Die Kluft zwischen Verfechtern der Tracht und Anhängern ihrer modischen Varianten ist nicht älter als die Bestrebungen, dem ursprünglichen „heimischen Gewand“ seinen verlorenen Platz zurück zu gewinnen. Seither wogen die Kämpfe hin und her, heißen die Anklagen „Verrat“ von der einen und „verknöcherte Gestrigkeit“ von der anderen Seite mit jenem Mangel an Toleranz, wie er seit je das fragwürdige Privileg von Glaubenskämpfen war. An der Front der Brauchtumspfleger und Heimatschützer wird dabei außer acht gelassen, was Tracht ihrem Wesen nach war, wie sie dazu wurde und unter welchen Bedingungen sie sich lebendig erhielt, während die Gegenseite – weniger streitbar und missionarisch – an die Stelle eherner Überzeugungen die Anerkennung der gewandelten Verhältnisse ins Treffen führt. Daß solche Wortgefechte am Ende nur die Oberfläche berühren und nicht zum Kern vordringen, wird den wenigsten bewußt.
Die verdienstvollen Wegbereiter der Trachtenerneuerung, deren Früchte sehr deutlich wahrzunehmen sind, hätten kaum Erfolg gehabt, wären sie mit unabdingbaren Forderungen an Unverfälschtheit, mit Echtheitsdogmen angetreten. Wer wollte heute ein Dirndl, einen Spenzer, einen Wetterfleck, einen Lodenjanker oder eine Lederhose behaglich tragen, stünde er damit als museales Relikt, als exotisches Exemplar aus einem Festumzug oder gar als kerniger Vertreter einer erzkonservativen Weltanschauung da? Gar nicht zu reden von der Zumutung, im Berufsleben, im Verkehr von heute, in den selbstverständlich gewordenen Ansprüchen an die problemlose Pflege der Kleidungsstücke an den frühen Formen festzuhalten.
Was sich durch Generationen in einer bestimmten Landschaft aus den „urtrachtlichen“ Kleidungsstücken zu einem Gewand mit unterscheidbaren Merkmalen entwickelte, hatte seine Wurzeln in den klimatischen Bedingungen, in den wirtschaftlichen Voraussetzungen, in der sozialen Zuordnung. Eine ständisch gegliederte Gesellschaft legte Wert auf die Erkennbarkeit dieser „Standesunterschiede“; und nicht selten stieg mit der wirtschaftlichen Prosperität das anfänglich „verordnete“ Gewand zu einem stolz getragenen auf, dessen Schmuck auch diesen Aufstieg deutlich zur Schau trug. Die Einflüsse der Mode, die in den Städten und den höfischen Kreisen den Ton angab, drangen mit Verspätung auch in die ländlichen Bereiche vor, was sich an Details der Marktbürger- und der bäuerlichen Festtrachten so klar ablesen läßt wie die Vorbilder aus dem Uniformwesen an der Männerkleidung.
Reglementierende „Kleiderordnungen“, mit denen gegen Mißbrauch und Putzsucht zu Felde gezogen wurde, gehören ebenso der Vergangenheit an wie die verfestigten Standesunterschiede. Wer unverrückbar am Alten festhalten möchte, müßte erst für sich selbst definieren, an welche Epoche er sich halten will, weil ja die Tracht eben auch nicht so unverrückbar beharrlich blieb. Mit neuen textilen Techniken, die allenthalben die Eigenerzeugung im bäuerlichen Haushalt ablösten, mit der Industrialisierung, die subtile Handarbeit zunehmend unerschwinglicher machte, vollzog sich auch auf diesem Felde ein allmählicher Wandel. Was kunstvoll von Hand hergestellt werden muß, wie ein klassisches Mieder mit prächtiger Auszier, hatte zu allen Zeiten seinen Preis. Dazu wird sich auch heute nur entschließen, wer die zeitlose Schönheit solcher Kleidung höher einschätzt als das Mithalten mit der kurzlebigen Mode; aber nicht unbedingt an ihrer Stelle. Das Dirndl und die Lederhose stellen solche Ansprüche nicht, sie trotzen denn auch allen Stilquerelen unter Experten und Glaubensstreitern. Gerade mit solchen programmatischen Einengungen aber wird ein natürlicher, unverkrampfter Umgang mit jenem Erbe, das uns aus der Tracht blieb, eher verhindert als gefördert.
Formen, Farben, Muster, wie sie von der Trachtenmode aufgenommen und international angenommen wurden, kommen dem Bedürfnis vieler, vor allem junger Menschen entgegen, sich flott und leger zu kleiden. Man muß „Folklore“ nicht gleich zum Schimpfwort degradieren, wenn auch unter dieser Flagge manches mitsegelt (nicht nur auf dem Gebiet der Tracht), wovon der Kenner sich mit Grausen wendet. Es mag eine neue Beziehung stiften, die zu immer kritischerem, empfindlicherem Umgang führen kann, wenn dieses reiche Reservoir nicht allzu engherzig beschränkt wird. Die vielfach zu beobachtende Bevorzugung natürlichen Materials vor den diversen Kunstfasern läßt Baumwolle und Leinen, Loden und Wolle neuen Anwert gewinnen. Auch das Leder hat in der Sportkleidung beispielsweise seine Liebhaber, man muß nicht gleich alles Einschlägige mit dem Rocker-Etikett versehen. Über das Material aber führt auch ein Weg zu seiner anspruchsvollen Verarbeitung.
Kollektionen der letzten Jahre haben in der Sport- und Trachtenmode viel Qualität angeboten, die sich als ein gefälliges Bindeglied zwischen Mode und Tracht erweist. Die bunt bedruckten oder gewebten Röcke lassen schier unendliche Kombinationen zu den sportlichen oder verspielten Blusen, die leinene „Pfoad“ hat sich ein breites Feld erobert, die erlesenen Druckmuster auf Baumwoll- oder Seidentüchern fügen sich nicht nur zur Tracht als schmeichelnde Ergänzung. Mag mancher die Nase rümpfen, wenn er ein schön geschnittenes Leinenhemd oder eine bestickte Bluse mit Jeans zusammengespannt sieht (ich nehme mich da keineswegs aus), so ist es doch ein Ansatz von der gängigen Alltagsuniformität zu einem individuellen Stück. Geschmack ist bekanntlich kein taugliches Streitthema, wohl aber Qualität.
Wenn es eine fruchtbare und legitime Wechselwirkung zwischen Mode und Tracht gibt, so endet sie freilich unweigerlich dort, wo sich Pseudoprodukte geschäftstüchtig als „echt“ anpreisen. Anleihen beim alten Leiblrock, die mit Perlonblusen voll aufdringlicher Spitzen und mit grell oder üppig bestickten Schürzen in Chemiefarben den Anspruch erheben, als Tracht zu gelten, kann niemand ernstlich verteidigen. Aber dagegen wirkt wohl nur, was auch anderwärts gilt: Aufklärung und Beispiel, nicht in moralistischer Predigerpose oder feindseliger Kritik, sondern im selbstverständlichen Umgang mit dem Unanfechtbaren. Das Bewährte wird sich am Ende auch hier durchsetzen, wie es in immer neuen, kleineren oder größeren Varianten überlebt hat. Was den Kaiser Maximilian vor rund einem halben Jahrtausend bewog, zur Jagd in den Tiroler Bergen dem Volk abzuschauen, wie es sich zweckmäßig kleidete, das war gewiß nicht die Absicht, Standesunterschiede einzuebnen. Aber die Jäger von heute halten es nicht viel anders als er. Und wenn uns vor alten Bildern die Lust anwandelt, einmal so hübsch und vorteilhaft und phantasievoll gekleidet zu sein im Gegensatz zur sachlichen Note unserer Tage, so gibt uns die Tracht, gibt uns das farbenfrohe, der Figur schmeichelnde Dirndl die Gelegenheit dazu, ohne daß wir uns wie auf einem Kostümfest fühlen müssen, auch wenn wir erst den Umweg über eine rüschenbesetzte Bluse und einen Rock mit Folkloremustern einschlagen.
[5105] Zeitschrift „Salzburger Heimatpflege“, 11. Jg., Heft 1, März 1987, S. 63–68. Abdruck mit freundlicher Genehmigung des Forschungsinstuts Brenner-Archiv der Universität Salzburg.