Das „Wilde Gjoad“ ist seit dem Advent 1949 ein fixer Bestandteil im Salzburger Brauchtumskalender. Die Gruppe besteht aus zwölf Maskenfiguren, die Gestalten aus der Sagenwelt rund um den Untersberg verkörpern: Moosweibl, Untersberger Hexe, Riese Abfalter, Tod, Rabe, Hahnengickerl, Percht (Vorgeher), Waldteufel, Bär und Bärentreiber, Habergoaß und Saurüssel. Am zweiten Donnerstag im Advent erscheinen die vermummten Gestalten mit Fackel- und Musikbegleitung in einer der Gemeinden im Nahbereich des Untersberges.
Bei der Gestaltung des Laufes werden einige Punkte verpflichtend eingehalten, um das „Wilde Gjoad“ als „Brauch“ erscheinen zu lassen. Dazu gehören die jährliche Durchführung am zweiten oder dritten Donnerstag im Advent, das überraschende Erscheinen ohne öffentliche Ankündigung, die Festlegung auf die „heilige Zwölfzahl“ bei den Maskenträgern, ein geregelter Ablauf mit symbolhaften Handlungselementen und der Verzicht auf Spendenbettelei.
Das „Wilde Gjoad“-Laufen ist keine „Wiederbelebung“ eines alten Brauches, sondern neues Brauchtum. Werner Dürnberger hatte die Inspiration dazu und lieferte die Entwürfe für die zwölf Maskengestalten. Kuno Brandauer steuerte den ideologischen Hintergrund bei: Er vermengte Elemente der Anklöpfelbräuche mit den Untersbergsagen und versah das Ganze mit einem, seiner Volkstumsideologie entstammenden Sinngehalt. Aus verschiedenen Brauchelementen wie Lärm, Glücksspruch, Tanz und Reverenzerweisung konstruierte Kuno Brandauer den Brauchablauf. Die Volkstanzgruppe „Jung Alpenland“ sorgte für die Umsetzung. Dennoch hat das „Wilde Gjoad“ nur sehr bedingt etwas mit den von Gewährsleuten erwähnten Umzügen zur Adventzeit zu tun. Es gibt aus dieser Zeit keine Quellen, die davon berichten, dass das „Wilde Gjoad“ mimisch dargestellt worden wäre.
Es ist der Gruppe „Jung Alpenland“ zuzuschreiben, dass sich das „Wilde Gjoad“-Laufen über 50 Jahre in annähernd unveränderter Form erhalten konnte. Die erste Führungscrew der Gruppe, Edwin Vogel und Michael Nußdorfer, die Kuno Brandauers Glaubenssätze übernahm, war von deren Richtigkeit überzeugt. Das „Wilde Gjoad“ erweist sich somit als Paradefall einer auf volkskundlichem Dilettantismus (laienhafte Beschäftigung) basierenden, von einer Gruppe zum Vereinszweck erhobenen und ideologisch ausgerichteten Brauchtumspflege.
Kuno Brandauer leitet die Herkunft des Brauches über die zwölf Maskengestalten her. Aus dem „Perchtenkult“ ging für ihn zum einen die Trestererform hervor. Zum anderen haben der „Vorgeher“ mit dem Vorgeherstock (gleichbedeutend der Pongauer Vorpercht), „Bär und Bärentreiber“ und der „Waldteufel“ eine Entsprechung in den Perchtenzügen. Sie erscheinen ihm als „mythische Urgestalten“ wie auch im Perchtenzug des Gebirges.
Aus dem Sagenkreis des Untersberges kommen der „Tod“, der mit seiner Trommel den Geisterzug anführt, das „Moosweibl“, das der Sage nach von der Meute des Wilden Jägers in der Luft zerrissen wird, die Untersberger Hex (die Brandauer als Nachfahrin der Untersberger Wildfrauen sieht), der „Riese Abfalter“ (ein Urriese und Untersbergbewohner) und der sagenhafte „Rabe“ vom Untersberg, der den schlafenden Kaiser Karl am Tag des Weltuntergangs zu wecken hat. Als allgemeine Brauchgestalten des Flachgaues sieht Brandauer die „Habergoaß mit Treiber“, den „Saurüssel“ (eine Gestalt mit einem Schweinskopf, für ihn Symbol des „heiligen Ebers der Rauhnachtszeit“) und den „Hahnengickerl“, der in der Untersbergsage den Anfang und Schluss jedes Zaubers anzukündigen hatte.
Der Untersberg bildet den mythischen Hintergrund für das „Wilde Gjoad“-Laufen. Das zentrale Sagenmotiv ist der auf seine Wiederkunft wartende Kaiser (Karl der Große, Friedrich Barbarossa oder Karl V.). Der „Wunderberg“ ist Kristallisationspunkt für eine Reihe volkstümlicher Glaubensvorstellungen und mythischer Erzählungen, in denen die sogenannten „Untersberger“ in Gestalt von Riesen, Wilden Frauen und Männern, Moosweibchen oder Hexen erscheinen. Mehrfach findet man in den Salzburger Sagenbüchern auch Geschichten vom Wilden Jäger und von der Wilden Jagd.
Bei der „Wilden Jagd“ handelt es sich um die in der Schlacht gefallenen Krieger, die immer wieder aufgeweckt werden, um weiter zu kämpfen. Im Volksglauben der germanischen Völker ist der Anführer des Totenheeres der oberste Gott Wotan (Odin). Daneben erscheint auch noch Frau Bercht (Percht) als Anführerin einer dämonischen Totenschar in den Zwölf Nächten (Raunächten). Ihr Gefolge besteht aus den ungetauft verstorbenen Kindern. Die Bercht besitzt soziale Kontrollfunktion: Sie überwacht den Arbeitseifer, achtet auf die Einhaltung des Arbeitsverbotes und auf Reinlichkeit. Im Gegensatz zu Wotan existiert die Bercht nicht nur in der Vorstellungswelt, sondern erscheint seit der christlichen Frühzeit als katechetische Maskengestalt. Ihr ambivalentes, schön-hässliches Erscheinungsbild erlebte während des 19. Jahrhunderts im Land Salzburg in den Perchtenumzügen folkloristische Ausprägung.
Maskenumzüge bzw. „Sagen vom Totenheer“ dienten in den 1930er-Jahren der sogenannten Wiener Männerbundschule als „Nachweis der Beständigkeit germanischer Gesittung“ vom Altertum bis in die Gegenwart und zur ideologischen Theoriebildung vom Weiterleben germanischer Sozialformen. Der „Mythos“ wurde zu einer Funktion des Brauchtums, zu einem geistigen Niederschlag männerbündischer Kulthandlungen erklärt. Nur die im „Bund“ vereinigten, wehrhaften Männer, die „exklusiven“ Kriegergemeinschaften (Harlekine, Werwölfe) seien die wahren Träger und Schöpfer des „geistigen Urquelles“, der sich ihnen in den ekstatischen (rauschhaften) Verwandlungsriten offenbare.
Otto Höfler, der wichtigste Vertreter der Männerbundschule, bediente sich zur Konstruktion des Weiterlebens germanischer Männerbünde im gegenwärtigen Brauchtum. Unbewiesene Behauptungen „bewies“ er durch oft weit verstreute und unzusammenhängende Belege. Die besondere Art und Weise des „germanischen (deutschen) Kultus“ führte er auf die genetischen Anlagen zurück. Seine Interessensschwerpunkte, die er in seiner Volks- und Altertumskunde wählte, betrafen den Kernbereich der SS-Ideologie: die Stärkung des „germanischen Selbstbewusstseins“ mittels einer Kontinuitätslehre und die Verklärung der Männerbünde und ihrer Schöpferkraft. Ähnliche Ansichten vertrat auch Richard Wolfram, der ab 1938 Leiter der „Lehr- und Forschungsstätte für germanisch-deutsche Volkskunde“ in Salzburg war. Einer seiner engsten Mitarbeiter und wichtigsten Gewährspersonen war Kuno Brandauer, der damit zu einem Bindeglied und Vermittler zwischen völkischer Wissenschaft und praktischer Volkstumsarbeit wurde.
Am Beginn der „Pflege der Volkskultur“ standen die Bemühungen um die Erhaltung von Tracht und Brauch. 1910/11 kam es zur Bildung eines Sonderausschusses des Salzburger Landtages „betreffend Förderung und Hebung der Salzburger Eigenart in Tracht, Sitten und Gebräuchen“. In Personalunion mit dem Ausschuss des Salzburger Heimatschutzverbandes für „Sitte, Tracht und Brauch“ schuf Karl Adrian die entsprechenden Grundlagen für die Brauchtumspflege. Nach 1918 standen die Bestrebungen unter dem Leitgedanken der Heimatpflege und der Bildung eines nationalen Selbstbewusstseins. Viktor Geramb hatte mit seinem Konzept der „Wiederbelebung“ und „Pflege“ traditionellen Brauchtums große Vorbildwirkung. Im Bemühen um die „Bewahrung der Eigenart“ machten sich nun aber auch völkische und rassistische Töne bemerkbar. Der Ideologie des Nationalsozialismus war damit Tür und Tor geöffnet.
Kuno Brandauer war zunächst als Schriftführer, ab 1932 als Obmann im Landesverband und ab 1939 für den Gauverband tätig. Nach dem Krieg außer Dienst gestellt, wurde Brandauer 1948 wieder mit der Leitung des Referates für Heimatpflege im Amt der Salzburger Landesregierung betraut. Brandauer konnte demnach gleich nach dem Krieg ungebrochen dort weitermachen, wo er in den 1930er-Jahren und während des Krieges ideologisch tätig war. In diese Anfangsphase, die vom gleichen Geist getragen war wie die Jahre zuvor, fällt die Einführung des „Wilden Gjoads“.
Bereits Lorenz Hübner erwähnt in seiner Beschreibung des Erzstiftes Salzburg aus dem Jahr 1796 das Anklöckeln. Obwohl von der Obrigkeit verboten, wurde der Brauch weiterhin ausgeübt. Den großen Variantenreichtum des Anklöckelns in Salzburg beschreibt Karl Adrian: Im Pinzgau zogen die Anklöckler an den Donnerstagen des Adventes von Gehöft zu Gehöft, um dort ihre Anklöckelsprüche und -lieder zu singen. Varianten des „Glöckelns“ gab es in der Umgebung von Hallein sowie im nördlichen Flachgau und im ehemaligen salzburgischen Anteil in Bayern. Das Auftreten eines „Wilden Gjoads“ wird bei Adrian nie erwähnt. Vermutlich handelte es sich bei jenen Umzügen, die laut Leopold Brandauer noch um 1880 stattfanden, um eine Variante der Anklöckelbräuche.
Auch Richard Wolfram gibt einen Überblick über die Gegenwartsform der Anklöckelbräuche und unterzieht sie einer Brauchdeutung, um daraus den „ursprünglichen Sinn“ zu erschließen. Bei den Formen, deren Verbreitung er auch kartografisch umsetzt, unterscheidet er das „Anklöckeln“, das „Glöcklngehen“ und das „Glöcklerlaufen“. Eine Gewährsperson Wolframs war Kuno Brandauer, dessen Aussagen er kritiklos übernahm, ohne zu merken (oder merken zu wollen), dass es sich beim „Wilden Gjoad“ um einen erfundenen Brauch handelt. Bedenken kamen ihm erst viel später.
Die christliche Grundlage des Brauches war lange zu wenig wahrgenommen worden, obwohl mehrere Berichte der reformatorischen Zeit das Anklöckeln als deutlich religiös gekennzeichnet hatten. An den „heiligen“ Klöpfelnächten wurde denen, die den Anklopfenden die Türe öffneten, Glück und Heil zuteil. Daher freuten sich die Leute über das Erscheinen der Anklöckler. Das hat dann nichts mit germanischem Vegetationskult zu tun, sondern mit christlicher Erwartung: „Klopft an, Klopft an, der Himmel hat sich aufgetan.“
Seit über 50 Jahren ist das „Wilde Gjoad“-Laufen ein fixer Bestandteil im Salzburger Brauchtumskalender. Initiiert von der Volkstanzgruppe „Jung Alpenland“, trat das „Wilde Gjoad“ erstmals im Advent 1949 auf. Seither erscheinen die vermummten Gestalten mit Fackel- und Musikbegleitung jedes Jahr am zweiten Donnerstag im Advent in einer der Gemeinden im Nahbereich des Untersberges. Dieses sogenannte „Wilde Gjoad“ besteht aus zwölf Maskenfiguren, die Gestalten aus der Sagenwelt rund um den Untersberg verkörpern: das Moosweibl, die Untersberger Hexe, der Riese Abfalter, der Tod, der Rabe, der Hahnengickerl, die Percht (Vorgeher), der Waldteufel, Bär und Bärentreiber, die Habergoaß und der Saurüssel. Ihr Auftreten erfolgt nach einer mit Bedacht gewählten Choreografie:
„So läuft die Gruppe jeweils zu einigen Bauernhöfen, die als Heimstätte für die Erhaltung alten Väterbrauches bekannt sind; sie kommt, nur durch Trommelwirbel gemeldet, zum Hof, nach dem sie mit ihren Fackelträgern (oder Trägerinnen) im Dorfe nur durch das Bellen der aufgeschreckten Hunde begrüßt worden war (Die Gendarmerie mußte vorher wegen ‚nächtlicher Ruhestörung‘ freilich verständigt werden). Der aufgesuchte Hausherr steht mit seiner Familie vor der Haustür, die wilden Gesellen sind im Halbkreis gereiht, der ‚Hahnengickerl‘ zeigt durch lautes Krähen den Beginn des Treibens an, worauf der ‚Vorgeher‘ den überlieferten Spruch ruft: ‚Glück herein, Unglück hinaus, es zieht das Wilde Gjoad ums Haus!‘ Mit Gebrüll und Gekreisch stürmen die Läufer ums Haus, laufen den Dirndeln und der Nachkommenschaft des Bauern nach, einige dringen noch ins Vorhaus ein, besonders die ‚Habergeiß‘ ist in ihrem Element. Ein dreimaliger Trommelschlag ruft alle wieder zusammen vor dem Eingang, es erfolgt die ‚Reverenz‘; die Klarinetten der begleitenden Musiker spielen eine Tresterermelodie und die Masken tanzen im Kreise nach Überlieferung den alten Reigen; den Abschluß bildet hiebei das Niederwerfen aller Tänzer, die symbolisch die Erde küssen. Nach einem abschließenden Trommelwirbel bedankt sich meist der Bauer, die Bäuerin gibt oft eine Zehrung mit, und die Schar zieht zur nächsten Heimsuchung. Wenn es die Verhältnisse gestatten, versammeln sich die Läufer am Schluß zur Maskenablage und zu einem gemütlichen Ausklang und Gespräch noch in einer gastfreundlichen Bauernstube.“[1587]
Von Anfang an war es den Ausübenden ein Anliegen, ihrem Tun einen lokalen Bezugspunkt und einen traditionellen Anstrich zu verleihen, um das „Wilde Gjoad“ als „Brauch“ erscheinen zu lassen. Für die Gestaltung des Laufes wurde die Einhaltung folgender Punkte zur Verpflichtung erhoben: die jährliche Durchführung am zweiten oder dritten Donnerstag im Advent, das überraschende Erscheinen in einer der Ortschaften im Umkreis des Untersberges, daher keine öffentliche Ankündigung, die Festlegung auf die „heilige Zwölfzahl“ bei den Maskenträgern, der geregelte Ablauf mit seinen symbolhaften Handlungselementen wie der Tanzform eines Tresterers und der Ehrung (Reverenz) vor den aufgesuchten Hausleuten, denen hiedurch Glück und Fruchtbarkeit ins Haus und Feld gebracht und jeder „Unreim“ abgehalten werden soll, Verzicht auf Spendenbettelei.[1588]
Zur Rechtfertigung für das „Wilde Jagd“-Laufen beruft man sich auf mündliche Aussagen einstiger Teilnehmer, die zuletzt noch um 1880 in Anif-Hellbrunn (dem Geburtsort Kuno Brandauers) an adventlichen Umzügen teilgenommen haben.[1589] Aber um welche Art von Umzügen handelte es sich damals? Traten damals schon die Masken des „Wilden Gjoads“ auf? Kann hier also von einer Wiederbelebung eines Brauches gesprochen werden oder handelt es sich um neues Brauchtum?
Das „Wilde Gjoad“ verdankt zwei Männern und einer Institution seine Existenz: Werner Dürnberger, Kuno Brandauer und der Volkstanzgruppe „Jung Alpenland“. Ersterer hatte die Inspiration, von ihm stammen die Entwürfe für die Maskengestalten; Kuno Brandauer lieferte das „wissenschaftliche“ Know-how und das ideologische Unterfutter; „Jung Alpenland“ sorgte für die Umsetzung. Werner Dürnberger (Jg. 1925) besuchte im Anschluss an die Pflichtschule die „Meisterschule des Deutschen Handwerks“, die nachmalige Kunstgewerbeschule (und vor der NS-Zeit Gewerbeschule) in Salzburg, wo er eine Ausbildung in Bildhauerei und Malerei erhielt. In dieser Zeit kam es auch zu einer ersten Begegnung mit Kuno Brandauer, der an dieser Schule Volkskunde unterrichtete. Nach dem Krieg erlernte Werner Dürnberger den Beruf des Dekorationsmalers, den er in den folgenden Jahren im Landestheater und beim berühmten Salzburger Marionettentheater ausübte. Daneben schuf er aber auch zahlreiche volkstümliche Kunstwerke, vor allem Schützenscheiben für die Salzburger Armbrustschützengesellschaften am Mönchsberg und in Bundschuh.
Wie Werner Dürnberger im Interview[1590] meint, sei er durch seinen Vater, der zu seiner Zeit ein bekannter Historienmaler und Buchillustrator war, künstlerisch vorbelastet. Obwohl der Vater bereits starb, als Werner Dürnberger zehn Monate alt war, hinterließ er doch eine Anzahl von Entwurfs- und Skizzenblättern, die den Knaben beeindruckten. Darunter fanden sich auch Zeichnungen von Untersberger Sagengestalten wie dem Moosmandl und dem Riesen Abfalter. An diese Illustrationen erinnerte er sich nach dem Krieg, aus dem er als Zwanzigjähriger glücklich heimgekehrt war. Sie ließen in ihm den Wunsch wach werden, den mythischen Figuren der Untersbergsagen auch Leben einzuhauchen. Seit seiner Schulzeit hatte ihn vor allem die Sage vom Wilden Heer fasziniert. Diese seine vorerst noch unausgereifte Idee einer spielhaften Umsetzung der „Wilden Jagd“ trug er im Kreis der Volkstanzgruppe „Jung Alpenland“ vor, der er sich 1947 – ein Jahr nach ihrer Gründung – angeschlossen hatte. Nun traf es sich, dass der Vortänzer von „Jung Alpenland“, Edi Vogel, der Schwiegersohn Kuno Brandauers war, an den sich die beiden nun wandten. Kuno Brandauer nahm diesen Plan begeistert auf,[1591] erinnerte er sich doch noch, wie sein Vater Leopold Brandauer (1865–1947) erzählt hatte, dass er als junger Mensch bei einem nächtlichen Lauf im Advent dabei gewesen war.
Gestützt auf diese mündliche Quelle und in Kenntnis der Überlieferungen über die Klöpfelbräuche, die Karl Adrian in seinem Buch „Von Salzburger Sitt’ und Brauch“[1592] gibt, konstruierte Kuno Brandauer aus verschiedenen Brauchelementen wie Lärm, Glückspruch, Tanz und Reverenzerweisung jenen zuvor beschriebenen spezifischen Brauchablauf und versah das Ganze mit einem speziellen, seiner eigenen Volkstumsideologie entstammenden Sinngehalt. Dazu schuf nun Werner Dürnberger in Anlehnung an die Skizzen seines Vaters und mit dem volkskundlichen Wissen Kuno Brandauers jene zwölf Maskengestalten, die dem „Wilden Gjoad“ ihr unverwechselbares Gepräge geben. Kuno Brandauer liefert dazu die Erklärung:[1593]
„Die 12 Masken deuten die Herkunft des Brauches an:
a) aus dem Perchtenkult, auch die Trestererform blieb vielleicht als Überrest (Pinzgau-Berchtesgaden) erhalten. Der ‚Vorgeher‘ mit dem Vorgeherstocke, gleichbedeutend der pongauischen Vorpercht. ‚Bär und Bärentreiber‘ erscheinen als mythische Urgestalten gleichfalls im Perchtenzug des Gebirges, ebenso das mit Moos (Mies) eingehüllte ‚Baummanndl‘. Der mit Holzrinden umkleidete ‚Waldteufel‘ ist als Waldmann das lebende Symbol des Holzes.
b) aus dem Sagenkreis des Untersberges: Vom Untersberg her zieht ja die Wilde Jagd in den Herbst- und Winterstürmen übers Moos (Torfmoor), wo viele Sagen noch vom Wilden Jäger und seinen Genossen erzählen; der ‚Tod‘ führt mit seiner Trommel den Geisterzug an. In der alten Bedeutung sucht er die Heimstätten der Nachfahren auf, um zu sehen, ob Haus und Hof in Ordnung und Zucht gehalten werden, allenfalls zu strafen (altes Rügegericht); er ist schließlich noch die restliche Überlieferung der Bedeutung des Totenzuges mit dem Schimmelreiter (Wodan). Die ‚Untersberger Hexe‘ und Nachfahrin der Untersberger Wildfrauen, der lokalen Sagengestalten, zugleich eine Schwester der Pongauer Hexen. Das ‚Moosweibl‘, das der Sage nach von der Meute des Wilden Jägers in der Luft zerrissen wird – ein blutendes Stück des armen Moosweibels hängt dann an der Haustür des Bauern, der den geisterhaften Zug der Wilden Jagd mit offenen Augen verfolgen wagte. Der Riese ‚Abfalter‘, ein Urriese und Untersbergbewohner, der vom Gosleifelsen herab Felsblöcke ins Hochmoor schleuderte, um sich einen Weg zu seinem Liebchen drüber der Salzach zu bahnen, wo am Fuße des Gaisberges die Ortschaft Abfalter liegt (Abfalter-Apfelbaum, ter-tree, mit goldenen Äpfeln statt der ungefügen Felsbrocken?). Der sagenhafte Rabe vom Untersberg, der den schlafenden Kaiser Karl am Weltuntergange zu wecken hat.
c) Als allgemeine Brauchtumsgestalten des Flachgaues sind mitverbunden: die ‚Habergoaß mit Treiber‘, die auch im Fasching noch mitläuft und mit den Flachgauer Aperschlazern zieht, auch bei Volksspielen zur Erntezeit (Habergeiß mit der Wortwurzel caper für Bock, wie, im Haberfeldtreiben – Caperfell = Bockshaut – das alte ‚Bockshäuteln‘ der Innviertler, schließlich waren auch die altgriechischen Tragödien ursprünglich ‚Bockssänger‘ des Dionysos). Der ‚Saurüssel‘, eine Gestalt mit einem Schweinskopfe, Symbol des ehemals heiligen Ebers der Rauhnachtszeit; ein kleiner versilberter Eber – manchmal noch mit vergoldeten Borsten – wurde von Bauern im Untersberggefilde, Grödig-Niederalm, zur Biedermeierzeit noch am Uhrgehänge getragen. Der ‚Hahnengickel‘ hat auch noch in der Untersbergsage den Anfang und Schluß jeden Zaubers anzukündigen.“[1594]
Die Premiere fand 1949 statt und zwar zur eigenen Überraschung von Kuno Brandauer in dessen Garten und anschließend in Anif. Kuno Brandauer hatte nämlich die Parole ausgegeben, den Auftrittsort des „Wilden Gjoads“ geheim zu halten, um damit seine „Echtheit“ zu unterstreichen. Seit dieser Zeit wird das „Wilde Gjoad“-Laufen von der Volkstanzgruppe „Jung Alpenland“ jedes Jahr am zweiten Donnerstag im Advent ohne öffentliche Ankündigung in einer der Gemeinden rund um den Untersberg durchgeführt. Diese 1946 gegründete Volkstanzgruppe hatte sich nämlich von Anfang an „die Pflege des Brauchtums“ an die Fahne geheftet. Zu diesem Zweck fanden sich laut Kuno Brandauer junge Menschen, die sich „für den Brauch wieder nur um seiner selbst willen begeisterten und ihn demgemäß auch nur einem zweckbedingten, engen ‚Interessenkreis‘ zeigen wollten. Von den Teilnehmern wurde also selbstlose Heimatfreude verlangt, von den Zuschauern Verständnis für den Sinn und Wert dieses Väterbrauches im Weichbild unseres Untersberges, den schon Volkssagen vergilbter Jahrhunderte Wunderberg zu benennen liebten.“[1595]
Entgegen der von Kuno Brandauer vertretenen und an die Akteure wie an die „eingeweihte“ Öffentlichkeit ausgegebenen Parole, das „Wilde Gjoad“-Laufen sei eine „Wiederbelebung“ eines alten, echten Brauches, sei hier vorerst einmal festgehalten, dass es sich beim „Wilden Gjoad“ um eine Innovation handelt, um n e u e s Brauchtum.[1596] Denn das „Wilde Gjoad“ hat nur sehr bedingt etwas mit den von den Gewährsleuten erwähnten Umzügen zur Adventzeit zu tun. Es gibt aus dieser Zeit nämlich keine Quellen, die davon berichten, dass das „Wilde Gjoad“ mimisch dargestellt worden wäre. Im Zusammenwirken mit Werner Dürnberger und „Jung Alpenland“ vermengt Kuno Brandauer Elemente der Anklöpfelbräuche mit den Untersberger Sagen und unterstellt dem Ganzen einen geheimnisvollen, bedeutungsschweren, nur dem „Wissenden“ zugänglichen Sinngehalt. Kuno Brandauer, der sich aus den Hypothesen der Volks- und Altertumskunde der 30er-Jahre sein ideologisches Ideengebäude zusammenbastelt, stilisiert sich unter den Augen der Fachvertreter zu jenem „Brauchtumsexperten“, dem man glaubt, was er selbst über seine eigenen Erfindungen sagt, auch wenn es ein derartiger Unsinn ist, wie bei der Erklärung der Maskengestalten.
Immerhin ist es bemerkenswert, dass das „Wilde Gjoad“-Laufen sich über 50 Jahre in annähernd unveränderter Form erhalten konnte. Dies ist ohne Zweifel das „Verdienst“ der Gruppe „Jung Alpenland“ und deren Führungscrew (Edwin Vogel und Michael Nußdorfer), die Kuno Brandauers Glaubenssätze nicht nur übernahmen, sondern auch von ihrer Richtigkeit überzeugt waren. Das „Wilde Gjoad“ erweist sich somit als Paradefall einer auf volkskundlichem Dilettantismus basierenden, von einer Gruppe zum Vereinszweck erhobenen und ideologisch ausgerichteten Brauchtumspflege, die im Folgenden einer Analyse unterzogen werden soll.
Der Untersberg mit seinem zentralen Sagenmotiv vom entrückten und auf seine Wiederkunft wartenden Kaiser (Karl der Große, Friedrich Barbarossa oder Karl V.) bildet den mythischen Hintergrund für das „Wilde Gjoad“-Laufen.[1597] Der „Wunderberg“ ist nämlich Kristallisationspunkt für eine Reihe populärer Glaubensvorstellungen und mythischer Erzählungen, in denen die sogenannten „Untersberger“ in Gestalt von Riesen, Wilden Frauen und Männern, Moosweibchen oder Hexen erscheinen. Mehrfach findet man in den Salzburger Sagenbüchern auch Geschichten vom Wilden Jäger und von der Wilden Jagd (Wildes Gjoad, Wildes Heer, Wütendes Heer, Wuotesheer, Muotesheer) aufgezeichnet: So konnte sich ein Junggeselle aus Liefering nur dadurch vor dem mit Getöse daherbrausenden Geisterheer retten, indem er sich flach auf den Boden warf und Füße und Arme kreuzte. Oder man rettet sich durch ein „Vaterunser“ und ein „Ave“, wie es von der alten Bäuerin am Moos berichtet wurde, der als junges Mädchen in Glanegg die „Wilde Jagd“ erschien.
Bei der „Wilden Jagd“ handelt es sich um die in der Schlacht gefallenen Krieger, die, wie es in der „Snorra-Edda“ heißt, immer wieder aufgeweckt werden, um weiter zu kämpfen. Keine Frage, die Vorstellung eines durch die Lüfte jagenden Totenheeres ist religionsgeschichtlich sehr alt, allerdings keinesfalls nur auf die germanische Welt beschränkt.[1598] Schon die griechische und römische Antike (Herodot, gest. um 425 v. Chr., Plinius, gest. 79 n. Chr. und Pausanias, gest. um 190 n. Chr.) kennt die Vorstellungen von Geisterheeren. Ein typischer Zug, der zur Wilden Jagd gehört, ist die Figur des „Warners“, der die Entgegenkommenden auffordert, dem nächtlichen Zug aus dem Weg zu gehen. Im Volksglauben der germanischen Völker ist der Anführer des Totenheeres der oberste Gott Wotan.
Neben Wotan (Odin), auf dessen Schultern zwei Raben sitzen, erscheint auch noch Frau Bercht (Percht) als Anführerin einer dämonischen Totenschar in den Zwölf Nächten (Raunächten). Ihr Gefolge besteht aus den ungetauft verstorbenen Kindern. Die Bercht besitzt soziale Kontrollfunktion, denn sie bewacht den Arbeitseifer, achtet auf die Einhaltung des Arbeitsverbotes und auf Reinlichkeit. Andernfalls schneidet sie den Säumigen den Bauch auf. Um sie günstig zu stimmen, sollen Speisen für sie bereitgestellt werden. Im Gegensatz zu Wotan existiert die Bercht aber nicht nur in der Vorstellungswelt, sondern sie erscheint seit der christlichen Frühzeit auch als reale Maskengestalt.[1599] Ihr ambivalentes, schön-hässliches Erscheinungsbild, das der Kirche im Mittelalter als Gleichnis für die Sünde der Gefallsucht und Eitelkeit diente, erlebte während des 19. Jahrhunderts im Land Salzburg in den Perchtenumzügen folkloristische Ausprägung.
Derartige Maskenumzüge bzw. Sagen vom Totenheer dienten in den 1930er-Jahren der sogenannten Männerbundschule zum Nachweis der Kontinuität germanischer Gesittung vom Altertum bis in die Gegenwart und zur ideologischen Theoriebildung vom Weiterleben germanischer Sozialformen.[1600] Ihr wichtigster Vertreter war Otto Höfler (1901–1987) mit seiner Arbeit über „Kultische Geheimbünde der Germanen I“ (Frankfurt a. M. 1934) und mit dem Beitrag „Der germanische Totenkult und die Sagen vom Wilden Heer“,[1601] in dem er nochmals seinen Ansatz verteidigt. Im Gegensatz zu den „Mythologen“, die das Brauchtum als einen sekundären Ausfluss geistig-abstrakter Glaubensvorstellungen der Germanen sahen, hoben die „Ritualisten“ die kultisch-konkrete Seite des Germanischen hervor und erklärten den Mythos zu einer Funktion des Brauchtums, zu einem geistigen Niederschlag männerbündischer Kulthandlungen.[1602] Nur die Männer, und zwar die im „Bund“ vereinigten, wehrhaften Männer, die „exklusiven“ Kriegergemeinschaften (Harlekini, Werwölfe), seien die wahren Träger und Schöpfer des geistigen Urquells, der sich ihnen in den ekstatischen Verwandlungsriten offenbare. Den „Mittelpunkt germanischen Lebens“ bildet dabei der Totenkult.
Zum Nachweis des Weiterlebens germanischer Männerbünde im rezenten Brauchtum bedient sich Höfler der überaus zweifelhaften Methode des Zirkelschlusses, in dem er unbewiesene Behauptungen durch oft weit verstreute und unzusammenhängende Belege zu beweisen sucht.[1603] Höfler scheut sich nicht, seine Theorie biologisch-rassistisch zu fundieren, indem er die besondere Art und Weise des germanischen (deutschen) Kultus auf genetische Anlagen zurückführt. Höfler ließ keinen Zweifel daran, dass der nordeuropäischen Kultur der höchste Rang unter den Kulturen der Völker gebühre. „Die meisten Interessensschwerpunkte, die Höfler in seiner Volks- und Altertumskunde wählte, betrafen den Kernbereich der SS-Ideologie. Die Stärkung des ‚germanischen Selbstbewußtseins‘ (Höfler) mittels einer Kontinuitätslehre sowie die Verklärung der Männerbünde und ihrer Schöpferkraft standen jeweils im Vordergrund.“[1604]
Ähnliche Ansichten vertrat auch Richard Wolfram (1901–1995) in seinem Werk „Schwerttanz und Männerbund“ (Kassel, 1936/37, Lfg. 1–3). Wolfram war ab 1938 Leiter der „Lehr- und Forschungsstätte für germanisch-deutsche Volkskunde“, einer Stabsstelle des Ahnenerbes, in Salzburg.[1605] Einer der engsten Mitarbeiter und wichtigsten Gewährspersonen Wolframs war Kuno Brandauer, der damit zu einem Bindeglied und Vermittler zwischen der Wissenschaft und der praktischen Volkstumsarbeit wurde.[1606]
Die „Pflege der Volkskultur“ blickt in Salzburg auf eine lange Tradition zurück. Ihre Entwicklung, ihr geistiges Umfeld, die damit befassten Institutionen samt den maßgeblichen Personen waren in jüngster Zeit mehrfach Gegenstand der Untersuchung. Es sei hier daher nur in groben Zügen darauf eingegangen.[1607] Am Beginn standen die Bemühungen um die Erhaltung der Tracht.[1608] Diese erfolgten einerseits mit Rekurs auf das kaiserliche Vorbild, andererseits mit dem Hinweis auf die Bewahrung der nationalen Eigenart. Letzteres manifestierte sich in zahlreichen Alpinen Gesellschaften und Geselligkeitsvereinen.[1609] Zwischen Anspruch und Erscheinungsweise ergab sich jedoch eine immer stärkere Diskrepanz: Nicht nur, dass sich die Vereinsmitglieder immer stärker aus dem städtischen Milieu rekrutierten, entsprachen auch die bei den diversen Brauchvorführungen und Umzügen zur Schau gestellten Trachten immer weniger der Salzburger Tradition. So kam es in Salzburg bereits 1910/11 zur Bildung eines Sonderausschusses des Salzburger Landtages „betreffend Förderung und Hebung der Salzburger Eigenart in Tracht, Sitten und Gebräuchen“.[1610]
Neben der Trachtenpflege in der u. a. Leopold Brandauer (1865–1947) mit seinen Trachtendokumentationen und -entwürfen eine zentrale Stellung einnahm, galt das Augenmerk der Landeskommission ganz besonders auch der Brauchtumspflege.[1611] Diese Bemühungen trafen sich mit den Bestrebungen des 1912 gegründeten Österreichischen Heimatschutzverbandes, dessen vorrangiges Anliegen primär dem Denkmalschutz, dem Schutz des Orts- und des Landschaftsbildes und der Pflege einer landschaftsgerechten Bauweise galt.[1612] Die Statuten sahen allerdings auch dezidiert die „Erhaltung und Wiederbelebung volkstümlicher Art in Gerät, Tracht, Brauch und Musik“ vor. In dem dafür eingerichteten Ausschuss des Salzburger Heimatschutzverbandes für „Sitte, Tracht und Brauch“ entfaltete besonders der Lehrer und Volkskundler Karl Adrian (1861–1949) eine rege Tätigkeit.[1613]
Mit seinen Forschungen und Dokumentationen zum Salzburger Brauch und Volksschauspiel, die sich in einer Reihe von Publikationen niederschlugen, schuf er die entsprechenden Grundlagen für die Brauchtumspflege. „Adrian war“, wie es Friederike Prodinger ausdrückt, „auch praktisch überall mit Rat und Tat dabei, wo es um die Rettung alten Brauchtums, schöne Wiederbelebung, Schutz der alten Trachten und damit der Eigenart des Landes galt“.[1614] Nach dem Zusammenbruch der Monarchie standen die Bestrebungen unter dem Leitgedanken der Heimatpflege und der Bildung eines nationalen Selbstbewusstseins. Den im Heimatschutz engagierten Personen ging es um die Förderung von „Heimatliebe“ und um die Stärkung der „Vaterlandsliebe“. Diese ineinander übergehenden Motive gaben auch den ehemals lokal gebundenen, von eindeutig festgelegten Gruppen durchgeführten und mit bestimmten Zielen versehenen Bräuchen einen neuen Sinn. Sie waren nunmehr hochbewerteter Fundus für die Rekonstruktion eines kulturellen Erbes, das gleichzeitig auf regionaler und auf nationaler Ebene bestimmt wurde.[1615]
Adrians Recherchen nach dem „ursprünglichen Volksleben“ fanden in seinem Buch „Von Salzurger Sitt‘ und Brauch“ den wissenschaftlichen Niederschlag. Es steht in einer Reihe mit dem Werk von Viktor Geramb „Deutsches Brauchtum in Österreich“.[1616] Geramb entwickelte darin ein Konzept für die „Wiederbelebung“ und „Pflege“ traditionellen Brauchtums. Er übte damit eine kaum zu überschätzende Vorbildwirkung auf seine Zeitgenossen und Schüler aus, die seine Gedanken zum vielfach nachgeahmten Programm erhoben. Sein Credo lautete: „Du sollst neu gestalten, aber du sollst gut und so neu gestalten, daß es sich organisch aus dem besten Alten entfaltet.“[1617]
Im Bemühen um die Bewahrung der Eigenart machten sich jedoch unter den Proponenten dieser Bewegung, denen es um die Reinhaltung der Volksart zu tun war, völkische und rassistische Töne bemerkbar. Der Ideologie des Nationalsozialismus war damit Tür und Tor geöffnet. Einen Nährboden für die Verbreitung deutsch-nationalen Gedankengutes bildeten die zahlreichen Vereine. Wie die nationalsozialistische Infiltration in diesen Vereinen von 1923 an stetig zunahm und ab 1931 unüberhörbar wurde, wie dabei Brauch und Tracht zu Symbolen und Instrumenten der rassistischen Ideologie wurden, ist dem Beitrag von Ulrike Kammerhofer-Aggermann über „Volk in Tracht ist Macht“ zu entnehmen.[1618] 1926 wurde der „Landesverband der Trachten-, Schützenvereine und Musikkapellen“ gegründet, der sich zur Stoßtruppe für die „artgerechte“ Tracht entwickelte.
Kuno Brandauer (1895–1980) kam über seinen Vater Leopold Brandauer (1865–1947) sehr früh mit der Trachtenbewegung in Kontakt. „Altmeister“ Karl Adrian öffnete ihm den Weg zur Salzburger Landeskunde und Volkskultur, bei Leuten wie Wolfram fand seine Ideologie Bestätigung und wissenschaftliche Fundierung. Nachdem er im Landesverband zunächst als Schriftführer tätig gewesen war, brachte er es ab 1932 zu dessen Obmann.[1619] Als der Landesverband 1939 in einen Gauverband umgewandelt wurde, hieß der Leiter abermals Kuno Brandauer. Diese und alle anderen einschlägigen Institutionen unterstanden in Salzburg dem „Schutz“ der „Lehr- und Forschungsstätte für germanisch-deutsche Volkskunde“, einer Einrichtung des „Ahnenerbes“. Ihre Leitung hatte der Volkskundler Richard Wolfram inne. 1942 wurde Kuno Brandauer, der 1939 auch mit der Fachschaft „Brauchtumspflege“ im Gaukulturamt betraut und Salzburger Mitarbeiter der „Mittelstelle Deutsche Tracht“ (Innsbruck) war, Geschäftsführer des Heimatwerkes Salzburg, das dem Gauleiter und Reichsstatthalter direkt unterstellt war.[1620]
Nach dem Krieg wurde Kuno Brandauer zwar kurzfristig außer Dienst gestellt, doch schon 1948 wieder mit der Leitung des Referates für Heimatpflege im Amt der Salzburger Landesregierung betraut. Er erweckte den Landesverband der Heimatvereinigungen zu neuem Leben und gründete den Landesverband der Salzburger Musikkapellen. Gleichzeitig wurde er auch deren Obmann. Kuno Brandauer konnte demnach gleich nach dem Krieg ungebrochen dort weitermachen, wo er in den 30er-Jahren und während des Krieges ideologisch tätig war. In diese Anfangsphase, die vom gleichen Geist getragen war wie die Jahre zuvor, fällt die Einführung des „Wilden Gjoads“.[1621]
Karl Adrian erwähnt das Auftreten eines „Wilden Gjoads“ in seinem Werk mit keinem Wort.[1622] Das ist immerhin erstaunlich, da Adrian mit Leopold Brandauer ja gut bekannt war und er einen diesbezüglichen Hinweis sicher in seine Arbeit über das Anklöckeln aufgenommen oder ihm vermutlich einen eigenen Artikel gewidmet hätte. Wir dürfen daher annehmen, dass es den Brauch in der von Kuno Brandauer initiierten Form, wie auch in der von ihm unterlegten Sinndeutung nie gegeben hat. Bei jenen Umzügen, die laut Leopold Brandauer noch um 1880 stattfanden, handelt es sich offensichtlich um eine Variante der Anklöckelbräuche. Im Pongau etwa kündigten sich, laut Adrian, die Anklöckler schon von Weitem durch den Klang der Almglocken an. Sie stürmten in die Stube, wo sie musizierten, tanzten, hüpften und sprangen. Alle waren verkleidet und vermummt, sie sprachen kein Wort, um nicht erkannt zu werden. Da gab es zwei Brautleute, die sich recht gern hatten, einen Schleifer, einen Öltrager mit einem Geschirr voll Pechöl und einem Pinsel dazu, der es besonders auf die Weiberleut abgesehen hatte. Zu fürchten war auch der Rauchfangkehrer. Für ihre Darbietungen erhielten die Maskierten von der Bäuerin Äpfel, Schnaps und Brot.
Zu Recht verweist Adrian auf die Ähnlichkeit der Anklöcklerbräuche mit Perchtenumzügen hin. Er zitiert Marie Eysn, nach der im Pongau die Anklöckler nur schwer von den Perchten zu unterscheiden wären.[1623] Interessant ist vor allem aber sein Hinweis auf Lorenz Hübner, der in seiner Beschreibung des Erzstiftes Salzburg aus dem Jahr 1796 das Anklöckeln erwähnt.[1624] Obwohl von der Obrigkeit verboten, wurde es nach wie vor ausgeübt, denn Lorenz Hübner schreibt: „Unter die noch vorhandenen Volksgebräuche gehört auch das nun verbothene Schießen in den sogenannten Rauchnächten (in denen die Priester die Häuser zu beräuchern pflegen, z. b. am Thomasabend, am Christabend, und am Vorabend der heil. 3 Weisen), das Berchtenlaufen und das Anglöckeln. Man hält es für ein Vorzeichen eines fruchtbaren Jahres, wenn sich viele Anklöckler melden“. Im Gegensatz zu Eysn unterscheidet Hübner sehr wohl zwischen Berchtenlaufen und Anklöckeln. Zu Letzterem gehören als wesentliches Merkmal die „Glöcklersprüche“, von denen uns Lorenz Hübner einen aus der Gegend von Werfen überliefert. Nach der Begrüßungsformel und dem Öffnen der Haustür heißt es da:[1625]
„Wir wünschen dem Hauswirth viel Glück in das Haus, Das Unglück mueß weit über die Berge hinaus. Wir wünschen ihm Glück, wir wünschen ihm Seg‘n, Wir wünschen ihm fruchtbaren Thau und auch Reg‘n, Wir wünschen ihm Glück, wir wünschen ihm Heil, Damit ihm das Glück werd‘ alles zu Theil. So wünschen wir Glück ihm halt überall, Wir wünschen ihm Glück zu dem Vieh in dem Stall. Nun wollen wir das Wünsch‘n beschließ‘n, Es möchte dich Hauswirth das Los‘n verdrieß‘n.“
Karl Adrian vermeldet, dass auch im Pinzgau Frauen, Buben und Mädchen in den Donnerstagen des Advents als Anklöckler von Gehöft zu Gehöft zogen, um dort ihre uralten Anklöckelsprüche und -lieder zu singen. Vor dem Gesicht trugen sie eine Larve, auf dem Kopf eine Bischofsmütze oder sie verhüllten ihn ganz mit einem Tuch. Ihr bekanntester „Glöcklerspruch“ lautete:
„Klopf an, klopf an, dö Bäurin hat an schön Mann, sö geit ma an Huat voll Klotzn z‘ Lohn, wei i ihren Mann globt han, globt han.“
Dieser Spruch erinnert Karl Adrian unwillkürlich an die Klopfan-Lieder des 16. Jahrhunderts eines Hans Rosenplüt und Veit Stoß (!), die alle Segenswünsche für das neue Jahr enthalten. Von einer anderen Variante des „Glöckelns“ berichtet Adrian aus der Umgebung von Hallein. Dort waren es meist arme Leute, sehr häufig Kinder, die nach dem Vortrag eines frommen Spruchs um eine milde Gabe heischten. Hier schließt sich Adrian der Meinung Johann Andreas Schmellers an, der zu diesem Brauch schreibt:[1626] „Sollte es gar vielleicht von dem ehemaligen Gebrauch herstammen, nach welchem die Sundersiechen, zu gewissen Zeiten, besonders an den Quatembern (wovon die letzte in die Woche vor Weihnachten fällt) mit einer Klapper oder einem Glöcklein in den Ortschaften herumgehen und Almosen einsammeln durften? Es mag dieser Brauch auch eine Beziehung haben auf das in alten Weihnachtsliedern oft besungene, vergebliche Herumwandern und Anklopfen Josefs und Marias an den Häusern der hartherzigen Juden in Bethlehem, um eine Herberge zu finden!“
Und zur Bestätigung führt Karl Adrian an, dass besonders in früheren Zeiten das Anklöckeln in Hallein „Anhörbign“ hieß, welches Wort dem „Herbergsuchen“ entspricht, das in Hallein, besonders aber im gesamten Pinzgauer Unterinntal – als jüngere Braucherscheinung – geübt wird. Zuletzt erwähnt Adrian als dritte Form noch das „Kletzi-Kletzi“-Bitten der Kinder im nördlichen Flachgau und das „Anrollen“ im ehemaligen salzburgischen Anteil in Bayern, bei dem es zwischen den Burschen und den Hausleuten zu einem lustigen Rätselwettstreit kam. Aus den Darstellungen Karl Adrians wird deutlich, welch großen Variantenreichtum das Anklöckeln in Salzburg hatte. Hans Moser versucht hingegen anhand seiner archivalischen Forschungen im schwäbisch-bayrisch-fränkischen Gebiet die Entwicklung der „Klöpfelnachtbräuche“ aufzuzeigen.[1627] Dabei ist bemerkenswert, dass die Bräuche bei ihrer ersten gesicherten Erwähnung, als „Bosselnacht“ 1432 in Basel oder als „Knöpflinsnacht“ 1462 in Augsburg, bereits als bekannt vorausgesetzt werden. Ihr Auftauchen in den Quellen lässt erkennen, welche Stellung die Bräuche innerhalb bestimmter Epochen hatten und welchen Einwirkungen, negativen wie positiven, sie von außen her ausgesetzt waren.
Die ältesten gesicherten Belege über „Klöpfelnächte“ an den letzten drei Donnerstagen vor Weihnachten finden sich in sogenannten Losbüchern aus dem dritten Viertel des 15. Jahrhunderts. Das Anklopfen wurde als Glück und Heil für das kommende Jahr angesehen und entsprach vermutlich einem Orakelbrauch („Lösselnächte“ im Advent waren bis ins 19. Jahrhundert gebräuchlich und sind heute noch im allgemeinen Bewusstsein verankert). Es scheint nicht mit einem Gabenheischen verbunden gewesen zu sein. Daneben gab es aber auch den Brauch, mit „Klöpfelliedern“ oder „Klopfersprüchen“ vor die Häuser zu ziehen und um Gaben zu bitten. In diesem Zusammenhang verweist Moser ebenfalls auf die Nürnberger Meistersinger Hans Volz und Hans Rosenplüt aus dem 15. Jahrhundert.
Vom Beginn des 16. Jahrhunderts an liegen dann zahlreiche Nachrichten vor, die das Klopfengehen als typischen Heischebrauch darlegen. Eine Begründung für diese Beschenkung fehlt in den Quellen. Es war vermutlich eine selbstverständliche Sache, dass die Armen und Kinder an den drei Donnerstagnächten etwas bekamen. Schilderungen darüber findet man bei Johannes Bohemus (1520) und im „Weltbuch“ des Sebastian Franck (1534), wo es heißt: „Drey Dornstag vor Weinacht klopffen die maydlin vnnd knaben von hauß zu hauß / durch die statt an den thüren an / die zukunfft der Geburtt des Herrn verkündigende / unnd ein glückseliges jar den einwonern wünschende / darvon entpfahen sy von den haussessigen öpfel/ biren / nusß / vnnd auch pfenning zulon.“ Das Anklopfen ist in der Folge häufig im Zusammenhang mit Raufhändeln bezeugt, woraus man schließen kann, dass es zwei Brauchformen nebeneinander gegeben hat: eine, bei der heranwachsende Burschen oder Erwachsene oft auf ungebärdige Weise ihr Recht einforderten und bei Entgleisungen bestraft wurden, und eine andere, von Kindern und Schülern ausgeübt, die dafür belohnt wurden.
Die Bezeichnung „Klöpfelnächte“ war während des 16. und 17. Jahrhunderts jedenfalls zu einem festen kalendarischen Begriff geworden. In Anlehnung an das Bibelwort (Mt 7,7f) „Klopfet an, so wird euch aufgetan“ erfuhr der Brauch eine zunehmend fromme Auslegung. Als Anleitung dienten entsprechende Gebetsbüchlein und geistliche Schriften „Wie du Glücklich in den Klöpfelnächtn solltest anklopfen“. Andererseits bezeugen zahlreiche Belege, dass die „wilde“ Form des Anklöckelns zunehmend von der Obrigkeit verboten wurde, denn man sah darin abergläubische Praktiken. Besonders während der Aufklärung ergingen generelle Verbote gegen alle Arten von Bräuchen während der Adventzeit. Doch die Einstellung zu den Anklöpfelbräuchen erfährt am Beginn des 19. Jahrhunderts eine neuerliche Wende. Sie erwecken bei den Reisenden und in der Folge bei den Volkskundlern neues Interesse. Letztere bemühen sich auch um eine Deutung, wobei schließlich die Herleitung aus heidnischem Kult und Mythos die Oberhand gewinnt.
Während Hans Moser mit seiner Arbeit über die Klöpfelnachtbräuche ein Lehrbeispiel für eine diachrone Brauchforschung liefert, vermittelt uns Richard Wolfram, ohne die Arbeit von Hans Moser zu kennen, in seinem „2. Bericht von der Brauchtumsaufnahme im Lande Salzburg“ ein synchrones Bild vom „Anklöckeln im Salzburgischen“.[1628] Anhand umfangreicher Recherchen gibt Wolfram einen Überblick über die Gegenwartsform der Anklöckelbräuche und unterzieht sie auch einer Brauchdeutung, indem er die Bräuche in ihre Einzelzüge zerlegt, um daraus den ursprünglichen Sinn zu erschließen.
Bei den Formen, deren Verbreitung er auch kartografisch umsetzt,[1629] unterscheidet er das „Anklöckeln“, das „Glöcklngehen“ und das „Glöcklerlaufen“, das in Zinkenbach, St. Gilgen und seit 1929 in der Stadt Salzburg durchgeführt wird. Das „Glöcklngehen“ kommt nur im nördlichsten Zipfel des Flachgaues vor und findet, wie das „Glöcklerlaufen“, am Vorabend von Dreikönig statt. Mit Ausnahme des Lungaus kennt das ganze übrige Salzburg den Umzugsbrauch des „Anklöckelns“ an den Donnerstagen im Advent. Wolframs Interesse gilt dabei besonders den sogenannten „Lustigen“. Ihre Erscheinungsweise war von Ort zu Ort verschieden. Für Untertauern nennt Wolfram unter anderem den „Bajatzi“ als lustigen Vorläufer, das Brautpaar, einen Fotografen, Jäger und Wildschütz, den Gendarm, einen Scherenschleifer, einen Schuster, den Rauchfangkehrer, das „Salbweibl“, auch ein Krampus war dabei, ein Musikant spielte zum Tanz auf und das „Auskehrweibl“ kehrte zuletzt mit ihrem Besen alle wieder aus der Stube hinaus. Häufig war auch eine Habergeiß dabei. In der Gegend von Bischofshofen gehörten zur Gruppe der „Lustigen“ noch ein „Taxzapfenweibl“, ein „Moosmandl“, eine „Perchtenmaske“ und ein „Umdrahter“ (Verkehrter). (Diese naturmythischen Wesen übernimmt Brandauer für das „Wilde Gjoad“.)
Ähnlich wie Otto Höfler bedient sich Richard Wolfram im zweiten Teil seiner Arbeit der höchst unzulässigen Methode, den einzelnen Brauchelementen des Anklöckelns Bedeutungen zuzuweisen und diese durch andere, oft aus einem anderen Kontext genommene Beispiele zu untermauern, um damit den Ursprung und Sinn der Bräuche im germanischen Kult zu beweisen. In diesem Sinn untersucht er die Rolle des Donnerstages, der als Tag des Gottes Donar (Thor) gilt. Auf die Idee, dass die Donnerstage im Advent etwas mit dem christlichen Kalender zu tun haben könnten, kommt Wolfram nicht. Für ihn steht außer Frage, dass sich die Bedeutung des Donnerstages als Tag der Göttergestalt Donar (Thor) erschließt. Am Donnerstag sind die Geister unterwegs. In Krimml machte er „eine aufsehende Entdeckung“. Dort erzählte ihm 1947 ein Gewährsmann, „daß die Perchten ursprünglich Kapuzen und weiße Totenmasken hatten.“ Dies aber bedeutet, wie Wolfram folgert, eine höchst wichtige direkte Bestätigung für die Annahme, dass die Maskenläufer der Winterszeit einst das Totenheer verkörperten. So wie das Weiß die Jenseitigen kennzeichnet, so gilt auch Schwarz als Farbe des Todes. Was anderes konnte demnach der Rauchfangkehrer sein, der die Leute schwarz anzuschmieren versucht.
Richard Wolfram vertraut auch Kuno Brandauer als Gewährsperson, dem er die Kenntnis „unglaublich altertümlicher Anglöcklerbräuche“ aus der Gegend südlich von Salzburg (Anif, Grödig, Moos) verdankt: „In dieser Gegend wurden die Anklöckler mit dem W i l d e n G j o a d) identifiziert. Auch in ihrem Spruch kam eine Anspielung darauf vor. Sie liefen zuletzt vor ungefähr 70 Jahren. Unter den Figuren war die ‚Unterschberg-Hex‘ (immer nur die Einzahl, steckt dahinter vielleicht die Frau Percht?), dann M o o s w e i b l e i n (das übliche Wild, das der Wilde Jäger zu jagen pflegt), W a l d t e u f e l ähnlich den ‚Grassatmandln‘ oder ‚Bamwerchern‘ so vieler anderer Naturwesen in den Winterumzügen, der ‚Saurüssel‘, der T o d, in ein weißes Leintuch gehüllt, die H a o b e r g o a ß, R i e s e n, der ‚Kikeriki‘ und ein Pfeifer. Sie sind nur ‚zuwi zum Haus, haben antuscht, a Sprücherl gsagt und dann umanandateuflt ums Haus und auch auf die Weiberleut los.‘ Dann wurden sie bewirtet, weil ihr Kommen als gutes Zeichen galt.“[1630]
Und Wolfram fügt hinzu: „In den jüngstvergangenen Jahren nach dem zweiten Weltkriege wurde ein Versuch unternommen, diese Form des Anklöckelns in der Salzburger Umgebung aufleben zu lassen. Ob er einwurzeln wird, muß die Zukunft zeigen.“ Warum Brandauers Mitteilungen für Wolfram so wichtig sind, vermerkt er in der Fußnote 28): „Brandauers Mitteilungen sind sehr wichtig. Sie stimmen in vielen Einzelzügen mit zahlreichen halb sagenhaften, halb als Brauch erkennbaren Schilderungen der Wilden Jagd überein bis zu den Riesen, die zwar auch der Untersbergsage angehören, jedoch schon in einer unserer ältesten Schilderungen aufziehender Gespensterheere vorkommen, der ‚Herlechini familia‘ des Ordericus Vitalis aus dem Jahr 1092. Von grundsätzlicher Bedeutung ist, daß es sich beim Salzburger Anklöckelbrauch jedoch nicht um Sagen handelt, sondern um einen wirklich ausgeführten Brauch, worüber es keinen Zweifel geben kann.“
Hier „beißt“ sich die Geschichte aber „in den Schwanz“. Wolfram übernimmt nämlich kritiklos die Aussagen Kuno Brandauers, ohne zu merken, dass es sich beim „Wilden Gjoad“ um einen erfundenen Brauch handelt. Erst viel später begannen ihn „Sorgen mit Sagen“ zu plagen. In diesem Artikel äußert er nämlich Bedenken gegenüber dem Quellenwert von Aussagen beflissener Gewährsleute.[1631] Wolfram war in den 50er-Jahren also jenem Rücklauf an volkskundlichem Wissen erlegen, das die wissenschaftliche Volkskunde selbst unters Volk brachte. Daraus ergibt sich eine Diskrepanz zwischen dem ideologisch-wissenschaftlich Indoktrinierten und dem unvoreingenommen Empfundenen (soweit es das überhaupt noch gibt). Karl Heinrich Waggerl versteht es, diese Problematik mit einfachen Worten auszudrücken, wenn er – übrigens etwa zeitgleich wie Wolfram – schreibt: „Heutzutage weiß man nicht mehr viel von alten Weihnachtsbräuchen, wie etwa das Anklöckeln einer war. Ich wüßte nicht zu sagen, was für ein tieferer Sinn in dieser Sitte liegen könnte, vielleicht steckt wirklich noch ein Rest von Magie aus der Heidenzeit dahinter, wie manche Gelehrte meinen. Meine Mutter jedenfalls hielt dafür, daß es ein frommer Brauch sei, und deshalb durfte auch ich mit meiner Schwester und dem Nachbarbuben auf die Reise gehen.“[1632]
Es widersprach einer germanischen Ideologie, in dem auf den kommenden Jahreswechsel (Zeitenwende um Weihnachten) gerichteten Geschehen mit all seinen abergläubischen und soziologisch bedingten Auswüchsen einen christlichen Hintergrund zu sehen, wo sich doch die Kirche selbst durch zahlreiche Verbote dagegen gestellt hatte. Mit Bezug auf das in den Anklöckelbräuchen verwendete Spruchgut gibt Dietz-Rüdiger Moser daher zu bedenken, dass die volkskundliche Forschung zwar die auffallend vielen christlichen Verse als solche wahrgenommen hat, jedoch keine andere Schlussfolgerung daraus zog, als dass es sich dabei um spätere Umdeutung handeln müsse, also um die ‚Verchristlichung‘ einer letztlich christlicher Tradition fernstehenden Überlieferung aus heidnischer Zeit.[1633] Eine christliche Grundlage des Brauches sei von der Forschung nie ernstlich in Erwägung gezogen worden, obwohl mehrere Berichte der reformatorischen Zeit – sicherlich nicht grundlos – das Anklöckeln als „papistisch“ eingestuft, also deutlich als religiös gekennzeichnet hatten. Nicht umsonst ist von den „heiligen“ Klöpfelsnächten die Rede und dass denen, die den Anklopfenden die Türe öffnen, Glück und Heil zuteilwerde, wie es auch in dem von Lorenz Hübner überlieferten Spruch lautet:
„Wir wünschen ihm Glück, wir wünschen ihm Heil,
Damit ihm das Glück werd‘ alles zu theil.“
Daher freuten sich die Leute über das Erscheinen der Anklöckler, je mehr, desto besser für das kommende Jahr und das Gedeihen, umso größer die Chance, das Heil zu erlangen. Und das hat dann nichts mit germanischem Vegetationskult zu tun, sondern mit christlicher Erwartung: „Klopft an, Klopft an, der Himmel hat sich aufgetan.“
Beim „Wilden Gjoad“-Laufen stellt sich die Frage eines christlichen Ursprunges nicht. Es stand von Anfang an ideologisch in einem anderen Fahrwasser. Es ist unbestritten, dass uns in der Untersbergsage uralte Mythen entgegentreten, die neben den Geschichten über historische Persönlichkeiten auch Vorstellungen aus der germanischen Götterwelt transportieren. Unbestritten ist auch die weitverbreitete Vorstellung von der Wilden Jagd als Totenheer und von der Percht mit ihrem Gefolge der ungetauft verstorbenen Kinder. Es ist aber bedenklich, diese Vorstellungen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts dazu zu benützen, um damit die Berechtigung für die Einführung eines neuen Brauches zu begründen und den „Brauch“ dann gleichzeitig als Beweis für eine ungebrochene germanische Kontinuität und für ein Weiterleben einstiger germanischer Männerbünde hinzustellen. Wer nach 1945 germanische Kontinuität zitiert, um damit die profanen Absichten der Braucheinführung zu verdecken, der muss sich den Vorwurf gefallen lassen, Anhänger einer äußerst bedenklichen Ideologie zu sein. Daran ändert auch das Faktum nichts, dass das „Wilde Gjoad“-Laufen nun bereits seit über 50 Jahren ununterbrochen durchgeführt wird.
Beim „Wilde Gjoad“-Laufen handelt es sich um ein aus verschiedenen Brauchelementen und Maskengestalten künstlich zusammengesetztes Produkt. Um es am Leben zu erhalten, bedarf es der Pflege durch eine Organisation. Das Produkt „Wildes Gjoad“ bedeutet somit für die Brauchträger gleichzeitig Inhalt und Aufgabe. Der Brauch erfüllt – dem Vereinszweck entsprechend – eine wichtige Funktion für den Zusammenhalt der Gruppe nach innen und für die Existenzberechtigung nach außen. Seine Durchführung (Bewahrung) gilt als patriotischer, selbstloser Dienst an der „Volksgemeinschaft“, an der Heimat.
Seit Ingeborg Weber-Kellermann haben wir gelernt, Bräuche als Zeichen zu sehen, in denen sich das Weltbild der Ausübenden spiegelt.[1634] Die Tatsache, dass in Salzburg kurz nach 1945 ein „Brauch“ wie das „Wilde Gjoad“ eingeführt werden konnte und dass man über 50 Jahre daran festhält, wirft jedenfalls ein beredtes Licht auf die Brauchtumspflege in Salzburg. Wie sagt doch Franz Lipp, den Kuno Brandauer im guten Glauben in den Zeugenstand holt: „Erst auf dem gründlich bebauten Salzburger Acker war es möglich, das Experiment der Wiederaufnahme des auf rein mythischen, letztlich vorhistorischen Vorstellungen begründeten Untersberger Wildejagdlaufes zu wagen. Dieser Versuch konnte nur in Salzburg und nur hier dank Kuno Brandauer, der gläubig dahinterstand, gelingen.“[1635]
[1586] Kurzfassung von Andrea Bleyer.
[1587] [Brandauer 1964]. – Auch die Brauchtumsliteratur, die weitgehend den Darstellungen Brandauers folgt, berichtet über das „Wilde Gjoad“, u. a.: [Swoboda 1970], S. 112–115, 2 Abb. – [Zinnburg 1972], S. 25/26, 2 Abb. – [Grieshofer 1977b]. – [Hutter 1988].
[1588] [Brandauer 1964], hier S. 66.
[1590] Das Interview fand am 15. 11. 1990 im Beisein von Ernestine Hutter in der Salzburger Heimatpflege (heute: Salzburger Volkskultur) statt.
[1591] Kuno Brandauer wollte schon 1942 die katholischen Nikologärten in den einzelnen Gauen durch sogenannte „Salzburger Sagengärtlein“ ersetzen. Für Salzburg sollte ein „Untersberger Sagengarten“ entstehen. Für diesen Sagengarten wurden Musterbögen für Laubsägearbeiten ausgearbeitet. Siehe [Brandauer 1943].
[1592] [Adrian 1924], hier S. 15–24: das Anglöckeln. – Die Schreibweise von „Anglöckeln“ und „Anklöckeln“ variiert. Ersteres bezieht sich auf die häufig mitgetragenen Glocken, Letzteres auf das Anklopfen.
[1593] Diese Erklärung ist von Karl von Spieß’ „12 germanischen Leitgestalten“ mitgeprägt.
[1594] [Brandauer 1964], hier S. 67/68.
[1595] [Brandauer 1964], hier S. 66.
[1596] Vgl. dazu [Bimmer 1990].
[1597] Zuletzt: [Petzoldt 1993].
[1598] [Petzoldt 1990], bes. S. 34–36 und S. 186–188.
[1599] Zum Problemkreis der Bercht mit seiner umfangreichen Literatur siehe: [Rumpf 1991]. – [WolframR 1979a]. – [Landesverband Salzburger Volkskultur 1994]. – [Hutter/Hörmann 1992].
[1600] [Weber-Kellermann/Bimmer 1985], S. 95–102. – Zu dem gesamten Themenkomplex siehe: [Jacobeit 1994].
[1602] Siehe dazu: [BockhornO 1994a].
[1604] [Zimmermann 1994], hier S. 24 f.
[1605] Über Richard Wolfram siehe: [BockhornO 1987]. – [Köstlin 1995b]. – Zur Volkskunde in Salzburg siehe: [Eberhart 1994b].
[1607] [Haas 1996a]. – [Kerschbaumer 1988]. – [Floimair/DenggH 1990]. – [Luidold 2002].
[1608] [Kammerhofer-Aggermann/Scope/Haas 1993], hier bes.: [Kammerhofer-Aggermann 1993c]. – [Langenfelder 1990].
[1609] [Grieshofer 1981], S. 78
[1616] [Geramb 1924]. – Unter dem Titel „Sitte und Brauch in Österreich“ gab Viktor von Geramb 1948 ([Geramb 1948]) eine dritte, verbesserte Auflage heraus. Hier sind abermals seine Grundsätze der Brauchtumspflege festgehalten.
[1617] [Geramb 1933], hier S. 24.
[1621] [Kerschbaumer 1996b], hier S. 353–356.
[1622] [Adrian 1924], S. 15–24.
[1624] [Hübner 1796], Bd. 2, S. 387–388.
[1625] [Hübner 1796], Bd. 2, S. 388.
[1626] [Schmeller 1985], Sp. 1337–1338.
[1627] [MoserH 1951]. – Nachdruck zusammen mit „Nachträge zum Thema Klöpfelnachtbräuche“ in: [MoserH 1985a], S. 1–28 und S. 29–34.
[1629] [Lendl 1955], Karte 55d: Anklöckler-Glöckelngehen-Glöcklerlaufen, Textteil S. 105 f.
[1630] [WolframR 1955], hier S. 223/224.
[1632] [Waggerl 1956], S. 26/27.
[1633] [MoserDR 1993], S. 62–66.
[1634] [Weber-Kellermann 1985], S. 15–17.
[1635] Zitat bei [Brandauer 1973], hier S. 17.