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Veränderte Lebensbedingungen und die Frauenbewegung, die für mehr Geschlechterdemokratie kämpft, sind zwei zentrale Wurzeln für die Männerforschung, die sich seit den 1980er-Jahren international in verschiedenen wissenschaftlichen Disziplinen entwickelt hat. Ihre Aufgabe ist es, Männerbilder, männliche Handlungsmuster und gesellschaftliche Strukturen zu untersuchen, die dafür verantwortlich sind, dass die Verteilung von Macht in unserer Gesellschaft auch geschlechtsabhängig ist und Frauen auf vielen Ebenen massiv benachteiligt.
Weil Männerforschung ihre Analysen als Beitrag zur Verwirklichung von Geschlechterdemokratie sieht und deswegen mit kritischem Blick Herrschaftsstrukturen analysiert, wird die Männerforschung von den beteiligten Forscherinnen und Forschern auch als „Kritische Männerforschung“ bezeichnet.[86]
Auch in der Männerforschung kündigen sich neue Debatten, Bruchstellen und Konfliktlinien an. Die erste Tendenz, die sich abzeichnet, ist eine verstärkte Auseinandersetzung mit dem Phänomen der Globalisierung. Auf diese Weise rücken auch stärker Fragen der Verschränkung von Klasse, ethnischer Zugehörigkeit, Nationalität und Religion mit männlicher Geschlechtsidentität in den Blickpunkt. Die Männerforschung wird auch weiterhin ihr Selbstverständnis zum Ausdruck bringen, weil sie ihren politischen Kontext weder verlassen kann noch will. Für die Forschungspraxis heißt das, dass sie ihre Untersuchungsperspektiven stets offen legen muss. Klären muss die Männerforschung vor allem ihr Verhältnis zum Feminismus und sie muss sich entscheiden, auf welche Weise sie in Institutionen sichtbar werden will.
Ausgehend von den USA der 1970er-Jahre ist die Männerforschung zu einem globalen Forschungsnetzwerk geworden – mit Schwerpunkten in den USA, in Kanada, Australien und den skandinavischen Ländern. In den vergangenen Jahren hat sich auch im deutschsprachigen Raum Männerforschung durchgesetzt. Es gibt heute Studien in der Soziologie, in der Literatur- und Kunstwissenschaft, aber auch in der Pädagogik und der Psychologie.
Eine Zusammenführung europäischer Männerforschung findet derzeit im Forschungsprojekt CROME statt, das „Critical Studies on Men in Ten European Countries“ erfasst und in ländervergleichenden Analysen den Forschungsstand zur Männerforschung dokumentiert. Der Schwerpunkt liegt im Bereich „Männer in Machtverhältnissen“: Wie gehen Männer mit Macht um? Wo profitieren sie in der Gesellschaft, welche Männer werden (wie viele Frauen) von der Macht ausgeschlossen? Und warum ist das so? Gibt es nationale und kulturelle Unterschiede?[87]
Als die Frauenbewegung der 1960er-Jahre unsere Gesellschaft zu verändern begann, haben auch Männer angefangen, sich kritisch mit herrschenden Männlichkeitsvorstellungen auseinander zu setzen. Viele Männer fanden sich in einengenden Männlichkeitsrollen nicht zurecht und unterstützten Frauen im Kampf gegen die Vorherrschaft von Männern in vielen gesellschaftlichen Bereichen. Sie dokumentierten eindrücklich, dass die damals gültigen Geschlechterrollen nicht von Natur aus festgeschrieben waren, sondern in unserer Gesellschaft geformt und über Erziehung weitergegeben werden.
Die zweite Generation von Männerforschern, zu denen u. a. auch der derzeit bekannteste Männerforscher, Robert W. Connell gehört, hat ab den 1980er-Jahren nicht nur gezeigt, wie Männerbilder gesellschaftlich und geschichtlich produziert werden, sondern dass es „die“ Männlichkeit nicht gibt, sondern dass Männlichkeit zusammen mit dem sozialen Status, mit der Herkunft und nationaler Zugehörigkeit, der sexuellen Orientierung, mit dem Alter, der Religion usw. verknüpft ist, so dass man heute von Männlichkeiten spricht und vor allem Differenzen zwischen unterschiedlichen Männergruppen untersucht.[88]
Robert W. Connell veröffentlicht seit ca. zwanzig Jahren Bücher und Artikel zum Thema „Männlichkeit“. In den ersten Werken hat er in der Tradition der Frauenforschung die biologische Festschreibung von Mann und Frau kritisiert und gezeigt, wie das Verhältnis zwischen den Geschlechtern durch Macht organisiert wird.
In seiner einflussreichen Studie „Der gemachte Mann“[89] weist er nach, dass Männer zwar generell von der herrschenden Geschlechterordnung profitieren – er nennt dies die „patriarchale Dividende“ –, dass es aber zwischen Männern große Unterschiede gibt. Er hat den Begriff „hegemoniale Männlichkeit“ geprägt, um zu zeigen, dass zu jeder Zeit eine bestimmte Form von Männlichkeit vorherrschend ist – eine Art Norm, an denen Männer gemessen werden.
Wer dem Bild „hegemonialer Männlichkeit“ nicht entspricht (z. B. homosexuelle Männer), wird abgewertet. Auf diese Weise entstehen zwischen Männern (armen/reichen, gebildeten/ungebildeten, weißen/schwarzen usw.) Hierarchien.
Neben Robert W. Connell hat auch der bekannte französische Kultursoziologe Pierre Bourdieu eine Studie über „Männliche Herrschaft“[90] verfasst und dabei gezeigt, dass Männlichkeit wesentlich mit Macht zu tun hat, die sich in Beziehung von Männern zu Frauen und zu anderen Männern äußert. Er macht uns darauf aufmerksam, dass sich der „Vorrang des Männlichen“ meist unbewusst in unseren alltäglichen Wahrnehmungen und Bewertungen niederschlägt und so unser Handeln prägt.
Wenn sich solche Wahrnehmungs- und Bewertungsmuster verfestigen – und zwar derart, dass sie sich quasi in den Körper einschreiben –, entsteht der „männliche Habitus“. Dieser Begriff von Bourdieu gehört heute zu den wichtigsten in der Männerforschung.
Bourdieu meint aber, dass das Privileg des Herrschenden zweischneidig ist, denn obwohl Männer die beherrschende Position einnehmen, werden sie doch auf versteckte Weise Opfer der herrschenden Vorstellung, die es ihnen schwer macht, anders handeln zu können.
Wie wird man ein Mann? Welche Voraussetzungen müssen erfüllt sein, dass männliche Identität gelingt? Welchen Beitrag muss Erziehung dazu leisten? Welche Rolle spielen Vater und Mutter? Welche Aufgaben kommen Schule und Peergroups zu? Oder anders: Die Pädagogin Astrid Kaiser hat pointiert formuliert: „Mein Sohn soll kein Macho werden.“[91] Das sind Fragen, denen sich eine kritische Männerforschung widmet.
Erstens ist sich die Männerforschung darin einig, dass es die „männliche Identität“, die man einmal erwirbt, um sie dann lebenslänglich zu behalten, nicht gibt. Um Identität muss gerungen werden und es gibt immer wieder – kritische – Lebensereignisse, die den Einzelnen in Frage stellen und ihn nötigen, sein Selbstkonzept zu überdenken. Zweitens untersucht Kritische Männerforschung, wie alternative Lebensentwürfe möglich sind. Wie kann man jungen Männern Perspektiven jenseits eingefahrener Wege eröffnen?[92]
Wenn das Aufwachsen von Jungen ein großes Thema in der Männerforschung und in der praktischen Jungenarbeit ist, dann kommt auch immer öfters die Bedeutung von (nicht nur leiblichen) Vätern ins Spiel. Haben sie eine besondere Aufgabe, wenn es darum geht, Jungen lebbare Männlichkeitskonzepte vorzuleben?
In Deutschland, Österreich und der Schweiz gibt es eine lange Diskussion über die Frage nach der Auswirkung abwesender oder ferner Väter auf die Familiendynamik und insbesondere auf die nachwachsende Generation. Sehr oft sind solche Debatten moralisch aufgeladen, in denen auch grundlegende Werte einer Gesellschaft verhandelt werden. Im Mittelpunkt stehen Väter, die sich mit Väterlichkeit als Krise oder Problem konfrontiert sehen. Diese Einschätzung gewinnt an Brisanz durch aktuelle Debatten über häusliche Gewalt von Männern und sexuelle Gewalt gegen Frauen und Kinder.
Der Fokus der internationalen Männerforschung richtet sich darauf, wie das Bild des „guten Vaters“ konstruiert wird: durch Autorität, ökonomische Verantwortung und Heterosexualität. Am Beispiel der rechtlichen Beschränkungen[93] der Elternschaft, denen schwule und lesbische Paare ausgesetzt sind, lässt sich dies eindrücklich nachweisen.[94]
Gewalt im sozialen Nahraum geht nahezu ausschließlich von Männern aus. Sie nimmt unterschiedliche Formen an und trifft nicht nur Frauen und Kinder, sondern auch Männer und stellt zwischen ihnen Hierarchien her.
In seiner für die Kritische Männerforschung wegweisenden Studie „Bieder, brutal. Frauen und Männer sprechen über sexuelle Gewalt“ hat Alberto Godenzi sexuelle Gewalt gegen Frauen erforscht. Seine Kernthese lautet, dass die Ursachen, Bedingungen und Folgen sexueller Gewalt nicht allein aus den Persönlichkeiten der Akteure erschlossen werden können: „Das männliche Handeln muss im Kontext des sozialen Umfelds, der gesellschaftlichen Verhältnisse beschrieben und erklärt werden“.[95]
Die Kritische Männerforschung geht in Folge dessen von einem Gewaltbegriff aus, der nicht auf einen juristischen Gewaltbegriff verkürzt wird, sondern seine personale, strukturelle und kulturelle Dimension ausleuchtet. Auf diese Weise rücken auch patriarchalische Institutionen wie Familie, Kirche und Militär in den Blickpunkt männerkritischer Gewaltforschung.
In jüngerer Zeit werden Männer nicht nur als Gewalttäter, sondern auch als Opfer untersucht. Im angloamerikanischen Raum werden mit dem Begriff „Homophobie“ Gewalterfahrungen von Männern, die hegemonialen Männlichkeitsbildern nicht entsprechen, bezeichnet. Homophobie gibt es auf der individuellen, zwischenmenschlichen, institutionellen und kulturellen Ebene.
Etwas anders verläuft die Debatte in Deutschland. Die Diskussion „männlicher Opfererfahrungen“ wird fast zwangsläufig zu einer heiklen Gratwanderung. Die Gründe hierfür sind vielfältig und unterschiedlicher Art: Zum einen sind Männer als Opfer von Gewalt noch immer kaum erforscht. Zum anderen wird wiederholt auf die Gefahr hingewiesen, dass männliche Opfererfahrungen instrumentalisiert und gegen weibliche Opfererfahrungen ‚verrechnet‘ werden könnten.
Hier gilt es, den Blick auf die Differenzen zwischen Männern und ihren unterschiedlichen Erfahrungen zu richten und vor falschen Schlüssen (etwa der Umkehr von Täter-Opfer-Perspektiven) zu warnen.[96]
Jungen- und Männerarbeit hat ihre Wurzeln in der Frauenforschung und der US-amerikanischen Männerbewegung. Heute unterscheidet man in der Regel drei große Strömungen in der Männerbewegung: Die profeministische Männerbewegung, die solidarisch mit der Frauenbewegung arbeitet und antisexistische Jungenarbeit anbietet; spirituelle Männerbewegungen, an deren Spitze die mythopoetische Männerbewegung um Robert Bly steht; schließlich die Men’s Right-Bewegung, eine kleine Lobbying-Gruppe, die Männer vor allem als Opfer der Gesellschaft sieht und Verbesserungen für Männer unter anderem im Scheidungs- oder Sorgerecht erreichen möchte.
Einer der zentralen Konflikte dieser Arbeit ist heute, ob Jungen- und Männerarbeit auf Gewaltprävention und Antisexismus beschränkt werden kann. Kritiker profeministischer Ansätze machen vor allem für die Jungenarbeit geltend, dass mit „Anti“-Haltungen und negativen Orientierungen bei Jungen keine positive männliche Identität gebildet werden könne.
Sie fordern einen „Perspektivenwechsel“, denn sie behaupten, dass nur starke und selbstbewusste Jungen auf Gewalt gegen Frauen, Kinder und andere Männer verzichten werden. Viele dieser Ansätze äußern entweder offen oder verdeckt antifeministische Parolen und blenden in der Regel strukturelle Ungleichheiten im Geschlechterverhältnis aus.[97]
Gewaltarbeit ist in der Jungen- und Männerarbeit ein zentrales Thema. Zum einen engagieren sich nunmehr auch Männer in der täterzentrierten Intervention, also in Therapieprogrammen, die für Gewalttäter angeboten werden. Hier stellt sich die Frage, wie Täter dazu gebracht werden, sich an solchen Programmen zu beteiligen. Zum anderen ist strittig, wer solche Programme anbieten soll. Aus heutiger Sicht scheint nur eine enge Zusammenarbeit mit Opferschutzeinrichtungen zielführend zu sein.
Neben Interventionsprogrammen, die zum Ziel haben, dass Gewalttäter Verantwortung für ihre Gewalttaten übernehmen, weil nur auf diesem Wege zukünftige Gewalttaten verhindert werden können, geht es in der Jungenarbeit und in der Männerbildung vor allem um primäre Prävention.
Zwei beispielhafte Aufklärungs-, Informations- und Bildungskampagnen sind die „White ribbon campaign“[98] und die „Münchner Kampagne gegen Männergewalt an Frauen und Mädchen/Jungen“[99].
Ein Beitrag zur Gewaltprävention ist schulische Jungenarbeit, die zahlreiche Veränderungschancen bietet. Exemplarisch lässt sich dies an einem Wiener Schulprojekt zur Jungenarbeit zeigen, das ergänzend zur bereits existierenden feministischen Mädchenarbeit angeboten wurde:
Es gab in den Schulklassen ungewohnte Erfahrungen des In-Kontakt-Kommens, des Kommunizierens und Kooperierens; einen Zuwachs an Selbstvertrauen und Selbstsicherheit bei den Jungen, der nicht auf Kosten der Abwertung anderer Schülerinnen und Schüler ging; Jungen nahmen Standpunkte von Mädchen wahr; sie entwickelten ein Unrechtbewusstsein für eigenes grenzüberschreitendes, gewalttätiges Verhalten; sie lernten schließlich, sich Konfrontationen stellen zu müssen und sich zu verantworten.
Solche Projekte zeigen aber auch zweierlei: Gewalt und Diskriminierung lassen sich nur dann vermeiden, wenn die Schule als Institution eindeutig Position gegen Gewalt ergreift. Das heißt aber auch, dass es vor allem auf die männlichen Lehrer, ihr Engagement und ihre Fortbildung ankommt. Wenn Lehrer ihre eigenen Erfahrungen im Geschlechterverhältnis nicht reflektieren können, reproduzieren sie über ihren Unterrichtsstil auch „Männlichkeitsstile“ und festigen so – unbewusst – Homophobie.[100]
Ein klassisches Feld für Jungen- und Männerarbeit ist Körperarbeit. Hier hat in den vergangenen Jahren ein Wandel eingesetzt: Öffentliche Diskurse über den „neuen Mann“ haben vor allem den männlichen Körper sichtbar und zum Schauplatz von Rangordnungskämpfen und Machtverteilungen zwischen Männern gemacht. Die Ergebnisse einer qualitativen Studie über „Körpernormen – Körperformen“ zeigen, „welch immenser Druck mit der Aufrechterhaltung des Konstruktes Männlichkeit – individuell wie kollektiv – verbunden ist“.[101]
Allerdings kann von Männlichkeit nur noch eingeschränkt gesprochen werden. So sind etwa männliche Schönheitsideale nicht nur historisch veränderbar, sondern sie differieren nach sexueller Orientierung, nach ethnischer sowie Generationen- und Klassenzugehörigkeit.
Der Körper wird in der Jungenarbeit noch in einem anderen Sinn angesprochen. Über Körperarbeit soll Jungen Raum gegeben werden, um Grenzerfahrungen zu machen. Eigene Grenzen zu testen und zu sehen, wie man darauf reagiert, ist für die Herausbildung einer eigenen Identität ein wichtiger Bestandteil. Das kann für Jungen- und Männerarbeit wertvoll sein, wenn mit der Aufmerksamkeit für eigene Grenzen auch die Wahrnehmung für „den Anderen“ geschärft wird.
[86] Für einen Überblick über die Männerforschung empfehlen wir folgende Bücher: [Willy 2001]. – [Connell 1999].
[87] [Hearn 2002], S. 404.
[88] [Willy 2001], S. 25.
[89] [Connell 1999].
[90] [Bourdieu 1997], S. 153–217.
[91] [Kaiser 1999].
[92] Vgl. [Böhnisch 1993].
[93] Anm. der Redaktion: Seit Erstellung dieses Artikels hat sich in Österreich die diesbezügliche Rechtslage geändert. Seit 2015 ist die Samenspende für lesbische Frauen bzw. Paare und seit 2016 die Fremdkindadoption für Regenbogenfamilien in Österreich möglich. Näheres dazu unter: https://www.wien.gv.at/menschen/queer/sexuelle-orientierung/recht/elternschaft/
[94] Vgl. [ Walter 2002].
[95] Godenzi, Alberto: Bieder, brutal. Frauen und Männer sprechen über sexuelle Gewalt. Zürich 1989, S. 22. – vgl. auch [Godenzi 1996]. – [Lehner-Hartmann 2002].
[97] Vgl. [Forster 2004].
[98] 1989 erschoss ein Mann an einem kanadischen College 13 Studentinnen und eine Mitarbeiterin des Colleges. Als Motiv für die Tat gab der Täter an, dass er sich in der zuvor vorwiegend von Männern dominierten Ausbildungseinrichtung vom zunehmenden Anteil an Frauen unter den StudentInnen bedroht sah. Einige engagierte Männer nahmen 1991 die Bluttat zum Anlass und initiierten die heute international erfolgreiche White Ribbon Campaign, die sich öffentlich gegen Männergewalt betätigt. Die weiße Schleife dient seit damals als Symbol, dass Männer Gewalt an Frauen, Kindern und anderen Männern ablehnen.
[99] Vgl. [Heiliger 2000].
[100] Vgl. [Bieringer/Buchacher 2000].
[101] [Hofstadler 2001], S. 254.