zeitschrift für Völkerpsychologie und Sprachwissenschaft. Berlin 1898, S. 226 und S. 445. – Wuttke § 196: vermutlich: Wuttke, Adolf: Der deutsche Volksglaube der Gegenwart. Berlin 1900, § 196. – Allgemeine Zeitung 1896. 29./III. No. 88.