Der Tod passt nicht in die heutige Konsumgesellschaft, in der nur noch „Fun“ zählt, was mit „Spaß“ sehr unzureichend übersetzt wird. Viele Dorfkirchen sind zwar noch von Friedhöfen umgeben und die sonntägigen Kirchgänger gehen noch an den Familiengräbern vorbei, aber die Zahl der Messbesucher sinkt bekanntlich. Und in den Städten werden die Toten – man kann sich natürlich auf Sachzwänge ausreden – überhaupt in die Randzonen verbannt, wo die Gräber das Jahr über (bestenfalls) von spezialisierten Gärtnern betreut und (bestenfalls) zum Allerseelentag besucht werden.
Auch der alte Brauch der Totenbretter geriet vielerorts in Vergessenheit. Einst war er im gesamten süddeutschen Raum verbreitet einschließlich des Salzburgischen, Nord- und Südtirols, Böhmens und der Schweiz. Heute sind diese Bretter zur Erinnerung an die Toten und deren Wirken nur noch für den Bayerischen Wald charakteristisch. Ein mehrtägiger Aufenthalt in einem weitab von den Durchzugsstraßen liegenden Dorf gab 2001 den Anstoß zu diesem Bericht, der teilweise der Broschüre „Die Toten- und Gedenkbretter in Sankt Englmar“ des Chronisten Dieter Schmidt aus Nürnberg folgt. Weitere Quellen waren u. a. Karl Zinnburgs „Salzburger Volksbräuche“, Harald Fähnrichs „Totenbretter in der nördlichen Oberpfalz“ (mit Verweisen auf das 17. Jahrhundert) und Flachgauer Ortschroniken.
Ursprünglich diente das Totenbrett tatsächlich der Aufbahrung im Sterbehaus, der Überführung des Leichnams und der Bestattung. Zum Transport wurde der Tote, in Tücher gehüllt, auf das Brett gebunden. Auf dem Friedhof ließ man ihn mit dem Brett in die ausgehobene Grube hinab oder vom Brett in das Grab rutschen, worauf er mit dem Brett zugedeckt wurde. Zinnburg zitiert dazu das alte Lied „Der Tod, der Brettlrutscher“, und die Redensart „er ist vom Brettl g’rutscht“ war im gesamten süddeutschen Raum gebräuchlich.
Die ersten Totenbretter waren einfach, weil sie ja schnell gerichtet werden mussten. Meist wurden nur drei Kreuze und die Anfangsbuchstaben des Namens eingeschnitzt. Nicht immer und überall aber beließ man das Brett im Grab. In der Oberpfalz und in Böhmen wurde es häufig verbrannt, andernorts wurde es an der Stelle angebracht, wo das Brett auf dem Weg zum Friedhof kurz abgestellt wurde („Totenrast“).
Häufig wurde das Totenbrett auf eine nasse Wiese oder über einen Wassergraben gelegt, damit eine schnelle Fäulnis die arme Seele aus dem Fegefeuer erlöst. (Marie Andree-Eysn berichtet in einem 1898 in Berlin veröffentlichten Beitrag, dass früher im Leopoldskroner Moor viele Totenbretter aufzufinden waren.) Denn am Friedhof ruhte der Leichnam des Verstorbenen unter dem Grabmal. An der Totenbrett-Stätte dachte sich der Volksglaube die Seele. Dort wurde auch für den Toten gebetet. Leopold Ziller vermutet in seinem „Salzburger Mundartwörterbuch“ wohl richtig, dass man über den Erlösungsgedanken hinaus das „Toutenbrett“ auch nicht mehr für andere Zwecke verwenden wollte. Es war jedenfalls „nicht irgendein Stück Müll“ (Harald Fähnrich).
Von den Totenbrettern ist schon in der „Lex Baiuvariorum“, einem altbairischen Gesetzeswerk aus dem 6. bis 8. Jahrhundert, die Rede. Robert Karl berichtet in seiner Chronik über das Elsbethener Bergland, dass dort „seit alters her“ die Bezeichnung „Rebretter“ verwendet wurde, und verweist auf das um 1200 entstandene Nibelungenlied, wonach der tote Siegfried auf einen „rê“ gelegt wurde. Bereits nach dem Ersten Weltkrieg sei aber im Elsbethener Bergland der Brauch verschwunden. Die Aufstellung erfolgte senkrecht oder waagrecht, gelegentlich wurden die Bretter im Wald auf den Boden gelegt. Zinnburg berichtet von einem solchen Bodenbrett am Voggenberg zwischen Elixhausen und Anthering für den 1943 im Zweiten Weltkrieg gefallenen Matthias Frauenlob.
Spätestens mit der Einführung des Sarges zu Beginn des 19. Jahrhunderts setzte der Wandel des Totenbrettes zum Gedenkbrett ein. In einer Verordnung, 1805 von den bayerischen Kanzeln verlesen, wurde „anbefohlen, daß hierfüro alle Leichen mit einem Deckel sollen begraben werden“, denn es sei „sehr ekelhaft, die Leichen ohne Deckel anzusehen“. Die Totenbretter wurden in der Folge zu einem nachträglich gefertigten, mit Malerei und Inschrift verzierten Denkzeichen in der Art eines Marterls, zumal man ja nun Zeit hatte, Namen, Daten, Sprüche und Symbole einzuschnitzen oder aufzumalen. Im Gegensatz zu früher wurden durch Wetterunbilden unansehnlich gewordene Bretter restauriert oder gar erneuert, und auch neue Formen konnten gewählt werden. Zinnburg erwähnt für Salzburg rund zwanzig unterschiedliche Modelle, Schmidt skizzierte allein für Sankt Englmar 32 Brettformen.
In Salzburg fanden sich die Totenbretter vorwiegend im nördlichen Mitterpinzgau und außer Gebirg – im nördlichen Flachgau, im Raum Aigen, Elsbethen, Koppl, Hof, Faistenau, aber auch im Tennengau. Zinnburg überliefert den Spruch für den 1908 verstorbenen Leoganger Georg Müllerauer:
Es lebet wohl Weib, Kind und alle Christen der Erd‘,
lebet alle wohl, es ist vollbracht, es kam für mich die
Todesnacht. Der du liesest diese Zeilen,
auch dich wird bald der Tod ereilen.
Vielleicht ist deine Sterbestund‘
in Gottesrat schon jetzt kund.
Der Brauch der Totenbretter entschlummerte in Salzburg allmählich. Marie Andree-Eysn konnte um 1900 noch 1.200 solcher Bretter nachweisen, Zinnburg wusste Mitte der 1970er-Jahre nur noch von 150, und diese Zahl dürfte sich inzwischen weiter verringert haben. Bis in die Gegenwart reichen die Gedenkbretter nur noch in Teilen des Mitterpinzgaues, etwa im Ortsteil Wildenthal in St. Martin bei Lofer. An einer erst 1989 an der Hochkönig-Bundesstraße in Maria Alm errichteten Kapelle erinnert ein Gedenkbrett an den 1871 verstorbenen Georg Marchner. Mühelos sind nur noch drei „Leichläden“ zu finden: im Stiegenhaus des Volkskundemuseums des Salzburger Museums Carolino Augusteum im Hellbrunner Monatsschlössl.
Die Kunstgeschichtlerin Hemma Ebner konnte in ihrem Beitrag zum Heimatbuch „Faistenau“, wo der Brauch bis 1956 gepflegt wurde, noch die Aussagen von Zeitzeugen wiedergeben: „Auf dem Totenbrett hat man den Verstorbenen bereits zu Hause aufgebahrt, und durch die Leichenstarre konnte man ihn am Tag der Beerdigung sehr gut mit dem Brett befördern.“ Totenbretter wurden an Baumstämmen an Wegkreuzungen senkrecht angebracht und sind nur noch im Lidauner Gebiet erhalten. Auf ihrer Skizze sind drei sehr einfach gestaltete Bretter zu sehen, die neben den Namen jeweils drei Kreuze, Jahreszahlen zwischen 1911 und 1925 sowie die Buchstaben RIP (requiescat in pace – er bzw. sie ruhe in Frieden) enthalten. Hemma Ebner zitiert die Meinung des Salzburger Geographen Josef Goldberger, wonach der Brauch der Totenbretter in Salzburg ziemlich gleichzeitig mit der Einführung der Sterbebilder abgekommen ist. Da die Sterbezettel aber schon weit länger bekannt waren, kann höchstens ein indirekter Zusammenhang bestehen.
In Sankt Englmar sind die Totenbretter immer noch für das Landschaftsbild charakteristisch, ohne dass man den Eindruck jener Fehlentwicklung gewinnt, wie sie Harald Fähnrich für die Oberpfalz beklagt: „Zielgruppe sind nicht mehr die heimischen Brauchträger, sondern außerhalb der Tradition stehende Touristen.“ Wenn schon nicht der Tod, so wird doch das Totengedenken zur Fremdenverkehrsattraktion. Im Bayerischen Wald erwiesen sich die Totenbretter dagegen als Impulsgeber für moderne Kunstwerke.
Sankt Englmar liegt mit einer Gesamtfläche von 37 Quadratkilometern auf 850 Metern Seehöhe (Ortszentrum) im Landkreis Straubing-Bogen (Kfz-Kennzeichen SR). In 28 Ortschaften und Weilern wohnen zusammen nicht einmal 1.500 Einwohner. In dieser hügeligen und traditionsbewussten Kleingemeinde stellte Dieter Schmidt 1993 eine Anzahl von 238 Totenbrettern an 57 Standorten fest. Im Jahr 2001 konnte man den Eindruck einer weiteren Vermehrung gewinnen.
In der Ortsmonographie Sankt Englmar berichtet der Autor Günther Kapfhammer, dass die Aufbahrung auf dem Totenbrett noch bis zum Ausbruch des Zweiten Weltkrieges (1939) bekannt war und gelegentlich noch in den 1950er-Jahren vorkam. Heute noch ist ein Brett zu sehen, auf dem 1935 ein Toter „vom Sterben bis zur Beerdigung geruht“ hat.
Übergangslos wurden auch im Bayerischen Wald die Totenbretter zu Gedenkbrettern, zunächst für die Familienangehörigen. Im 20. Jahrhundert wurden verstorbene Vereinsmitglieder auf diese Weise geehrt, was gleichförmige Gedenkbrettreihen zur Folge hatte. Vereinzelt werden Totenbretter an der Stelle des eingetretenen Todes als Ersatz für Kreuze oder Marterln angebracht. Vor 1900 sollen die Bretter nach Standeszugehörigkeit farbig bemalt worden sein: braunes Brett mit gelber Schrift für Handwerker, blaues Brett mit weißer Schrift für Bauern. Der von Dieter Schmidt untersuchte Altbestand widerspricht dieser Annahme: Die Bretter sind naturbelassen oder weiß gestrichen, die Schrift ist grundsätzlich schwarz.
Viele Englmarische Toten- bzw. Gedenkbretter sind mit Sprüchen versehen. Sie beweisen auch, dass in den letzten hundert Jahren nie eine längere Unterbrechungsphase eintrat. 156 Sprüche wurden von Schmidt notiert, lediglich zwölf weisen Textwiederholungen auf! Es wurde also nur sehr selten „abgeschrieben“. Vier- bis sechszeilige, meist gereimte Sprüche dominieren. Nur wenige Zweizeiler finden sich. Die längsten Texte haben 20, in einem Fall sogar 22 Zeilen. Ein Spruch aus Sankt Englmar (1956) soll die vorliegende Darstellung beschließen:
Das längste Ziel von Lebenstagen
Ist meist siebzig, achtzig Jahr.
Ein Inbegriff von tausend Plagen
Auch wenn es noch so glücklich war.
Geflügelt eilt mit uns die Zeit
In eine lange Ewigkeit.
[1684] Erstveröffentlicht in: Zeitschrift „Salzburger Volkskultur“, 26. Jg., November 2002, S. 72–76.