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Mittelalterliche Prozessionen. Eine regionale Kulturleistung Salzburgs (Stefan Engels) – Langtext

Die mittelalterliche Liturgie der abendländischen Kirche setzt sich – wie auch heute noch – aus zwei wesentlichen Feierformen zusammen: Die eucharistische Feier oder Messe, der Hauptgottesdienst, besteht aus einem Wortgottesdienst und der eigentlichen Eucharistiefeier, bei welcher Brot und Wein nach christlichem Glauben in Leib und Blut Christi verwandelt und der Gemeinschaft gereicht werden. Daneben gibt es das Stundengebet, das Offizium (divinum), bei welchem sich Kleriker und Mitglieder klösterlicher Gemeinschaften zu verschiedenen Zeiten des Tages zum regelmäßigen gemeinsamen Gebet versammeln. Aus dem im späten Mittelalter verkürzten Textbuch für die Kleriker, die nicht Mönche waren, entstand dafür der geläufige Ausdruck „Brevier“ (lat. brevis = kurz). Diese abendländische Liturgie wurde verlässlich Jahrhundert für Jahrhundert in Text und Musik tradiert. Selbst die komplizierten Melodien des gregorianischen Chorals blieben – abgesehen von kleineren oder größeren Varianten und Lesarten – das ganze Mittelalter hindurch nahezu unverändert. Das hinderte jedoch die einzelnen Diözesen und Klöster nicht, regionale Besonderheiten in ihren Riten zu entwickeln, denn die Liturgie war nicht so einheitlich, wie dies die vom Konzil von Trient im 16. Jahrhundert ausgehende große Liturgiereform durchsetzen konnte.

Doch diese mittelalterliche Liturgie musste dem Großteil der Bevölkerung fremd bleiben. Sie war lateinisch und wurde in – für viele unverständlichen uralten – Riten gefeiert, deren bedeutungsschwerer Sinn sich nur den gelehrten Klerikern und Mönchen erschließen konnte. Nicht nur das Stundengebet, das in den einzelnen Chorkapellen der verschiedenen Konvente gesungen wurde, sondern auch die feierlichen Gottesdienste fanden großteils unter Ausschluss der Öffentlichkeit statt. So war der Klerikerchor des Domes durch eine Wand, den so genannten „Lettner“, vom übrigen Kirchenraum getrennt. Die Kleriker der Domkirche feierten ihre Gottesdienste hinter diesem Lettner – verborgen vor dem Volk. Dieses konnte vor dem Lettner an einem Altartisch mit einem Kreuz, dem Kreuzaltar, mit einem eigenen Priester die Messe feiern. Die Konvente der Mönche und Nonnen beteten in eigenen Chorkapellen. Nur selten gab es Gelegenheit, dass die ganze christliche Gemeinschaft eines Ortes miteinander ein Fest beging: bei den großen Prozessionen im Verlauf des Kirchenjahres. Prozessionen waren außerhalb von Messe und Offizium die wichtigsten gottesdienstlichen Handlungen mit Gesängen. Sie fanden beispielsweise jeden Sonn- und Feiertag vor dem Hochamt statt und schmückten die hervorragenden Feste des Kirchenjahres aus. Hier konnte man die Liturgie frei gestalten. Vor allem die Prozession am Ostersonntag steht gelegentlich eigens in den liturgischen Büchern, mancherorts sogar unter Einschluss volkssprachlicher Lieder. Die uns allen heute geläufigste kirchliche Feier mit Prozession ist Fronleichnam. Und gerade dieses prägende kirchliche Fest zu Beginn des Sommers gab es zu Beginn des Mittelalters nicht. Es wurde in der Salzburger Kirchenprovinz erst um 1324 eingeführt und breitete sich nur langsam aus. Wohl aber kannte man die heute noch abgehaltenen Bittprozessionen an den drei Tagen vor Christi Himmelfahrt (feriae rogationum) und die Kerzenprozession an Mariä Lichtmess (2. Februar).

Was versteht man eigentlich unter einer Prozession? Das ist gar nicht so einfach zu beantworten, wie es zunächst scheint. Auf jeden Fall kann man Prozessionen als rituelle Umgänge innerhalb eines Gottesdienstes ansehen. Sie sind Teil eines Ritus oder eines religiösen Festes und können ein zentrales Element einer Feier sein. Meistens bewegen sich Prozessionen auf bestimmten, vorher festgelegten Wegstrecken, die nicht unbedingt an einen gottesdienstlichen Raum gebunden sein müssen, sondern sogar über das freie Feld außerhalb eines bewohnten Ortes führen können. Auf diese Weise verlegen sie einen religiösen Ritus von einem geheiligten in einen profanen Raum. Prozessionen sind zu allen Zeiten und in allen Kulturen nachweisbar. Sie entstehen aus einem Grundbedürfnis heraus. Sie sind öffentliche Manifestationen, Kundgebungen, ja auch „Demonstrationen“, deren außerchristliche Thematik wie Buße, Entsühnung oder Huldigung an den Herrscher in die christliche Liturgie Eingang gefunden haben. Warum das Mittelalter eine Vorliebe für Prozessionen im Gottesdienst hatte, ist nicht einfach zu beantworten. Für die Liturgie sind sie eigentlich nicht notwendig, sondern oft nur ein ausschmückendes Element. Gelegentlich hat man sogar den Eindruck, dass die Thematik eines Festes als bloßer Vorwand gedient hat, eine Prozession einzuführen.

Interessant ist nun, dass liturgische Prozessionen im Mittelalter nicht etwa nur ein „geistlicher Spaziergang“ waren, bei dem gebetet und gesungen wurde, sondern immer auch Elemente von Bewegung, Schau und Spiel enthielten. Sie wurden so ausgestaltet, dass sie ein Geschehen in einem quasi liturgischen Drama nachvollzogen. Dieses Geschehen sollte auf diese Weise vergegenwärtigt werden. In diesem Sinne bedeuten Prozessionen auch ein gemeinsames Erleben eines Mysteriums. Dies unterscheidet sie von anderen Andachtsformen wie etwa Wallfahrten. Weil Prozessionen gleichsam liturgische Spiele sind, folgen sie in gewissem Maße auch Gesetzen und Regeln, die für die Aufführungen von Theaterstücken gelten: Es gibt Rollenbücher, welche die genaue Abfolge enthalten. Man findet Prozessionsordnungen in verschiedenen liturgischen Büchern, so im „Rituale“ (einem Buch für alle Riten außerhalb von Messe und Stundengebet), im „Brevier“ (enthält alle Texte des Stundengebetes) oder im „Antiphonale“ (enthält die Gesänge zum Stundengebet). Es gibt aber auch ein eigenes Buch, das nur Prozessionsordnungen enthält: das „Processionale“. Zu einem Spiel sind Mitwirkende nötig. Hauptteilnehmer sind in der Regel der Zelebrant und der Klerus, aber es können auch alle anderen Anwesenden einbezogen werden. Als Kulisse dient die Umgebung, in welche die Prozession führt: der Kirchenraum, die Straße, der ganze Ort. Die Inszenierung des Spiels würden wir heute als „Regietheater“ bezeichnen. Beherrschendes Gestaltungsmittel ist die Symbolsprache der Liturgie. Geschehnisse werden nicht als vergangenes historisches Geschehen dargestellt, sondern vergegenwärtigt (aktualisiert). Aufgrund der verschiedenen Örtlichkeiten ergeben sich natürlich verschiedene Möglichkeiten für die Gestaltung von Prozessionen. Daher sind die Prozessionsordnungen in den einzelnen Diözesen und Klöstern verschieden, gelten aber als offizielle Liturgie.

Die Abfolge der Prozession folgt meist einem einheitlichen Schema:

Einige der Prozessionen sind integrierter Teil einer Liturgie selbst geworden und lassen sich von dieser nicht mehr trennen. Die wichtigsten dieser Prozessionen sind:

Dazu kommen die „litania maior“ (25. April, Fest des Heiligen Markus) und die schon erwähnte Bittprozession vor Christi Himmelfahrt, die „litania minor“, an den „feriae rogationum“ (den Bitttagen), sowie das später entstandene Fronleichnamsfest.

Die Gesangstexte zu allen Prozessionen, eigene längere Antiphone (freie Gesänge oder Kehrverse) sowie Responsorien (Antwortgesänge auf eine Lesung, vorgetragen im Wechsel mit einem Vorsänger) aus dem Offizium wurden zunächst relativ einheitlich übernommen, später ausgestaltet und regional verschieden ergänzt und ausgeschmückt. Die Gestaltung der Prozession erfolgte mit einem Grundbestand an Gesängen, dem weitere Gesänge, meist aus dem Repertoire des Stundengebetes, hinzugefügt wurden. Aufbau und Abfolge wurden in der Regel in den liturgischen Reformen des 12. Jahrhunderts grundgelegt und beibehalten. Das späte Mittelalter trug zur Ausgestaltung einer Dramatisierung der Gesänge in Form einer Aufteilung der Texte auf verschiedene Ausführende bei und bereicherte die Ordnung durch Einfügen von weiteren lateinischen und volksprachlichen Liedern. Diese regional verschieden ausgeprägten Riten bildeten als eigene schöpferische Leistungen der lokalen Kirchen eine bunte Vielfalt in der Einheit der abendländischen Liturgie, so auch in der Erzdiözese Salzburg. Der Pflege des liturgischen Gesanges wurde hier besonderes Augenmerk geschenkt, vor allem seit Beginn des 12. Jahrhunderts, als Augustiner Chorherren das Domkapitel bildeten.

Wie erwähnt, finden wir die Prozessionsordnungen in den liturgischen Büchern. Für Salzburg sind die wichtigsten:

Die Feier der Karwoche

Kaum ein Fest der Christenheit im Laufe des liturgischen Jahres wurde und wird so intensiv gefeiert wie das Leiden, das Sterben und die Auferstehung Christi in der Karwoche und an Ostern. Ausgehend von den offiziellen liturgischen Gesängen entstand in der mittelalterlichen Kirche eine Fülle von lateinischen und deutschen Gesängen und Liedern, um die heiligsten Geheimnisse der Christenheit würdig zu begehen. Hier finden wir besonders viele regionale Ausprägungen. Hier war auch die Bevölkerung besonders intensiv in die Feierlichkeiten eingebunden. Begleiten wir also die Salzburger ein wenig durch diese Heilige Woche.

Die Prozession am Palmsonntag

Besonders eindrucksvoll muss die Prozession am Palmsonntag gewesen sein. Ihre Tradition ist uralt. Schon die Pilgerin Egeria im 4. Jahrhundert berichtet, dass die Prozession in Jerusalem als Erinnerung an den Einzug Christi in die Heilige Stadt abgehalten worden ist. Die mittelalterliche Prozession hat sich mit kleinen Varianten im ganzen mitteleuropäischen Raum ausgebildet. Sie ist ein selbstständiger liturgischer Akt, der zu einem regelrechten komplizierten allegorischen Mysterienspiel mit eigener Kreuzverehrung ausgestaltet wurde. Dabei handelt es sich keineswegs um eine Inszenierung im Sinn eines barocken Bühnenspiels, sondern um eine Meditation einer Mysterienhandlung.

Aus einem Codex aus der ersten Hälfte des 16. Jahrhunderts mit dem Titel „Caerimoniale et observationes precum, processionum et exequiarum pro ecclesia Salisburgensi“ (Zeremonienbuch und Gewohnheiten hinsichtlich der Gebete, Prozessionen und Totenfeiern für die Salzburger Kirche[4064]) erfahren wir interessante Details über die Gestaltung der Palmprozession in Salzburg. Erzbischof Matthäus Lang (1519–1540) pflegte in deren Verlauf auf den Nonnberg zu reiten, um dann feierlich in die Stadt einzuziehen: Der Nonnberg symbolisiert den Ölberg, Salzburg vertritt die Stadt Jerusalem, der Erzbischof stellt Christus dar. Ein Druck aus dem Jahre 1554 mit dem komplizierten Titel „Liber canticorum, quae vulgo responsoria vocantur secundum anni observationem et ordinem Metropolitanae Ecclesiae Salzburgensis, dominicis et festis diebus hactenus observatum“ (Buch der Gesänge, die gemeinhin „Responsorien“ genannt werden, gemäß der Gewohnheit und der bisher gepflegten Liturgieordnung der Salzburger Metropolitankirche an Sonn- und Feiertagen) weist allerdings darauf hin, dass eine Prozession zum Kloster Nonnberg nur dann stattfand, „si aeris temperies permittit“ (wenn es das Wetter bzw. die Lufttemperatur erlaubt), was auf die unsichere Wettersituation damals wie heute anspielt.

Schon die der Palmsonntagsliturgie vorausgehende feierliche Weihe der Palmzweige in Form eines Wortgottesdienstes ist Teil des Spiels. Der Antwortgesang auf die Lesung des Wortgottesdienstes, das Responsorium „Collegerunt pontifices“, beschreibt mit den Worten des Johannesevangeliums die Sitzung des Hohen Rates, in deren Verlauf beschlossen wurde, Jesus zu töten:

„Collegerunt pontifices et pharisei concilium et dicebant: Quid facimus, quia hic homo multa signa facit. Si dimittimus eum sic, omnes credent in eum. Ne forte veniant romani et tollant nostrum locum et gentem. V. Unus autem ex ipsis, cayphas nomine, cum esset pontifex anni illius, prophetavit dicens: expedit vobis ut unus moriatur homo pro populo et non tota gens pereat. Ab illo ergo die cogitaverunt interficere eum dicentes: Ne forte veniant romani ...“

(Da beriefen die Hohenpriester und die Pharisäer eine Versammlung ein. Sie sagten: Was sollen wir tun? Dieser Mensch tut viele Zeichen. Wenn wir ihn gewähren lassen, werden alle an ihn glauben. Womöglich werden die Römer kommen und uns die heilige Stätte und das Volk nehmen. Einer von ihnen, Kajaphas, der Hohepriester jenes Jahres, redete prophetisch und sagte zu ihnen: Es ist besser für euch, wenn ein einziger Mensch für das Volk stirbt, als wenn das ganze Volk zugrunde geht. Von diesem Tag an gedachten sie, ihn zu töten und sprachen: Womöglich werden die Römer kommen ...) (Joh. 11, 47–50, 53)

Als Evangelium wird der Einzug Jesu in Jerusalem verlesen. Die Antiphon „Ante sex dies“, die nach der Weihe der Palmzweige während der Austeilung der Zweige gesungen wird, beschreibt allgemein, dass Jesus sechs Tage vor dem Osterfest in Jerusalem einzog und von den Kindern mit Hosannarufen empfangen wurde. Es ist eine Art Einführung in den Festgedanken, den Einzug Jesu als König, der dann nach Weihe und Austeilung der Palmzweige symbolisch durchgeführt wird.

„Ante sex dies solemnis pasce quia venit dominus in civitatem iherusalem, occurrerunt ei pueri, et in manibus portabant ramos palmarum et clamabant voce magna dicentes: osanna in excelsis. Benedictus qui venisti in multitudine misericordie: osanna in excelsis.“

(Sechs Tage vor dem Osterfest, als Jesus in die Stadt Jerusalem kam, liefen ihm die Kinder entgegen, und in ihren Händen trugen sie Palmzweige, und sie riefen mit lauter Stimme: Hosanna in der Höhe. Gesegnet bist du, der du voll von Barmherzigkeit gekommen bist. Hosanna in der Höhe.)

Nun beginnt die Prozession. Die Gesänge aus dem Grundbestand der Prozession sind durchaus chronologisch sinnvoll geordnet: Die Antiphon „Cum appropinquaret“ beschreibt mit den Worten des Markusevangeliums, wie Jesus sich Jerusalem nähert und die Jünger einen jungen Esel holen lässt, auf den er sich setzt, um unter der Akklamation des Volkes in Jerusalem einzureiten.

„Cum appropinquaret Dominus Ierosolimam, misit duos ex discipulis suis dicens: Ite in castellum, quod econtra vos est, et invenietis pullum asinae alligatum, super quem nullus hominum sedit; solvite et adducite mihi. Si quis vos interrogaverit, dicite: opus Domini est. Solventes adduxerunt ad Iesum et imposuerunt sibi vestimenta, et sedit super eum; alii expandebant vestimenta sua in via, alii ramos de arboribus sternebant. Et qui sequebantur, clamabant: Osanna, benedictum qui venit in nomine Domini, benedictum regnum patris nostri David: Osanna in excelsis, miserere nobis fili David.“

(Als sich Jesus Jerusalem näherte, schickte er zwei seiner Jünger voraus und sagte: Geht in das Dorf, das vor euch liegt. Dort werdet ihr einen jungen Esel angebunden finden, auf dem noch nie ein Mensch gesessen hat. Bindet ihn los und bringt ihn her! Wenn euch jemand fragt, dann sagt: Der Herr braucht ihn. Sie banden ihn los und brachten ihn zu Jesus. Dann legten sie ihre Kleider auf das Tier, und Jesus setzte sich darauf. Die einen breiteten ihre Kleider auf der Straße aus, andere streuten Baumzweige aus. Und die ihm folgten, riefen: Hosanna! Gesegnet sei er, der kommt im Namen des Herrn. Gesegnet sei das Reich unseres Vaters David. Hosanna in der Höhe. Erbarme dich unser, Sohn Davids.) (vgl. Mk. 11, 1–10)

Bei der folgenden Antiphon „Cum audisset populus“ geht es mit den Worten aus dem Johannesevangelium darum, dass das anwesende Volk auf den Einzug aufmerksam wird und Jesus entgegeneilt.

„Cum audisset populus, quia Iesus venit Ierosolimam, acceperunt ramos palmarum et exierunt ei obviam et clamabant pueri dicentes: Hic est, qui venturus est in salutem populi. Hic est salus nostra et redemptio Israel. Quantus est iste, cui throni et dominationes occurrunt. Noli timere filia Syon, ecce rex tuus venit tibi sedens super pullum asinae, sicut scriptum est. Salve rex, fabricator mundi, qui venisti redimere nos.“

(Als das Volk hörte, Jesus komme nach Jerusalem, nahmen sie Palmzweige, zogen hinaus ihm entgegen, und die Kinder riefen und sprachen: Dieser ist es, der zum Heil seines Volkes kommen wird! Dieser ist das Heil und die Erlösung Israels! Wie groß ist er, dem Throne und Mächte entgegeneilen. Fürchte dich nicht, Tochter Zion! Siehe, dein König kommt zu dir; er sitzt auf dem Füllen einer Eselin, so wie geschrieben steht. Sei gegrüßt, Erschaffer der Welt, der du gekommen bist, uns zu erlösen.) (nach Joh. 12, 12–15)

Inzwischen ist die Prozession an der statio angelangt, wo sich ausgebreitete Teppiche und ein verhülltes Kreuz befinden. Die abschließenden Rufe dieser Antiphon „Hic est ...“(Dieser ist es …) und „Quantus est“ (Wie groß ist er, …) werden dramatisierend von Knaben gesungen, die mit den Fingern zum Kreuz hinzeigen bzw. betend niederknien.

Eine weitere Serie von Antiphonen beschreibt die Volksmenge, die sich mit Jubelrufen um Jesus drängt.

„Coeperunt omnes turbae descendentium gaudentes laudare Deum voce magna super omnibus, quas viderant virtutibus dicentes: Benedictus, qui venit rex in nomine Domini, pax de coelis et gloria in excelsis.“

(Die ganze Menge, die hinabzog, begann freudig und mit lauter Stimme, Gott zu loben wegen all der Wundertaten, die sie erlebt hatten. Sie riefen: Gesegnet sei der König, der kommt im Namen des Herrn. Im Himmel Friede und Herrlichkeit in der Höhe!) (vgl. Lk. 19, 37–38)

„Turba multa, quae convenerat ad diem festum, clamabat Domino: Benedictus, qui venit in nomine Domini, osanna in excelsis.“

(Die Volksmenge, die zum Fest zusammengekommen war, rief dem Herrn zu: Gesegnet sei er, der kommt im Namen des Herrn. Hosanna in der Höhe.) (vgl. Joh. 12, 12–13)

„Ocurrunt turbae cum floribus et palmis redemptori Domino et victori triumphanti digna dant obsequia; filium Dei olim gentes praedicant, et in laude Christi voces tonant per iubila: Osanna.“

(Es läuft die Volksmenge mit Blumen und Zweigen ihrem Erlöser und Herrn entgegen, und dem Sieger bringt sie würdige Huldigung dar. Dem Sohn Gottes verkünden einst die Völker, und zum Lobe Christi erklingen jubelnd ihre Stimmen: Hosanna.)

Die Sänger stimmen nun eine neue Antiphon an:

„Fulgentibus palmis prosternimur advenienti Domino, huic omnes occuramus cum hymnis et canticis glorificantes et dicentes: benedictus Dominus.“

(Mit leuchtenden Zweigen werfen wir uns nieder vor dem Herrn, der da kommt, ihm laufen wir alle entgegen, loben ihn mit Hymnen und Liedern und singen: Gepriesen sei Gott.)

Bei dem Wort „prosternimur“ (werfen wir uns nieder) knien alle zur Anbetung nieder und das Kreuz wird – ähnlich wie am Karfreitag – enthüllt und in die Höhe gehoben. Dazu singt man die zwei Schlussstrophen des Passionshymnus „Vexilla regis“:

„O crux ave, spes unica hoc passionis tempore, auge piis iustitiam reisque dona veniam. Te summa Deus trinitas collaudat omnis spiritus, quos per crucis misterium salvas rege per secula.“

(Sei gegrüßt, oh Kreuz, einzige Hoffnung dieser Leidenszeit, vermehre den Frommen die Gerechtigkeit, den Sündern gib Gnade. Dich höchster Gott, Dreifaltigkeit, lobe jedes Lebewesen. Du rettest alles durch das Mysterium des Kreuzes, bewahre uns in Ewigkeit.)

Für die mittelalterliche Grundhaltung ist es bezeichnend, dass Christus in diesem Mysterienspiel als Gekreuzigter in die Stadt einzieht und nicht, wie wir es erwarten würden oder wie in späterer Zeit, auf einem Esel sitzend. Dies unterscheidet die Mysterienhandlung von einem bloßen Nachspielen historischer Ereignisse. Jerusalem, so ist gemeint, das sind wir, das ist jetzt. Der Gekreuzigte kommt in diesem Augenblick in unsere Stadt, um uns zu erlösen, so wie er auch damals in das historische Jerusalem eingezogen ist. Als Gekreuzigter wird er auch von den Knaben in den beiden Antiphonen „Pueri hebreorum vestimenta“ und „Pueri hebreorum tollentes“ geehrt, die während des Gesanges Kleider und Zweige vor dem Kreuz ausbreiten.

„Pueri hebraeorum vestimenta prosternebant in via et clamabant dicentes: Osanna filio David, benedictus, qui venit in nomine Domini. Pueri Hebraeorum tollentes ramos olivarum, obviaverunt Domino clamantes et dicentes: Osanna in excelsis. “

(Die Kinder der Hebräer rissen Palmzweige ab, liefen dem Herrn entgegen und riefen: Hosanna in der Höhe. Die Kinder der Hebräer breiteten ihre Gewänder auf den Weg und riefen: Hosanna dem Sohne Davids. Gesegnet, der kommt im Namen des Herrn.)

Von tiefer Symbolik ist die dramatisierte Ausführung der Antiphon „Scriptum est enim“, die Satz für Satz mittels Körpersprache interpretiert wird.

„Scriptum est enim: percutiam pastorem et dispergentur oves gregis. Postquam autem surrexero, praecedam vos in Galileam. Ibi me videbitis, dicit Dominus.“

(Denn es steht geschrieben: Ich werde den Hirten schlagen und die Schafe der Herde werden sich zerstreuen. Wenn ich aber auferstanden bin, werde ich euch nach Galiläa vorangehen. Dort werdet ihr mich sehen, spricht der Herr.)

Der Zelebrant, der Christus verkörpert, wirft sich zu Beginn des Gesanges vor dem Kreuz nieder. Gemäß den Worten „percutiam pastorem“ (Ich werde den Hirten schlagen) gibt ihm einer der Kleriker mit dem Palmzweig, den er in der Hand hält, einen leichten Schlag. Der Zelebrant singt selbst die Worte „Postquam autem surrexero“ (Wenn ich aber auferstanden bin) und unterstreicht diese Aussage, indem er sich vom Boden erhebt. Der Chor setzt mit „Ibi me videbitis ...“ (Dort werdet ihr mich sehen ...) fort und beendet die Antiphon.

In einer feierlichen Oration wird noch einmal die Allegorie der Prozession gedeutet:

„O Gott, in wunderbarer Ordnung Deiner Ratschlüsse wolltest Du auch durch leblose Dinge Dein Erlösungswerk veranschaulichen; wir bitten Dich: Gib, dass die opfergesinnten Herzen Deiner Gläubigen zu ihrem Heil verstehen, was geheimnisvoll angedeutet wird dadurch, dass die Volksschar heute, durch himmlische Erleuchtung begeistert, dem Erlöser entgegen zog und mit Palmen und Ölzweigen Seinen Weg bestreute. Die Palmzweige deuten nämlich den Sieg an, der über den Fürsten des Todes errungen werden sollte; die Ölzweige aber verkünden gleichsam, dass die geistliche Salbung gekommen ist. Denn schon damals ahnte die beglückte Volksmenge den vorbildlichen Sinn: Unser Erlöser werde aus Erbarmen mit dem Elend der Menschen für das Leben der ganzen Welt mit dem Fürsten des Todes kämpfen und sterbend über ihn triumphieren. Und darum brachten sie zur Huldigung jene Zweige herbei, die Seinen glorreichen Sieg wie auch die Fülle Seiner Barmherzigkeit sinnbilden sollen. Wir nun, die den vollen Glauben besitzen, erkennen klar die Vorbedeutung und ihre Erfüllung und bitten Dich flehentlich, heiliger Herr, allmächtiger Vater, ewiger Gott, durch Ihn, unsern Herrn Jesus Christus, dass wir in Ihm und durch Ihn, zu dessen Gliedern Du uns gemacht hast, den Sieg über die Herrschaft des Todes erringen und würdig werden, an Seiner glorreichen Auferstehung teilzunehmen: Darum bitten wir durch eben diesen Herrn Jesus Christus, Deinen Sohn, der mit Dir lebt und herrscht in der Einheit des Heiligen Geistes, Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.“

Die statio wird mit dem Hymnus des Theodulf von Orléans († 821) „Gloria laus et honor“ abgeschlossen, der dem Grundbestand der Prozessionsgesänge angehört:


      
„Gloria, laus et honor tibi sit, Rex Christe, redemptor.
Cui puerile decus prompsit osanna pium.
Israel es tu rex, Davidis et inclita proles.
Nomine qui in Domini, rex benedicte venis
Coetus in excelsis te laudat coelicus omnis,
et mortalis homo, et cuncta creata simul.
Plebs Hebrea tibi cum palmis obvia venit.
Cum prece, voto, hymnis, adsumus ecce tibi.
Hi tibi passuro solvebant munia laudis.
Nos tibi regnanti pangimus ecce melos.
Hi placuere tibi, placeat devotio nostra,
rex bone, rex clemens, cui bona cuncta placent.“
      

    


      
(Ruhm, Preis und Ehre sei Dir Christus, König und Erlöser,
dem die Zierde der Kinder ihr frommes Hosanna darbrachte.
Du bist Israels König, Du Davids erhabener Spross,
der Du im Namen des Herrn, gepriesener König, kommst.
Es lobt Dich die ganze himmlische Schar in der Höhe,
doch auch der sterbliche Mensch und alle Geschöpfe zugleich.
Das hebräische Volk kam Dir mit Palmzweigen entgegen.
Mit Bitten, Gebeten und Hymnen für Dich sind auch wir hier zugegen.
Dir, der zum Leiden Du gingst, brachten diese würdiges Lob.
Dir, der Du jetzt herrschst, bringen wir jetzt unser Lied.
Ihr Lob gefiel Dir, so möge auch unser Gebet Dir gefallen,
König, Du Gütiger, Du voller Huld, dem alles Gute gefällt.)
      

    

Nun setzt sich die Prozession neuerlich in Bewegung. Das Kreuz wird feierlich in die Kirche getragen. Der Kirchenraum kann hier als Symbol für die Stadt Jerusalem oder den Tempel angesehen werden. Das vorgesehene Responsorium „Ingrediente Domino in sanctam civitatem“ ist bis heute für diesen Moment vorgesehen und beschreibt den Einzug Jesu in die Stadt und neuerlich den Jubel der Menge.

„Ingrediente Domino in sanctam civitatem, Hebraeorum pueri resurrectionem vitae pronuntiantes, cum ramis palmarum: Osanna clamabant, in excelsis. V. Cumque audissent, quia Iesus venit Ierosolymam, exierunt obviam ei, cum ramis palmarum: Osanna clamabant, in excelsis.“

(Als der Herr in die Heilige Stadt einzog, verkündeten die Kinder der Hebräer im Voraus die Auferstehung des Lebens; mit Palmzweigen in den Händen riefen sie: Hosanna in der Höhe. Als sie hörten, dass Jesus nach Jerusalem komme, gingen sie ihm mit Palmzweigen entgegen und riefen: Hosanna in der Höhe.)

Ein kurzes Gebet des Zelebranten schließt die Palmprozession ab:

„Adiuva nos, Deus salutaris noster, et ad beneficia recolenda, quibus nos instaurare dignatus es, tribue venire gaudentes. Per Dominum nostrum Jesum Christus filium tuum, qui tecum vivit et regnat in unitate Spiritus Sancti, Deus per omnia secula seculorum. Amen. “

(Hilf uns, Gott unseres Heiles und lass uns freudig zu den Wohltaten gelangen, durch die du uns erneuern wolltest. Durch unseren Herrn Jesus Christus, Deinen Sohn, der mit Dir lebt und herrscht in der Einheit des Heiligen Geistes, Gott von Ewigkeit zu Ewigkeit. Amen.)

Es ist für uns nur mehr schwer nachzuvollziehen, wie sich eine Palmsonntagsfeier in Salzburg wirklich abgespielt hat. Das kunstvolle Spiel verlangte in seiner Anlage sicherlich eine intensive Vorbereitung und Einübung. Tatsache ist, dass bei der Prozession alle Ordenskonvente – auch die Frauenkonvente – die Klausur verlassen haben und anwesend waren und so die Einheit des Volkes Gottes manifestierten. So wurde dieser liturgische Akt zu einer gemeinschaftlichen Feier der Ortskirche. Es war ein heiliges Spiel, ein kultisches Mysterium.

Die Prozession am Ende der Mette vom Gründonnerstag bis Karsamstag

Einen völlig anderen Charakter hat die Prozession am Ende der Trauermette (von „matutin“: die erste Gebetsstunde am Morgen, nicht nur an Weihnachten) vom Gründonnerstag bis zum Karsamstag, die wie kein anderer liturgischer Akt Einfluss auf die Entwicklung volkssprachlicher liturgischer Lieder gehabt hat. Matutin und Laudes bilden zusammen die erste Gebetsstunde, die aber während der Fastenzeit schon am Vorabend gesungen wurden. Im Chor steht ein Leuchter (Triangulum) mit 24 Kerzen, die nach und nach ausgelöscht werden, so dass am Schluss des Gottesdienstes der Raum völlig dunkel ist. Daher hat dieser Gottesdienst den Namen „Finstermette“ erhalten. Alle Anwesenden beginnen mit einem dreifachen Kirchenumgang, in dessen Verlauf der damals dem Heilige Gregor zugeschriebene Hymnus „Rex Christe factor omnium“ angestimmt wird.

„Rex Christe factor omnium, redemptor et credentium, placare votis supplicum te laudibus colentium.“

(König Christus, Erschaffer aller Dinge, Erlöser derer, die an Dich glauben, lass Dich versöhnen von den innigen Gebeten, derer, die Dich loben.)

Dieser Hymnus war Ausgangspunkt für einige Neukompositionen, die belegen, welch tiefen Eindruck diese Prozession gemacht haben muss. Für den Kirchenumgang war offensichtlich eine Beteiligung der Gemeinde erwünscht. Aus diesem Wunsch heraus entstand wohl im 14. Jahrhundert im böhmischen Raum der Ruf „Laus tibi Christe“, der als Refrain für alle Anwesenden gedacht war und nach jeder Strophe von „Rex Christe“ gesungen wurde:

„Laus tibi Christe, qui pateris in cruce pendens pro servis, cum patre qui regnas in celis, nos reos salva in terris.“

(Ehre sei dir Christus, der du littest am Kreuz hängend für deine Diener, der du herrschst mit dem Vater im Himmel, heile uns Sünder auf Erden.)

Am Ende des 14. Jahrhunderts sind uns in Salzburg die Werke eines bedeutenden Mannes überliefert, den wir nur unter seinem Pseudonym „Mönch“ kennen, und dessen Identität weiterhin ungeklärt ist. Fest steht, dass er im Umkreis des damaligen Erzbischofs Pilgrim (1366–1396) wirkte. 49 geistliche und 57 weltliche Werke sind uns von ihm überliefert. Dieser „Mönch von Salzburg“ schrieb nun seinerseits zu beiden Fassungen zwei deutsche Gesänge. Der eine „Kunig Christe“ ist eine geschickte deutsche Übertragung von „Rex Christe“. Die erste Strophe lautet:

„Kunig Christe, macher aller ding, du hast erledigt mit guetem geling den menschen aus der helle qual, den Adam bracht mit seinem vall.“

Der andere Gesang „Eia der großen liebe“ ist eine freie Dichtung auf die Melodie von „Laus tibi Christe“. Die den Gesang abschließenden Kyrierufe könnten der Rest eines Volksrufes sein.

„Eia der grossen liebe, die dich gepunden hat gar hertikleich einem diebe warer mensch und warer got, du hast herr gegeben mit deinem bluette rot uns das ewig lebenn; dankch sei dir, milter got. Kyrie eleison, Christe eleison, Kyrie eleison.“

In der Handschrift cgm 715, fol. 2 der Bayerischen Nationalbibliothek heißt es: „Rex Christe factor omnium den ympnum list oder singt czw den finstern metten so man umb die kirchen get vnd das laus tibi Christe singet.“

Ob die Lieder des Mönchs tatsächlich in der Liturgie Verwendung fanden, ist fraglich. Die Praxis, die beiden liturgischen Stücke Lateinisch oder Deutsch auch mit neuen Strophen zu versehen und miteinander zu kombinieren, war jedoch im Mittelalter im Rahmen der offiziellen lokalen Liturgieordnungen durchaus üblich.

„depositio crucis“ und „elevatio crucis“, „visitatio sepulchri“

Eine andere Art von liturgischem Spiel begegnet uns in den Prozessionen der „depositio crucis“ und „elevatio crucis“ sowie der „visitatio sepulchri“. Hier handelt es sich um Prozessionen, die an verschiedenen Tagen in Zusammenhang mit der offiziellen Liturgie stattfinden, mit dieser aber nur indirekt zu tun haben, und miteinander eine eigene – man möchte sagen – „parallele“ Liturgie bzw. ein eigenes Spielgeschehen bilden: Am Ende des Karfreitagsgottesdienstes trägt man das Kreuz, das vorher in der Liturgie von allen feierlich verehrt worden ist, an einen als „sepulchrum“ bezeichneten Aufbewahrungsort, wo es niedergelegt und mit einem Tuch bedeckt wird („depositio crucis“). Am frühen Morgen des Ostersonntags nimmt ein Priester noch vor Ankunft der Kleriker bzw. des Mönchskonventes das Kreuz aus dem Grab – ein Symbol für die Auferstehung Christi in der Stille der Nacht („elevatio crucis“). Am Ende der Matutin zieht der Konvent in einer Prozession zum (jetzt leeren) Grab, wo der Besuch der Frauen am Grab („visitatio sepulchri“), wie es die Heilige Schrift berichtet, in einer Art Spiel dargestellt wird. Ein Kleriker in einer Albe, einem langen weißen Leinengewand, das während des Gottesdienstes unter dem Messgewand getragen wird, stellt sich zum Grab. Er repräsentiert den Engel. Drei Kleriker haben den Vespermantel, die „cappa“, angelegt, einen Umhang für feierliche Gottesdienste außerhalb der Messe. Sie spielen die mit Umhängen bekleideten Frauen. Der Chor stimmt zwei Antiphone aus dem österlichen Stundegebet an:

„Dum transisset sabbatum, Maria Magdalena et Maria Jacobi et Salome emerunt aromata, ut venientes ungerent Jesum, alleluia, alleluia.“

(Als der Sabbat vorüber war, kauften Maria aus Magdala, Maria, die Mutter des Jakobus, und Salome wohlriechende Öle, um damit zum Grab zu gehen und Jesus zu salben.)

„Maria Magdalena et altera Maria ferebant diluculo aromata dominum quaerentes in monumento.“

(Maria aus Magdala und die andere Maria brachten in der Morgendämmerung wohlriechende Öle und suchten den Herrn im Grabe.) (vgl. Mt. 28, 1)

Nun singen die Kleriker, welche die Frauen darstellen:

„Quis revolvet nobis ab ostio lapidem, quem tegere sanctum credimus sepulchrum.“

(Wer könnte uns den Stein vom Eingang wegwälzen, der, wie wir glauben, das Heilige Grab bedeckt.) (vgl. Mk. 16, 3)

Der Engel beginnt zu singen:

„Quem quaeritis, o tremulae mulieres, in hoc tumulo gementes?“

(Wen sucht ihr, Frauen, zitternd und voller Trauer an diesem Grab?)

Die Frauen:

„Jesum Nazarenum crucifixum quaerimus.“

(Wir suchen Jesus, den Gekreuzigten.)

Der Engel:

„Non est hic, quem quaeritis, sed cito euntes nunciate discipulis eius et Petro, quia surrexit Jesus.“

(Der, den ihr sucht, ist nicht hier. Nun aber geht schnell und verkündet seinen Jüngern und Petrus, dass Jesus auferstanden ist.) (vgl. Mk. 16, 6–7)

Die Kleriker, welche die Frauen darstellen, haben das Grab mit Weihrauch inzensiert und wenden sich rasch zu den übrigen Anwesenden:

„Ad monumentum venimus gementes, angelum domini sedentem vidimus et dicentem, quia surrexit Jesus.“

(Wir kamen zitternd zum Grab. Dort sahen wir den Engel des Herrn sitzen. Er sagte, dass Jesus auferstanden sei.)

Der Chor beginnt mit der Beschreibung eines anderen Ereignisses, das uns das Johannesevangelium schildert:

„Currebant duo simul et ille alius discipulus praecucurrit citius Petro et venit prior ad monumentum, alleluia.“

(Die beiden [Petrus und Johannes] liefen [zum Grab]. Und jener andere Jünger lief schneller als Petrus und kam als erster zum Grab.) (Joh. 20, 4)

In der Tat laufen nun zwei Kleriker zum Grab. Wie in der Heiligen Schrift läuft derjenige, der den Johannes spielt, schneller. Er wartet aber am Grab auf Petrus. Beide heben die Leinentücher auf, mit denen das Kreuz bedeckt war, und singen:

„Cernitis, o socii, ecce linteamina et sudarium, et corpus non est in sepulchro inventum.“

(Seht, Freunde, hier liegen die Leinenbinden und das Schweißtuch, aber seinen Leichnam finden wir nicht im Grab.)

Der Chor setzt fort:

„Surrexit enim sicut dixit dominus, praecedet vos in Galileam, alleluia, ibi eum videbitis, alleluia, alleluia, alleluia.“

(Der Herr ist auferstanden, wie er gesagt hat, er geht euch voraus nach Galiläa, alleluja, dort werdet ihr ihn sehen, alleluja, alleluja, alleluja.) (Mk. 16, 7)

Schon im liber ordinarius aus dem 12. Jahrhundert heißt es an dieser Stelle ausdrücklich, dass das Volk (populus) das Lied „Christ ist erstanden“ anstimmen soll:

„Christ ist erstanden von der Marter alle, des sollen wir alle froh sein, Christ will unser Trost sein. Kyrieleis.“

Seine Erwähnung im liber ordinarius ist eine der ältesten dieses berühmten Kirchenliedes, das bis zum heutigen Tag in den Kirchen gesungen wird. Der Konvent begibt sich wieder in das Presbyterium, wo man das „Te Deum“ anstimmt, und mit dem Gesang der Laudes das feierliche österliche Stundengebet fortgesetzt wird. Dieses Osterspiel ist das älteste liturgische Spiel überhaupt und Grundlage für andere dramatische Darstellungen. Es war bis zur Einführung des römischen Ritus unter Erzbischof Wolf Dietrich (1587–1612) ab 1595 Teil der offiziellen Salzburger Liturgie. Aber auch im nachtridentinischen Rituale, das 1640 unter Erzbischof Paris Lodron (1619–1653) erschien, erinnert eine „Ordo recipiendi Ss. Corpus è Sepulchro in sancta nocte Paschae“ (Ordnung der Wegnahme des heiligsten Leibes aus dem Grab in der heiligen Osternacht), an dessen Ende weiterhin das „Christ ist erstanden“ angestimmt wurde, an die mittelalterliche Praxis. Dies wurde möglich, weil das Rituale als einziges Buch durch die Liturgiereform im Gefolge des Konzils von Trient nicht vereinheitlicht, sondern weiterhin von der Ortskirche erstellt wurde. Bis zur Liturgiereform nach dem Zweite Vatikanischen Konzil (1962–65) hatte dieses Rituale Gültigkeit.

„Christ ist erstanden“ ist im Übrigen nicht das einzige deutsche Kirchenlied, das uns in den liturgischen Büchern überliefert ist. Im Laufe des Mittelalters kamen andere hinzu, die entweder während der Liturgie gesungen wurden, in sie eingebunden waren, oder aber in großer Nähe zur Liturgie standen. Bei der Osterprozession (vor dem Hochamt am Ostersonntag) wurde bei der statio der Hymnus „Salve festa dies“ mit dem Lied „Also heilig ist der Tag“ verbunden. Das Lied „Gelobet seist du Christe, der du littest Not“ für das Ende der Trauermette, das im 14. Jahrhundert in Böhmen entstanden ist (eine deutsche Übertragung von „Laus tibi Christe“), erscheint erstmals 1450 in einem Salzburger Antiphonar. Die oben erwähnte Michaelbeurer Liederhandschrift enthält zahlreiche deutsche Gesänge, darunter „Fraw von herczen wir dich gruessen“, eine deutsche Übertragung der Marienantiphon „Salve Regina“, oder heute noch gesungene Lieder wie „Chum heiliger geist“ („Komm, Heiliger Geist“[4065]) oder „Enmitten unsers lebens zeit“ („Mitten wir im Leben sind“[4066]). Schließlich führt der „libellus agendarum“ (das Agendenbüchlein) von 1557 deutsche Lieder für die Predigt an. Vorgesehen sind: für die Fastenzeit „Mitten unseres lebens zeit“, für die Osterzeit natürlich „Christ ist erstanden“, für Pfingsten „Khum heyliger Gaist“ und für die Weihnachtszeit „Der tag der ist so freudenreich“.

Die mittelalterliche Liturgie ist Zeuge einer vergangenen Epoche. Die mittelalterlichen liturgischen Bräuche sind seit Jahrhunderten erloschen oder nur mehr in spärlichen Resten tradiert. Die „Salzburger Virgilschola“, ein Ensemble für mittelalterlichen Choral, bemüht sich seit vielen Jahren, die Gesänge aus originalen Salzburger Codices zu übertragen und wieder zum Klingen zu bringen. Um den Zusammenhang mit der Liturgie deutlich zu machen, wird die Funktion eines Gesanges in einen Konzertablauf übergeführt. Auf diese Weise wird das ehemals liturgische Spiel in ein halbszenisches Mysterienspiel transponiert, zwar vom ursprünglichen liturgischen Ort und von der liturgischen Zeit getrennt, aber doch so, dass der Sinn und die Aussage nicht verloren gehen – eine Praxis, die man in den mittelalterlichen Mysterienspielen ähnlich gehandhabt hat. So kann ein wesentliches Kulturdenkmal Salzburgs, das mittelalterliche liturgische Brauchtum, sinnvoll erhalten werden.

Literatur zum Weiterlesen:

Auf der Maur, Hans Jörg: Feiern im Rhythmus der Zeit I. (= Handbuch der Liturgiewissenschaft, Bd. 5). Regensburg 1983.

Engels, Stefan: Einige Beobachtungen zur Liturgie und den liturgischen Gesängen im mittelalterlichen Salzburg. In: Musicologica Austriaca 7. 1987, S. 37–57.

Engels, Stefan: Mittelalterliche Prozessionsordnungen und deren Gesänge als regionale Kulturleistung im Rahmen der abendländischen Liturgie. In: Kirchenmusikalisches Jahrbuch 83. 1999. S. 41–56.

Felbecker, Sabine: Die Prozession. Historische und systematische Untersuchungen zu einer liturgischen Ausdruckshandlung. (= Münsteraner theologische Abhandlungen [MthA], Bd. 39). Altenberge 1995.

Felbecker, Sabine: Prozession. In: Lexikon für Theologie und Kirche 8. 1999, Sp. 679.

Gräf, Hermann Josef: Palmenweihe und Palmprozession in der lateinischen Liturgie. Kaldenkirchen 1959.

Lipphardt, Walter: „Laus tibi Christe“ –„Ach du armer Judas“, Untersuchungen zum ältesten deutschen Passionslied. In: Jahrbuch für Liturgik und Hymnologie 6. 1961, S. 71–100.

Spechtler, Franz Viktor: Die geistlichen Lieder des Mönch von Salzburg. Berlin, New York 1972.

Quack, A.: Prozession. In: Lexikon für Theologie und Kirche 8. 1999, Sp. 678.

Reifenberg, Hermann: Prozession. In: Lexikon des Mittelalters VII. München 1995, Sp. 287.

Waechter, Hans und Spechtler, Franz Viktor (Hg.): Der Mönch von Salzburg: Die Melodien zu sämtlichen geistlichen und weltlichen Liedern. Göppingen 2004.



[4061] Universitätsbibliothek Salzburg, M II 6.

[4062] Stiftsbibliothek Michaelbeuern (Benediktinerkloster nördlich von Salzburg), Man. cart. 1.

[4063] Dillingen, Sebaldus Mayer, 1575.

[4064] Universitätsbibliothek Salzburg, M I 285.

[4065] Im Gesangbuch „Gotteslob“, Nr. 247.

[4066] Im Gesangbuch „Gotteslob“ Nr. 654.

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