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1.2. Brauch (Konrad Köstlin)[2]

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1.2.1. Der Brauch als rechtliche Verabredung

Historisch und genau besehen war und ist ein Brauch nicht mehr und nicht weniger als eine Verabredung von Gruppen oder Menschen. Diese Verabredung hatte meist praktische Gründe und diente dem Funktionieren des Alltags. Der Brauch ist – in dieser historischen Betrachtungsweise – vor allem eine rechtliche Verabredung, die zwischen Parteien eingegangen wird. Sie ist vom Prinzip der Gegenseitigkeit, von Leistung und Gegenleistung, bestimmt – wie etwa bei verschiedenen Umgängen z. B. den Heischegängen. Die meisten Bräuche sind ursprünglich Rechtsbräuche, die durch Gabe (Arbeitsleistung) und Gegengabe (Lohn) und eine ritualisierte festliche Ausgestaltung der einzelnen Abschnitte ihre Struktur erhalten. Durch diese Struktur beschreiben Bräuche gleichzeitig einen Kreis von Zugehörigkeit. Bräuche wirken also exklusiv. Denn indem sie die Akteurinnen/Akteure beschreiben, schließen sie diejenigen aus, die nicht dazugehören. Wer an ihren Veranstaltungen und Riten teilnimmt, teilnehmen darf oder muss, gehört dazu. So haben Bräuche durch diese Riten eine integrative Wirkung nach innen.

An Wallfahrten lässt sich der rechtliche Charakter besonders gut erläutern. Sie sind oft in Versprechen (sogenannte Verlöbnisse) eingebunden, die eine Person oder eine Gemeinde einem Heiligen an einem besonderen Ort, dem Gnadenort, gemacht hat – als Bitte um Schutz und (oder) als Dank für empfangene Hilfe. Viele Votivtafeln, mit denen sich die/der Beschützte offenbart, bezeugen diesen öffentlich sichtbar gemachten Rechtsakt. Wallfahrten von Gemeinden oder Gruppen sind ein demonstrativer Ausdruck solcher Abmachungen, die einer Wiederholung bedürfen, indem sie jährlich oder alle sieben Jahre regelmäßig vollzogen werden. Ihre Wege und Umzüge sind durch Rituale und Zeremonien geregelt. Es sind Verlöbnisse quasirechtlichen Charakters, in denen nicht nur gezeigt wird, dass der Kontrakt eingehalten wird, sondern sie bestätigen in der Wiederholung, dass die herkömmliche Ordnung noch gilt.

1.2.2. Öffentliche Bräuche und Bräuche des Alltags

Im Umzug wird nicht nur der regelmäßige Vollzug des Rechtsakts bestätigt. Auch die ausführende Gruppe präsentiert sich in ihrer Bedeutung und wird durch die Zurschaustellung selbst immer wieder als Gruppe bestätigt. Derartige Gruppen waren und sind oft bis heute exklusiv; sie beschränkten sich auf Einheimische, auf Männer, auf unverheiratete Männer etc. Prozessionen und andere Umzüge sind durch Rituale und Zeremonien geregelt. So ist die Reihenfolge bei der Fronleichnamsprozession, die in besonderer Weise ein Brauch des Prangens in der Öffentlichkeit ist, nicht beliebig, sondern bereits seit ihrer Entstehung im Mittelalter auch sozial genau geregelt. Bei allen Veränderungen durch die Jahrhunderte hindurch ist der ordnende Charakter, der die weltliche Ordnung abbildet und sie damit als gottgewollt bestätigt und ausweist, bestimmend geblieben.

Bräuche in der öffentlichen Form machen nur einen kleinen Teil aus. Für den Alltag haben wir Formen entwickelt, die wir im eigenen Leben nicht als Bräuche wahrnehmen. Sie entlasten uns dennoch täglich. Es wäre furchtbar, wenn wir uns jedes Mal neu zu entscheiden hätten. Unser Alltag ist durch eine Vielzahl unausgesprochener Selbstverständlichkeiten geregelt. Dort, wo wir unsere Akzente bewusst setzen, mag es sein, dass wir an die Regelhaftigkeit von Bräuchen (Ablauf des Weihnachtsfests) denken. Es mag auch sein, dass wir, um uns selbst eine Ordnung zu geben, solche Ordnungen herstellen, von denen wir uns erhoffen, dass sie uns einmal auffangen und halten mögen.

1.2.3. Brauchtums-TÜV: die Begriffe „echt“ und „unecht“

Nie sind öffentliche Bräuche so bunt gewesen wie heute, und nie haben sie sich so streng an Formen festgehalten, die man als „überliefert“ bezeichnet. Diese Überlieferung ist freilich oft mit dem Stillstellen eines einmal vorgefundenen Zustands verbunden, der dann als „historisch“ fixiert wird. Mithilfe von Bräuchen ordnen wir den Arbeitsprozess, das Jahr und den Lebenslauf des Einzelnen wie der Gruppe. Diese Anmutung der Verlässlichkeit und Stabilität hat dazu geführt, dass die Erscheinungsformen der Bräuche vielfach – nicht immer – das kreative Potenzial verloren haben und in eine starre Uniformität verfallen sind.

Hier hat historisiertes und dann stillgestelltes Brauchtum seinen Anspruch ausgebildet. Es dient jenen, die es haben, mithilfe der Kategorien „echt“ und „unecht“ – Kategorien, die in der historischen Volkskultur nicht existierten – ihre Zuständigkeit zu erhalten. Eine Scheidung in „echtes“ und „unechtes“ Brauchtum ist historisch nicht aufrechtzuhalten. Die Praxis einer solchen Trennung lässt sich einerseits nur noch bei verträumten Sozialhistorikerinnen/-historikern oder andererseits bei Verbandsfunktionärinnen/-funktionären und professionellen Brauchtumswarten finden, die mit einer Art Brauchtums-TÜV „echt“ von „unecht“ zu scheiden suchen. Die zugrunde liegende Argumentation setzt Alter und Genese (Entstehung) eines Brauchs als zentrales Merkmal an und lässt dabei die durchaus wechselnden und dabei oft „kreativen“ – auch gegenläufigen – Aneignungen der Bräuche außer Acht. Diese Erscheinung lässt sich als Reaktion auf veränderliche, unsichere Situationen interpretieren. In einer Welt, die sich aufzulösen scheint, versuchen die Menschen, durch dieses Festhalten Stabilität herzustellen.

1.2.4. Bräuche als kultureller Ausdruck

Viele Menschen praktizieren Bräuche, ohne dass sie auf den Gedanken kämen, das, was man immer macht, als Brauch anzusehen. „Das ist bei uns Mode“, sagen sie für einen Vorgang, bei dem die Volkskundlerin / der Volkskundler schon längst mit der Zunge schnalzen würde. In der Tat sind Bräuche kultureller Ausdruck. Sie sind eine ausdrückliche und gewollte Inszenierung markanter Punkte des sozialen Lebens. Bräuche gliedern immer noch die Arbeit, das Jahr, den Lebenslauf des Individuums wie der Gruppen. Sie lagern sich bei Begegnung und Trennung, bei Anfang und Übergang, bei Höhepunkt und Ende, beim Gedenken an Anfang und Ende an. Mit festlichen Bräuchen werden z. B. Arbeiten oder eine Tätigkeit abgeschlossen wie etwa die Ernte oder der Almabtrieb. Oft gehören dazu in festlicher Weise Mahlzeiten und der oft rituelle Konsum von Getränken. „Mahl und Trunk“ haben in unserer Welt eine lange Geschichte. Eine geheiligte Ausprägung von Mahl und Trunk tritt uns im Abschiedsmahl Christi gegenüber, das seither als Ritual der Kirche in festlicher Weise wiederholt wird. Es umschließt die Berechtigten und schließt damit andere vom Tisch des Herrn aus. In gleicher Weise geschieht dies auch bei den Riten der Gruppen.

Viele heutige Bräuche stehen in enger Verbindung mit den Verwertungsinteressen des Tourismus. Der Tourismus, der oftmals als Zerstörer der alten lokalen Kultur beschimpft wird, ist vielfach zum Retter der alten Bräuche geworden. Diese haben allerdings in einem neuen Verwertungszusammenhang auch eine neue Bedeutung bekommen; sie sind also, recht besehen, neue Bräuche. Sie sind gefunden und erfunden und kommen im Gewande und mit dem Anspruch des Alten daher. Insofern sind gerade die Bräuche, die sich historisch nennen, neue Bräuche. Sie haben einen Sinn, den sie ihrem Verwobensein mit der Moderne verdanken. Ihre Funktion richtet sich zwar nach außen zum Touristischen und zum Event hin. Es wäre aber absurd, wollte man übersehen, dass sie dem Identitätsbedarf der Moderne entgegenkommen.

1.2.5. Die Musealisierung des Eigenen

Keine Zeit hat so viel zerstört wie die Moderne – das mag sein. Aber keine Zeit hat auch so viel bewahrt wie die Moderne. Fast alle Menschen sammeln irgendetwas. Sie musealisieren ihre eigene Vergangenheit, ihre eigene Herkunftsgeschichte. Auch in der Trachtenpflege beispielsweise wird so etwas wie eine Herkunftsgeschichte erzählt: Die Tracht erzählt davon, wie wir einmal waren. Sie erzählt, eingelagert in den Mythos der naturgebundenen Einfachheit, von einem klar geordneten Leben. Klar und geordnet, das heißt aber auch: eindeutig.

Bleiben wir bei dem Beispiel der Kleidung. Heute stehen wir vor dem gefüllten Kleiderschrank und überlegen uns, was wir anziehen mögen. Wir überdenken die Situation des Tags, wir denken daran, mit wem wir vielleicht zusammentreffen werden. Wir denken daran, wen wir beeindrucken wollen, und wir denken an unsere Stimmung, daran, wie wir uns gerade fühlen, wie wir „grade drauf“ sind. Wir nehmen dieses ganze Bündel von Überlegungen zum Ausgangspunkt dessen, was wir anziehen, weil wir uns überlegen, wie wir von anderen gesehen werden wollen.

Demgegenüber, so sieht es jedenfalls aus, gab es für den Menschen in der „alten Volkskultur“ kaum eine Wahlmöglichkeit – es ist das eine missliche Verhaltenssicherheit, die nur von fern fasziniert. Es war wohl klar, was man im Alltag und am Werktag, als Braut, als jungverheiratete Frau oder als Witwe zu tragen hatte. Der Zwang zur Konformität mag uns manchmal wie ein verlockender Blick in ein geordnetes Land der Sicherheit, der Beziehungen und ihrer Ausdrucksformen erscheinen.



[2] Kurzfassung von Konrad Köstlin und Melanie Wiener-Lanterdinger, Langtextversion HIER.

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