„Eine der merkwürdigen Verfallserscheinungen des modernen Menschen ist die zunehmende Abschwächung seines akustischen Sinnes.“ (Marius Schneider)
Das menschliche Ohr ist die zentrale Schaltstelle für Raum- und Zeitsinn und für deren Überschreitung in die Unendlichkeit. In vielen alten Kulturen ist das Ohr schon seit Jahrtausenden „das Tor zu anderen Welten“. Das Ohr nimmt die „Zeitkunst Musik“ wahr, es ortet jedoch auch im Raum durch die Gleichgewichtsrezeptoren im so genannten Bogengang. Dadurch kann sich der Mensch sowohl im liegenden, als auch im stehenden Zustand stets orientieren. Alle Sinne schalten sich während des Schlafes ab, nur das Ohr wacht immer. Das Ohr besitzt, mehr als alle anderen Sinne, die Möglichkeit zur Transzendenz – jeder Höreindruck ist über die Obertonreihe und im mathematischen Sinn auf dem Weg zur Unendlichkeit. In diesem Sinne ist das Ohr vielleicht sogar das wichtigste der menschlichen Sinnesorgane.[4067]
Im Alltag wird es dem menschlichen Verstand oft nicht bewusst, welches Hörvermögen das Ohr besitzt – viele Töne, Melodien und Geräusche werden aufgenommen, ohne jedoch wirklich wahrgenommen zu werden. Da aber jene unbewusst konsumierten Schallwellen trotzdem auf Körper und Geist wirken und sowohl positiv als auch negativ den gesamten Organismus beeinflussen, ist es besonders wichtig, die Geräusche und Klänge des alltäglichen Umfeldes zu untersuchen, bewusst herauszufiltern, um dann darin mögliche Ursachen für psychische und körperliche Zustände zu finden. Ein bestimmtes Klangumfeld kann daher auch Vertrautheit oder Fremdheit vermitteln. In der Europäischen Ethnologie wird gerade Klangökologie als neues Forschungsfeld entdeckt.
Die Bereiche des Hörbaren sind subjektiv verschieden. Für ältere Menschen wandert – oft schon vom fünfzigsten Lebensjahr an – vor allem die obere Grenze erheblich nach unten. Andere sind durch Training oder natürliche Begabung in der Lage, die Hörgrenze nach oben hin auszudehnen. Das Gleiche gilt für die Wahrnehmung der unteren Grenze, wobei es schwierig ist von Grenze zu sprechen, da der zu fassende Frequenzbereich in eine Vibrationsempfindung übergeht, deren Ende kaum messbar ist.[4068]
Die Möglichkeit des besseren Verständnisses, was Musik zu leisten vermag und wie sie ihre Wirkung entfaltet, kommt vor allem aus der Hirnforschung. Das Hirn ist der eigentliche „Konzertsaal“, in dem sich Musik ereignet. Der Musikpsychologe und Neurologe Eckart Altenmüller sagt: „Musik entsteht im Grunde erst im Kopf“. Vom Hören wird das Gehirn besonders angeregt. Das Musizieren vermittelt einen ungeheuren Motivationsschub. Ähnlich wie Medikamente stimuliert Musik im Zwischenhirn das limbische Selbstbelohnungssystem und setzt dort körpereigene „Drogen“ frei – diese lösen Glücksgefühl und Wohlbefinden aus. Nach den neuesten Forschungen von Eckart Altenmüller bekommen 90 Prozent der Menschen, die Musik hören, die sie gewohnt sind und als angenehm empfinden, dabei das gleiche Gefühl, wie jemand der sich in einem Verliebtheitszustand befindet („Flugzeuge im Bauch“, Gänsehaut, Freudenschauer).[4069]
Diese Daten und Fakten mögen helfen zu verstehen, wie wichtig es für jeden Einzelnen ist, „seine“ Musik zu hören – ob dies nun bei sakraler Orgelmusik beim wöchentlichen Kirchgang geschieht oder beim morgendlichen Hören des „Ö3-Weckers“, ist dabei von geringerer Bedeutung. Welche Musik es nun konkret in den verschiedenen Bevölkerungsschichten ist, die durch regelmäßiges Hören jene Empfindungen auslöst, wird unter anderem in einigen der folgenden Kapitel behandelt.
Der Mensch von heute ist permanent von Musik umgeben. Eine der Hauptquellen dafür ist das Radio. Täglich ist es möglich, die gesamte Bandbreite an Musikrichtungen zu „konsumieren“ – im Angebot gibt es leichte Musik, Unterhaltungsmusik, Schlagermusik, Opernmusik, Operettenmusik, Tanzmusik, gehobene Unterhaltungsmusik, ernste Musik, barocke Musik, alte Musik, frühe Musik, neue Musik, virtuose Musik, „schöne“ Musik, avantgardistische Musik, Rock(musik), elektronische Musik, volkstümliche Musik, Marschmusik usw.
Der Großteil an gehörter Musik heute ist „Musikberieselung“ – beim Autofahren, Einkaufen (laut Experten fördert dies den Umsatz), Essen, Feiern, Unterhalten, Aufstehen, Einschlafen, Frühstücken usw. Wirklich „Musik gehört“, wird fast nie, aber sie läuft permanent im Fernsehen, Kino, am Arbeitsplatz, Fußballplatz – die Aufzählung ist endlos fortzusetzen. Musik läuft immer, nur wird sie nicht wahrgenommen. Sie ist Kulisse geworden, unbewusste Konditionierung, mechanischer Hintergrund des Alltags – und nimmt somit heute eine andere Funktion ein als noch vor 50 Jahren, wo Handys, Radio, Fernseher, CD- oder DVD-Player bei weitem noch nicht in jedem Haushalt, Supermarkt oder Büro vertreten waren. Ein Projekt zur Mozartwoche in Mannheim etwa testete in einem Feldversuch die Auswirkungen von Dauerberieselung mit Mozartmusik.[4070] Die immer wiederkehrenden Arien (z. B.: „Königin der Nacht“ der „Zauberflöte“) machten die Testpersonen zunehmend aggressiver. Kammermusik wurde hingegen als angenehm und entspannend empfunden.
Doch bereits 1802 äußerte sich Carl Maria von Weber in weiser Voraussicht zu diesem Thema mit folgenden Worten:
„Die Zeiten werden schwieriger für den Komponisten; es wird zuviel Musik gemacht; das Publikum ist von Jugend auf zu sehr an sie gewöhnt, die Reizbarkeit dafür geht immer mehr verloren. Dasselbe Tonstück, das sie heute unbewegt lässt, weil ihr Ohr ganz tonsatt ist, würde sie sehr ergreifen, wenn sie ein Jahr über gar keine Musik gehört hätten.“[4071]
Die gesendete Musik wird den Lebensumständen und allgemeinen Tagesabläufen eines „Durchschnittsösterreichers“ angepasst. In den Pendlerzeiten gibt es zum Beispiel verstärkt „Autofahrersendungen“, wobei genau diejenige Musik gesendet wird, die der „Hörer“ gar nicht wahrnimmt – anspruchsvolle Pop- oder Opernmusik würde den Autofahrer stören. Alternativprogramme, die modernen Jazz, Avantgarde, außereuropäische Musik oder Klassik senden, existieren natürlich auch, jedoch nur auf einer begrenzten Anzahl an Sendern und häufig zu später Stunde.
Klassische Musik wird für ein bestimmtes Publikum produziert, denen die Opern und Konzerte bereits bekannt sind, ebenso wird Rockmusik für ein bestimmtes Publikum gespielt, das die einschlägigen Gruppen schon kennt und die Vertreter der Schlagermusik kennen ihre Stars und Interpreten ebenfalls. Der Hörer ist im Allgemeinen gar nicht in der Lage, seine „Musik-Klassenzugehörigkeit“ zu ändern.[4072]
Der größte Teil unserer Bevölkerung nimmt also Musik nicht mehr bewusst wahr und wenn der Vorsatz getroffen wird, aktiv „Musik zu hören“ – wie durch einen Besuch bei den Salzburger Festspielen oder bei einem Grönemeyer-Konzert auf dem Residenzplatz – spielen dabei meist angelernte Hörgewohnheiten, akustische Vorurteile und musikalische Vorbildung eine Rolle und sind ausschlaggebend für die Wirkung, die bei jedem einzelnen Hörer erzeugt wird.
Die alltäglichen akustischen Kulissen werden nicht mehr wahrgenommen. Das menschliche Ohr von heute ist geschädigt – die Umweltgeräusche machen das Gehör unsensibel und stumpf. Gerade aus diesem Grund hat sich vielleicht eine „Supertechnik“ der Wiedergabe von Musik entwickelt – es existiert ein „Riesenmarkt“ an CD- und DVD-Playern, Stereoanlagen etc. Es wird massenhaft Musik gehört, aber sie wird, wenn überhaupt, in fixen Kategorien gehört. Die Hörerfahrung der heutigen Bevölkerung ist konditioniert. Die Töne werden außerhalb des Ohres wahrgenommen und mit vorgeformten, bildungsmäßig vorfabrizierten Gefühls- und Stimmungsinhalten identifiziert. Jeder hört „seine“ Musik gerne, kennt sich mehr oder weniger aus, hat einen „Wiedererkennungs-Genuss“ und verbindet mit den gehörten Stücken bestimmte emotionale, mentale oder auch unbewusste Assoziationen.
Die Frage, warum Musik überhaupt existiert, scheint den meisten überflüssig – viele sind der Meinung, dass Musik zur Entspannung, zum ästhetischen Genuss, zur Überbrückung von Langeweile, zur geistigen Erhebung, zum Zeitvertreib und zur Erbauung dient. Musik könnte auch heute mehr sein – sie könnte zu Erfahrungsmöglichkeiten führen, wie sie viele heute in Abenteuerreisen, in immer neueren, größeren Autos, Häusern oder Schmucksammlungen suchen. Musik könnte etwas von anderen Zeiten erfahren lassen und in andere Dimensionen führen – dafür jedoch ist die richtige Aufnahmebereitschaft notwendig. Ein intuitives Verständnis wäre die Vorraussetzung für ein sich in allen heutigen Musikgattungen auswirkendes neues Hörbewusstsein.
Um das 15. Jahrhundert hat sich im Abendland allmählich das mentale Bewusstsein – mit seiner dreidimensionalen Sicht der gegenständlichen Welt – durchgesetzt. Mit der Perspektive in der Malerei entwickelte sich zur selben Zeit die Mehrstimmigkeit in der Musik. Mehrstimmiges Komponieren erforderte Konstruktion, messende Ordnung und ein Notensystem – so konnte die große abendländische Musikkultur entstehen: Fugenlehre, Sonatenform, Gesetze der Harmonie und Modulation, Tonalität und die temperierte Stimmung der Intervalle.
Zu Beginn des 20. Jahrhunderts begeisterten sich die großen Komponisten mehr und mehr für die asiatische Musik und sie begannen die physikalischen Gesetze der Musik und die psychologische Wirkung von Tönen zu erforschen. Der russische Komponist Alexander Skrjabin (1872–1925) zum Beispiel entwickelte eine mystische Tonleiter, die den chromatischen, orientalischen Skalen nahe steht und Sergej Prokofjew (1891–1953) ließ sich für manche Kompositionen von skythischen Schamanen inspirieren. Überhaupt scheint es keinen unter den großen musikalischen Schöpfern des 20. Jahrhunderts zu geben, der sich nicht irgendwann mit archaischen Weisheiten oder fernöstlichen Traditionen auseinander gesetzt hat.[4073]
Diese Entwicklung hat die Hörgewohnheiten der Menschen bis heute geprägt. Besonders aktuell sind heute multikulturelle Musikveranstaltungen und so genannte „Cross-over-Events“. Der Trend geht dahin, verschiedene Musikkulturen und auch Musikstile miteinander zu verbinden, sie zu vermischen und trotzdem dabei die Eigenheiten der jeweiligen Musik beizubehalten. Auch die moderne Popmusik, die täglich vom Großteil der Hörer des Radioprogramms „konsumiert“ wird, enthält viele Elemente von asiatischer, osteuropäischer und mystischer Musik (z. B.: war der Song „Only Time“ von „Enya“ in den Charts von Ö3 wochenlang auf Nummer eins.). Die Suche nach etwas Besonderem und Neuen, die Sehnsucht nach der Fremde oder einer besseren Welt und der Wille, seinen Horizont auch durch Musik zu erweitern und sich damit zu identifizieren, hat vor allem bei den Jugendlichen von heute einen hohen Stellenwert eingenommen.[4074]
Viele Menschen geben heute „Musik-hören“ oder „Musizieren“ als Lieblingsbeschäftigung an. Damit ist viel Zeit, Geld und Aufwand verbunden. Wenn man genau die Musik hören will, die man besonders bevorzugt, dann sind dafür häufig teure CDs, Konzert- oder Opernkarten notwendig. Zum Selbermusizieren ist ein guter Lehrer von Vorteil, der ebenfalls meist sehr teuer ist und der damit verbundene Aufwand ist meist ein sehr großer. Tausende von Stunden investiert ein Hobby-Klavierspieler in das Üben – nur der Musik zuliebe.
Und doch besteht ein eher gespaltenes Verhältnis der Öffentlichkeit und vor allem der öffentlichen Medien zur Musik. Denn abseits von sehr erfolgreichen Popstar-Shows, einer beachtlichen Anzahl an meist privaten Stiftungen zugunsten von Klassik-Spitzenmusikern und einem relativ großen Interesse an musiktherapeutischen Einrichtungen wird die Bedeutung und Wichtigkeit von Musik in Schule und Staat wenig gewürdigt. Neue Arbeitsmodelle stufen die Leistung von Musiklehrern geringer ein als die anderer Kollegen, manchmal muss sogar der Musik- oder auch Zeichenunterricht anderen „wichtigeren“ Fächern weichen. Die Kürzungen im Zuge des Sparpakets bekommen nicht nur die Schulen, sondern auch vor allem die kleineren Theater zu spüren (z. B. Salzburger Landestheater), die nicht den Weltruf und -rang der Salzburger Festspiele besitzen und nicht selbstverständlich mit privaten Förderern rechnen dürfen. In Zeiten des strengsten Sparkurses wird es immer schwieriger, Veränderungen vorzunehmen oder Risiken einzugehen, die vielleicht auch ein junges oder neues Publikum anlocken würden. Dazu kommt, dass auch immer weniger junge Sänger oder Musiker eine Chance bekommen werden, in gute bestehende Ensembles aufgenommen zu werden, da häufig offene Stellen aus Geldmangel auf unbefristete Zeit unbesetzt bleiben.
Politiker und Medien übersehen dabei, dass die Musik eine bei weitem bedeutendere Rolle in der Entwicklung, Bildung und Erziehung der Menschen spielt, als allgemein bekannt ist. Es ist heute bereits wissenschaftlich nachweisbar, dass Musik nicht nur klüger und sozial kompetenter macht, sondern auch unabhängiger und selbstbewusster. Körperlich synchronisiert Musik die Atmung, lenkt von Schmerzen ab und verbessert nachweislich die Immunreaktion.[4075]
Voraussetzung dafür ist jedoch aktives Musizieren oder analytisches Musikhören über einen Zeitraum von mindestens vier Jahren. Passive Berieselung durch Musik zeigt dagegen keinen Erfolg. Welche Musik diesen Effekt besitzt, ist von Mensch zu Mensch verschieden – es ist letztlich eine Frage der individuellen Biografie.[4076] Neben den persönlichen Neigungen zählen die Zeitdauer, das Lebensalter und die sozialen Umstände, unter denen eine Person der Musik ausgesetzt ist. In der Pubertät sind männliche Jugendliche meist eingeschworen auf „harte“ Musik (Heavy Metal, Rock), die einfach rhythmisch strukturiert ist. Mädchen hingegen bevorzugen überwiegend „softere“ Musik, die weniger rhythmusbetont ist und mehr Melodik aufweist (Boygroups, Kuschelrock, Pop). Nach der Pubertät finden die Menschen häufig wieder zu ihren „musikalischen Wurzeln“ zurück oder sie gehen durch Ausbildung und Ortswechsel zu ganz anderen Musikrichtungen über. Je nach Bildung und Intellekt werden auch musikalisch kompliziertere Strukturen bevorzugt (z. B.: harmonisch komplizierterer Jazz).
Besonders massenwirksame Lieder (Fußballgesänge) enthalten durchwegs die so genannte „Kinderliedterz“, ein Intervall, das zum Beispiel auch aus den Anfangstakten von „Hänschen klein ging allein“ bekannt ist. Solche Lieder bewegen sich tonal meist in sehr engem Bereich und es gibt einen grundkonstanten Rhythmus. Ebenso verhält es sich mit der Volksmusik, die sich in einem Bereich bewegt, der besonders die menschliche Motorik anfeuert (Mitklatschen). Abweichungen von dieser kindheitlichen „Harmonie“ werden als unangenehm, unbequem und zum Teil sogar schmerzhaft empfunden. Tatsache ist, dass zum Beispiel Mitglieder eines Orchesters, das vorwiegend zeitgenössische „ernste“ Musik im Repertoire hat, deutlich öfter an vegetativen Störungen wie Herzrasen und Magenleiden, als Musiker eines „traditionellen“ Orchesters.[4077] Allzu harmonische Musik wirkt für die meisten Menschen wiederum „langweilig“ – Dissonanzen werden, wenn sie in kleiner Anzahl auftreten, als willkommene Abwechslung empfunden.[4078]
Die Heilung psychischer Krankheiten durch musikalische Klänge hat eine jahrhundertelange und durch alle Kulturen gehende Geschichte. Medizinmänner und Schamanen gaben den Kranken Heilgesänge statt einer Medizin, im Mittelalter wandte man Zauberweisen zur Vibration des Trommelfells an und Pythagoras soll Lieder gegen körperliche Leiden, zum Vergessen der Trauer, zur Stillung des Zorns und zur Beseitigung von Leidenschaften verwendet haben. Im 19. Jahrhundert wurden erste Beobachtungen angestellt, welche Wirkung Musik nun wirklich auf die menschliche Gesundheit haben könnte. Da festgestellt werden konnte, dass bei „schneller und angenehmer“ Musik die Augen des Patienten glänzten, der Pulsschlag sich beschleunigte und die Wangen sich röteten und bei „langsamer, düsterer“ Musik genau das Gegenteil passierte, wurde die Annahme, dass Musik heilend sein kann, als bestätigt angesehen.
Im Laufe des 20. Jahrhunderts stellte sich heraus, dass Musikstücke keine Medikamente sind, die einfach verschrieben werden können, denn ob gegen Hysterie Harfe, gegen Verfolgungswahn Trompete, bei Herzschwäche eine Stunde Händel, bei Rheumatismus Mozart und bei Schlaflosigkeit Schubert „nützen“, wie an einer amerikanischen Universität praktiziert wird, ist mehr als fraglich und in Europa bereits widerlegt worden.[4079]
Ebenso wie bei der Steigerung der Intelligenz durch Musik ist auch bei der Heilung die individuelle Biografie und die Intensität der erlebten Musik von Bedeutung. Bei der Musiktherapie gibt es zwei Richtungen – zum einen die Therapie durch aktives Zuhören und zum anderen die Therapie mittels aktiven Musizierens –, in beiden Fällen muss sich der Patient mit der Musik und dem Instrument identifizieren können und positive Assoziationen zu dem bereits Erlebten herstellen können. Musik an sich kann nicht als heilend bezeichnet werden – erst intensives Hinhören und Öffnen für Musik, das in den meisten Fällen erst wieder erlernt werden muss, kann zu einer Besserung einer Krankheitserscheinung beitragen. Auch zur Entspannung kann Musik sehr wohl beitragen, aber auch dafür sind „Hören“ und Offenheit Voraussetzung. Vor allem das „Selbertun“ spielt gerade bei jungen Menschen eine große Rolle. Die Musiktherapie hat vor allem auch bei verhaltensgestörten und umweltgeschädigten Menschen eine bedeutende Rolle des aktiven Improvisierens.[4080]
Um körperliche und geistige Erlebnisse mit Musik zu erfahren, braucht es Fähigkeiten, die entgegengesetzt zu der heutigen leistungsorientierten Erziehung stehen. Heute sollte man am besten „keine Zeit“ haben, man sollte immer in „action“ sein, einen Termin nach dem anderen wahrnehmen, um das Leben bestmöglich auszunützen und jede auch noch so kurze Zeit mit etwas „Sinnvollem“ effizient zu füllen. Durch Fernsehen und Computer wird das Empfindungsvermögen für zu erspürende Vorgänge im eigenen Organismus ohnehin abgestumpft. Die Menschen von heute, und dazu gehören auch schon die Kleinsten der Gesellschaft, beschäftigen sich immer weniger mit sich selbst und sind eher peinlich berührt, wenn jemand sich um sein oder ihr Inneres kümmert.
Musik an sich kann also nicht als heilend bezeichnet werden – viele Arten von Musik oder Rhythmen und lärmähnliche Geräusche können aber mit Sicherheit krank machen. Der tägliche Lärmpegel, der heute den Menschen permanent umgibt, bleibt für die Gesundheit nicht ohne Folgen. Das Ohr hört mehr, als bewusst wahrgenommen wird – es wird alles ungefiltert „hineingelassen“ und wirkt sich sowohl auf den Körper als auch auf die Psyche aus. Menschen, die dauerhaft und regelmäßig einer hohen Dezibelanzahl durch Stadtlärm, Lokalbesuche (Bars, Diskotheken), Arbeitslärm, privates Musikhören und laute Umgebung im Wohngebiet (auch in der Nacht) ausgesetzt sind, leiden häufiger unter Nerven- und Lebererkrankungen und haben überdurchschnittlich oft Bluthochdruck und Konzentrationsstörungen. Akustiker schätzen, dass in den meisten Großstädten der Lärmpegel pro Jahr um ungefähr ein Dezibel wächst.[4081] Für die Stadt Salzburg wird der Anstieg nicht ganz so drastisch sein, da es sich im Großen und Ganzen um eine „beruhigte“, im Verhältnis zu anderen Hauptstädten, kleinere Stadt handelt, wo vor allem in den Nachtstunden der Lärmpegel sehr niedrig gehalten werden kann. Und doch ist es auffallend, dass die Kinder in den Schulen immer unruhiger werden, häufig unter Kopfschmerzen leiden, aggressiv und unkonzentriert sind. Kinder haben heute einfacheren und häufigeren Zugang zu Fernsehen und Internet. Fast jedes Schulkind besitzt seinen eigenen CD-Player, hat unkontrollierten Zugang zu sämtlichen Musikgattungen (CDs werden an alle Altersgruppen ohne Nachfrage verkauft) und bewegt sich in einer Welt der permanenten Musikuntermalung mit Geräuschkulisse (PC, Fernseher, Haushaltsgeräte, Flugzeuge, Autos, technisches Spielzeug usw.). Es ist unmöglich, Kinder und Jugendliche vor all diesen Geräusch zu schützen, doch es ist möglich, ihnen vom vierten Embryonalmonat an Musik anzubieten, die zum Beispiel Eltern aus eigener Erfahrung als wertvoll und angenehm empfinden – so kann ein musikalischer Schatz entstehen, auf den im Erwachsenenalter zurückgegriffen und aufgebaut werden kann.
[4067] Berendt, Joachim-Ernst: Das Dritte Ohr. Vom Hören der Welt. Hamburg 2001, S. 65–67.
[4068] Berendt, Joachim-Ernst: Das Dritte Ohr. Vom Hören der Welt. Hamburg 2001, S. 72.
[4069] Brochart, Jürgen; Isabelle Tentrup: Der Klang der Sinne. In: GEO Magazin Österreich 11. Nov. 2003, S. 67–70.
[4070] Gesa Henselmanns: Mannheim im Mozartfieber: Der Feldversuch Mozarteffekt. In: Programmheft zur Mannheimer Mozartwoche 2002. Hrsg. v. Nationaltheater Mannheim. Mannheim 2002.
[4071] Hamel, Peter Michael: Durch Musik zum selbst. Wie man Musik neu erleben und erfahren kann. Bern, München, Wien 1976, S. 23.
[4072] Hamel, Peter Michael: Durch Musik zum selbst. Wie man Musik neu erleben und erfahren kann. Bern, München, Wien 1976, S. 15–20.
[4073] Hamel, Peter Michael: Durch Musik zum selbst. Wie man Musik neu erleben und erfahren kann. Bern, München, Wien 1976, S. 22f.
[4074] Dies ging aus ca. 120 Gesprächen mit Jugendlichen und jungen Erwachsenen hervor, die im Sommer 2003 bei den Salzburger Festspielen als Statisten mitgewirkt hatten und sich bereit erklärten, einige Fragen zum Thema „Musik im Alltag von heute“ zu beantworten: „Welchen Stellenwert hat für dich Musik?“, Welche Musik hörst du wo und wann am liebsten?“, Was empfindest du bei deiner Lieblingsmusik?“ usw.
[4075] Brochart, Jürgen; Isabelle Tentrup: Der Klang der Sinne. In: GEO Magazin Österreich 11. Nov. 2003, S. 72 und S. 84.
[4076] Nach Forschungsergebnissen von Reinhard Kopiez, Vorsitzender der Gesellschaft für Musikpsychologie und Professor für Musikpsychologie in Hannover. Zit. nach: Brochart, Jürgen; Isabelle Tentrup: Der Klang der Sinne. In: GEO Magazin Österreich 11. Nov. 2003.
[4077] Brochart, Jürgen; Isabelle Tentrup: Der Klang der Sinne. In: GEO Magazin Österreich 11. Nov. 2003, S. 72f.
[4078] Brochart, Jürgen; Isabelle Tentrup: Der Klang der Sinne. In: GEO Magazin Österreich 11. Nov. 2003, S. 86.
[4079] Hamel, Peter Michael: Durch Musik zum selbst. Wie man Musik neu erleben und erfahren kann. Bern, München, Wien 1976, S. 171f.
[4080] Hamel, Peter Michael: Durch Musik zum selbst. Wie man Musik neu erleben und erfahren kann. Bern, München, Wien 1976, S. 180f.
[4081] Berendt, Joachim-Ernst: Das Dritte Ohr. Vom Hören der Welt. Hamburg 2001, S. 146.