Dörfer wie Städte waren schon immer einem Wandel unterworfen und veränderten dementsprechend ihre äußere Gestalt, aber auch innere Struktur. Sich verändernde Herrschaftsformen, Industrialisierung und gesellschaftliche Umbrüche sind nur einige Beispiele, die für stetige Weiterentwicklung sorgten. In den letzten zwei Jahrzehnten haben wir es allerdings mit einer neuen Dimension von Veränderung zu tun.
Globalisierung, Internationalisierung und EU-Osterweiterung,
der Umbruch in ein neues Informations- und Technologiezeitalter,
der demografische Wandel – also das zunehmende Älterwerden unserer Gesellschaft,
sowie die zunehmende Mobilität von Menschen und Kapital
machen auch vor dem ländlichen Raum nicht Halt und stellen Dörfer und kleine Gemeinden vor immense Herausforderungen. Dazu bewirkt der
Strukturwandel in der Landwirtschaft und damit auch verbunden der
Strukturwandel in Gewerbe und Handel und der
gesellschaftliche Veränderungsprozess
eine Veränderung der Dorf-, Siedlungs- Landschafts- und Gesellschaftsstrukturen in einem vorher niemals da gewesenen Ausmaß. Was bedeuten nun diese Rahmenbedingungen für die Dörfer, für den sie umgebenden ländlichen Raum, der in die Betrachtung mit einfließen muss, will man nicht ein Zerrbild der Situation geben? Welche Veränderungen finden konkret statt und sind diese problematisch für die Dörfer? In welchen Bereichen muss das Dorf erneuert oder weiterentwickelt werden, um im immer größer werdenden Wettkampf der Dörfer, Städte und Regionen um Arbeitsplätze, um Fördergelder und auch um Menschen bestehen zu können – also seine Standortqualitäten verbessert? Wie können Dörfer und Gemeinden eine Entwicklungspolitik in die Wege leiten, die im Sinne der Agenda 21 die Belange Ökonomie, Ökologie sowie Kultur und Soziales gleichermaßen berücksichtigt und somit den nachfolgenden Generationen die notwendigen Lebensgrundlagen nicht entzieht? Und – wer kann diese Aufgaben bewältigen?
Beginnt man mit einer „groben Bestandsaufnahme“ der Situation im Dorf, die regional sehr unterschiedlich ausfällt, so ist der Strukturwandel in der Landwirtschaft ein zentraler Faktor, der für tief greifende Veränderungen im Dorfgefüge in den letzten zwei bis drei Jahrzehnten verantwortlich ist. Das bereits seit Jahren aktuelle Schlagwort steht für den gravierenden Rückgang landwirtschaftlicher Betriebe und beschreibt einen Prozess, der sicherlich noch nicht abgeschlossen ist.
Tatsache ist, dass in vielen Dörfern nicht einmal mehr 5 % der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft beschäftigt sind und die verbliebenen Betriebe müssen – um am Weltmarkt überhaupt noch konkurrenzfähig zu sein – zu fast industriell zu nennenden Betriebsformen übergehen oder sie versuchen durch Zusatzleistungen wie z. B. die Direktvermarktung ihrer Produkte oder die Vermietung von Zimmern und Ferienwohnungen (Urlaub auf dem Bauernhof) sich ein „zweites Standbein“ aufzubauen, das ihnen das Aufrechterhalten des landwirtschaftlichen Betriebs ermöglicht.
Dieser Wandel läuft regional mit „unterschiedlichen Geschwindigkeiten“ ab. Vielfältige Rahmenbedingungen beschleunigen ihn oder lassen ihn etwas langsamer ablaufen. Er hat aber – je nach Lage des Dorfes im Raum – völlig unterschiedliche Auswirkungen und führt damit zu sehr unterschiedlichen Problemlagen, aber auch Chancen, Herausforderungen und Aufgabenstellungen im Dorf.
Im Einzugsbereich größerer Städte werden nicht mehr landwirtschaftlich genutzte Hofstellen gerne von Städtern aufgekauft oder von Bauträgern in eine Vielzahl von Wohneinheiten aufgeteilt. Die ehemalige Hofstelle, die für die Funktion „Wohnen und Arbeiten“ stand, wird somit zur reinen „Wohnanlage“ umgewandelt, die bäuerliche Großfamilie weicht einer Anzahl von Kleinhaushalten. Deren Bewohner ziehen aber oftmals mit anderen Ansprüchen und Wertvorstellungen aufs Land, als sie bei den Einheimischen vorherrschen und identifizieren sich in der Regel mit dem Dorf nicht mehr in dem Maß, wie es für die Alteingesessenen selbstverständlich war. Das Dorf wird somit zum Teillebensraum seiner Bewohner – sie wohnen zwar hier, haben aber nicht mehr ihren wirtschaftlichen und kulturellen Lebensmittelpunkt im Dorf; d. h. sie fahren nicht nur zum Arbeiten weg, sondern auch zum Einkaufen, zur Freizeitgestaltung und vieles mehr.
Aber nicht allein ungenutzte landwirtschaftliche Hofstellen bewirken einen Zuzug von Menschen aufs Dorf. Der Siedlungsdruck auf Dörfer und Gemeinden gerade im Umfeld größerer Städte ist in der Regel enorm. Die Möglichkeit „auf dem Land ein Haus im Grünen“ für die gleiche Summe Geld zu erwerben, die in der Stadt vielleicht gerade mal für eine Drei- oder Vierzimmerwohnung reichen würde, ist für viele Menschen nach wie vor Grund genug, der Stadt den Rücken zu kehren und ein Pendlerdasein in Kauf zu nehmen. So entstanden und entstehen kontinuierlich Neubaugebiete, die sich nicht mehr an traditionellen, sondern an städtischen Vorbildern orientieren und die mehr oder minder überall gleich aussehen. Die so genannte „Verstädterung“, die in diesen Dörfern vor sich geht, zeigt sich in der Regel nicht in einem größeren Angebot an Geschäften, an qualifizierten Arbeitsplätzen oder an kulturellen Ereignissen, Dinge, die man mit dem Begriff „Stadt“ zunächst in Verbindung bringt. Verstädterung zeigt sich anders und leider sind es überwiegend – sicher nicht ausschließlich – die negativen Seiten der Stadt, die im Dorf Einzug halten.
Folgen der hohen Baulandnachfrage sind z. B. schnell steigende Bodenpreise, die sich die „Einheimischen“ nicht mehr leisten können. Für sie oder ihre Kinder wird es damit oft unmöglich, Wohneigentum in ihrem Heimatdorf zu schaffen. Es kommt somit zur Verdrängung der einheimischen Bevölkerung, wenn die Gemeinde nicht rechtzeitig durch eine vorausschauende Bodenpolitik die Weichen stellt.
Darüber hinaus entstehen in Dörfern, in denen die beschriebenen Entwicklungen stattfinden, meistens starke Verkehrsbelastungen und Flächennutzungskonflikte durch den enormen Flächenverbrauch für Siedlungs- und Verkehrszwecke, aber auch für Freizeit- und Erholungsgebiete. Nutzungskonflikte zwischen wirtschaftlichen und ökologischen Ansprüchen sind die Regel. Aber auch Konflikte zwischen den Belangen der Landwirtschaft und den Neubürgern (meist städtischer Herkunft) sind keine Seltenheit. Die Reihe der kuriosen Streitereien vor Gericht wegen krähender Hähne oder stinkender Schweine im Dorf füllen immer wieder die Presse. Damit behindern heranrückende Wohngebiete die verbliebenen landwirtschaftlichen Betriebe zusätzlich in ihren Entwicklungsmöglichkeiten und tragen nicht selten zur Hofaufgabe bei.
Der enorme Flächenverbrauch der letzten Jahrzehnte hat auch dazu geführt, dass z. B. in Bayern mittlerweile täglich fast 29 ha Freifläche zu Siedlungs-, Gewerbe- und Verkehrsflächen umgewandelt wird – eine Fläche so groß wie 40 Fußballfelder. Für den ländlichen Raum bedeutet dies u. a. auch, dass an den Dorfrändern zunehmend Einkaufsmärkte oder auch Filialen international tätiger Firmen entstehen, die aufgrund der steuerlichen Gesetzeslage oft nicht einmal Gewerbesteuer an die Gemeinde zahlen. Sie bedienen sich damit der Infrastruktur, die ihnen die Gemeinde vorenthält, ohne dafür eine Gegenleistung zu erbringen. Die kleinen Lebensmittelgeschäfte oder Nahversorgungseinrichtungen in den kleinen Ortschaften können (sofern sie Betreiber/Nachfolger finden) jedoch dem Konkurrenzdruck, dem sie durch diese Großstrukturen ausgeliefert sind, nicht standhalten und müssen schließen. Dörfliche und regionale Wirtschaftskreisläufe brechen zunehmend zusammen. Betroffen von dieser Entwicklung sind zunächst nicht motorisierte Dorfbewohner (wie alte und finanziell schwächere Personen). Je mehr sich aber das wirtschaftliche Leben vom Dorf weg entwickelt, umso mehr geht auch die kulturelle Vielfalt im Dorf verloren. Auf Dauer sind alle Bürger „Verlierer“ dieser Entwicklung, da dörfliches Leben mit seiner Funktionsvielfalt keinen Raum mehr hat und durch mangelnde Nahversorgung nicht nur die Lebensqualität aller Bürger geschmälert wird, sondern auch die Wirtschaftskraft eines Dorfes und seiner Umgebung nachhaltig verringert wird.
Der zunehmende Flächenverbrauch und die damit einhergehende Zersiedelung der Landschaft bewirken darüber hinaus, dass großräumige erhaltenswerte Kulturlandschaften immer stärker gefährdet sind. Neben dem Verlust von Lebensräumen für Flora und Fauna beeinträchtigt der Flächenverbrauch auch das Landschaftsbild und wirkt sich durch Versiegelung auf das Kleinklima und die Wasserversickerung aus. Durch die Hochwasserkatastrophe im Sommer 2002 sind die ökologischen Probleme und die damit einhergehenden privaten und volkswirtschaftlichen Schäden auf dramatische Art und Weise ins Bewusstsein der Öffentlichkeit gelangt. Es müssen daher Wege gefunden werden, Entwicklungs- und Infrastrukturprojekte so zu realisieren, dass mit dem nicht reproduzierbaren, knappen Gut „Boden“ künftig verantwortungsvoller umgegangen wird.
Eine gänzlich andere Situation stellt sich in Dörfern fernab der großen Städte und übergeordneter Verkehrsachsen dar. In den so genannten strukturschwachen Räume finden sich für aufgegebene landwirtschaftliche Gebäude oder auch ganze Hofstellen oft keine neuen Funktionen, notwendige Reparaturen werden nicht mehr durchgeführt, es kommt zum Verfall und / oder zum Abbruch der Gebäude. Jahrhundertealtes siedlungs- und baukulturelles Erbe geht verloren und bewirkt eine tief greifende Veränderung des Dorfgefüges.
Mit dem Verlust der Landwirtschaft ist meist auch ein Zerfall der vor- und nachgelagerten Handwerks- und Gewerbebetriebe verbunden, wie z. B. Landmaschinenmechaniker, Metzger oder Bäcker. Alternative Einkommensquellen z. B. im Tourismus sind oftmals nicht gegeben. Das bedeutet, dass die Bevölkerung mangels ausreichender Arbeitsplätze abwandert, vor allem die gut ausgebildeten, jüngeren Leute. Es kommt zu Nachfrageverlusten in allen Bereichen. Vorhandene technische Infrastrukturen, wie z. B. Ver- und Entsorgungseinrichtungen sind nicht mehr ausgelastet und auch die so genannten sozialen Infrastruktureinrichtungen, wie Schulen, Pfarreien und Kindergärten sind in Dörfern, in denen dieser Prozess im Gang ist, zunehmend vom Leerstand gekennzeichnet. Die aktuellen Prognosen zur Bevölkerungsentwicklung zeigen, dass der akute Rückgang der Bevölkerung, der in peripheren ländlichen Räumen nicht erst in heutiger Zeit ein Problem darstellt, weiterhin verschärft wird. Handlungsstrategien, die diesen Veränderungen Rechnung tragen, sind deshalb dringend notwendig.
Zieht man nun ein erstes Resumée dieser groben Bestandsaufnahme der Situation der Dörfer, so sind es – neben den eingangs genannten allgemeinen Rahmenbedingen – folgende Herausforderungen, mit denen die Dörfer in unterschiedlichen Ausprägungen am Anfang des 21. Jahrhunderts konfrontiert sind:
Standortwettbewerb
Verlust an Funktionsvielfalt
Siedlungsstrukturelle- und Gestaltprobleme
Verkehrsprobleme
Steigende Bodenpreise
Flächennutzungskonflikte
Verlust an Nahversorgungseinrichtungen
Verlust an Kulturlandschaft
Gebäudeleerstand / Nutzungsprobleme contra Flächenverbrauch
Fehlende wirtschaftliche Impulse und Abwanderung
Infrastrukturelle Defizite
Identifikationsverlust
Demografische Entwicklung und ihre Folgen
Vieles hat sich also in den letzten Jahrzehnten verändert, aber sicher nicht alles zum Nachteil der Dörfer. Die oben beschriebenen Problemlagen sind Gott sei Dank nur eine Seite der Medaille. Wer möchte bestreiten, dass die häufig beschworene „alte Dorfgemeinschaft“ oft eine reine Notgemeinschaft war, oder dass in der „überschaubaren Welt“ des alten Dorfes die soziale Kontrolle so stark war, dass „Anderssein“ kaum toleriert wurde und auch schnell zum Ausschluss aus der Dorfgemeinschaft führte. Auch der Bildungsstand auf dem Dorf war bis vor wenigen Generationen einheitlich niedrig – der Besuch einer höheren Schule in der nächsten Stadt mangels Mobilität oder auch finanzieller Mittel einfach nicht möglich. Positive Entwicklungen unserer Zeit, wie z. B. moderne Kommunikationstechniken ermöglichten es erstmals, Arbeitsplätze auch für hochqualifizierte Menschen ins Dorf zu bringen. Das Dorf ist somit sehr viel heterogener geworden mit allen Chancen, die sich auch daraus ergeben.
Vor diesem Hintergrund müssen die Veränderungen im Dorf differenziert betrachtet werden. Sowohl die positiven Entwicklungen als auch die eigenen dörflichen Potenziale, wie z. B. der große Freizeit- und Erholungswert sowie die Überschaubarkeit und Mitgestaltbarkeit des Lebensraums müssen als Chance wahrgenommen und nutzbar gemacht werden. Diese Komplexität der Aufgabenstellungen, vor denen Dörfer gegenwärtig stehen, ist sicherlich nicht mehr vergleichbar mit den „überschaubaren Problemen“ früherer Zeiten. Aber unabhängig davon, aus welchen Themenbereichen sich die Probleme und Stärken zusammensetzen und mit welchen Rahmenbedingungen ein Dorf konfrontiert ist.
Für alle Dörfer gilt gleichermaßen:
Keines der Probleme kann losgelöst von den anderen betrachtet und gelöst werden.
Rein sektorale Maßnahmen bleiben wirkungslos.
Die vielfältigen Vernetzungen der einzelnen Problemfelder im ökonomischen, ökologischen und sozialen Bereich, die meist auch über die „Dorfgrenzen“ hinausgehen, fordern einen integrierten Planungsansatz, wenn sie nachhaltig gelöst werden sollen.
Dazu bedarf es einer intensiven Diskussion darüber, wo die Entwicklung des Dorfes künftig hingehen soll und welche Partner notwendig sind, um die notwendigen Maßnahmen umzusetzen.
Deshalb ist es notwendig, im Dialog zwischen engagierten Bürgern und externen Experten Leitbilder zu erarbeiten, wie die künftige Entwicklung des Dorfes aussehen kann.
Der Begriff „Leitbild“ ist in den letzten Jahren von Planern, Unternehmensberatern, Politikern und vielen mehr fast inflationär verwendet worden. Firmen geben sich ein so genanntes Firmenleitbild, das oft nur aus einem Logo und ein paar Worthülsen besteht, Politiker geben sich und ihrer Partei so genannte Leitbilder – meist die üblichen leeren Floskeln. Ein systematischer Missbrauch eines Begriffs – der, nimmt man ihn ernst – einen wichtigen Prozess in Dörfern und Gemeinden einleiten kann, der dabei hilft, die schwierige Balance zwischen Vision und Machbaren, zwischen Tradition und Moderne, zu finden.
Der erste Schritt bei der Erarbeitung eines Dorfleitbildes ist zunächst eine umfassende Bestandsaufnahme der Situation „vor Ort“. Und wer könnte bei dieser Bestandsaufnahme der Stärken und Schwächen, die ein Dorf besitzt, besser Auskunft geben, als die unmittelbar betroffenen Bürger.
Im Dialog zwischen externen Experten, wie z. B. Architekten, Soziologen und Geografen und örtlichen Experten, also den Bürgern selbst, werden zunächst die Themenfelder erarbeitet, die für das Dorf von zentraler Bedeutung sind. Dabei stehen die so genannten materiellen Aspekte, wie z. B. Aufgaben im baulich-gestalterischen Bereich gleichberechtigt neben den immateriellen Aspekten, wie z. B. Themen, die das soziale Miteinander im Dorf betreffen.
Die Einbindung aller gesellschaftlicher Gruppierungen wie Jugendliche und Senioren, Vertreter des Handwerks, der Landwirtschaft und der Kirche, Frauen und Männer etc. in den Leitbildprozess ist Garant dafür, dass alle Aspekte des Dorflebens „unter die Lupe genommen werden“ und einer ehrlichen Situationsanalyse unterzogen werden. Nur auf dieser Basis können vernetzte, dorfspezifische Leitlinien und Maßnahmen erarbeitet werden, die eine zukunftsfähige, von allen getragene Entwicklung des Dorfes gewährleisten.
Die Themen „Leitbild“ und „Planung im Dialog mit Bürgern“ können nicht diskutiert werden ohne gleichzeitig das Stichwort „Neue Bürger und Sozialkultur“ zu nennen. Untersuchungen zeigen, dass das unmittelbare Betroffensein von Entscheidungen bei einer immer größeren Anzahl an Menschen zum Wunsch nach mehr Mitsprache, Mitwirkung und Mitgestaltung der unmittelbaren Lebensumwelt führt. Nirgends ist Politik so nah am Bürger, wie in den Dörfern und ländlichen Gemeinden und nirgends sind die Gestaltungsmöglichkeiten für den Einzelnen größer als hier. Die Einbindung engagierter Bürger in den Planungsprozess von Anfang an, ist nicht nur unverzichtbar, wenn die Planung von den Bürgern akzeptiert werden soll, sondern bietet Bürgermeister und Gemeinde unentgeltlich eine Fülle von Fachkompetenz, die zum Wohl des gesamten Dorfes, der gesamten Gemeinde, eingebracht wird.
Mit diesem neuen Planungsverständnis muss sich auch die Rolle des Planers zwangsläufig ändern. Der so genannte „Experte“, der von außen kommt und den Dorfbewohnern sagt, was zu tun ist, ist heute nicht mehr gefragt. Entscheidungsfindung im Konsens steht im Vordergrund. Dazu muss der Planer neben Fachkompetenz ein hohes Maß an sozialer Kompetenz und Moderationskompetenz mitbringen und erkennen, wo seine Grenzen liegen, um gegebenenfalls weitere Planungspartner z. B. aus den Bereichen Wirtschaft oder Soziales in den Prozess mit einzubinden. Nur mit diesen Fähigkeiten wird er in der Lage sein zu motivieren, zu beteiligen, zu vernetzen, die vorhandenen Ressourcen der Bürger zu nutzen und in eine qualitätvolle Planung umzusetzen.
Leitbilder bieten einen Orientierungsrahmen für gesellschaftliches und politisches Handeln, der nicht nur auf kurzfristige Notwendigkeiten ausgerichtet ist, sondern sich an nachhaltigen Entwicklungszielen orientiert. Eine nachhaltige Dorf- und Gemeindeentwicklung ist nur auf der Basis von Entwicklungs- und Handlungskonzepten in die Wege zu leiten, die sowohl von kurzfristig zu tätigenden Maßnahmen als auch von langfristigen Entwicklungsstrategien geprägt sind.
Vor dem Hintergrund der beschriebenen vielfältigen Problemlagen in den Dörfern ist es notwendig, eine Zielrichtung für die künftige Entwicklung des Dorfes zu erarbeiten, die langfristig eine „Richtschnur“ für im Dorf zu treffende Entscheidungen bietet.
Dörfer und Gemeinden können sich – auch in Anbetracht der fast überall zunehmend angespannteren finanzielle Situation – teuere Planungsfehler, die bei den früheren, sektoralen Planungsansätzen nicht selten vorkamen, nicht mehr leisten und verleihen damit der Forderung nach einem Leitbild zusätzliches Gewicht.
Tragfähige Leitbilder, die von allen gesellschaftlichen Gruppen eines Dorfes akzeptiert werden, können nur im Konsens mit diesen Gruppen erarbeitet werden. Diese Planungsprozesse im Dialog mit den Bürgern gewährleisten Akzeptanz und ermöglichen eine Umsetzung der geplanten Maßnahmen in kurzer Zeit – Zeit, die meist auch gespartes Geld für die Gemeinde bedeutet.
Ganz im Sinne der Agenda 21, dem Aktionsprogramm zur Umsetzung einer nachhaltigen Entwicklung, das im Rahmen der Konferenz der Vereinten Nationen für Umwelt und Entwicklung 1992 in Rio de Janeiro verabschiedet und beim Johannesburger Weltgipfel 2002 erneut bekräftigt wurde, werden im Leitbildprozess Ziele formuliert, aus denen sich Kernstrategien für die zukünftige Entwicklung ableiten lassen und die sich nicht in einem austauschbaren Slogan erschöpfen.
Wie können nun diese Leitbilder umgesetzt werden? Welche Maßnahmen und Projekte können nun im Einzelnen dazu beitragen, das Dorf zu erneuern bzw. eine nachhaltige, speziell auf die Bedürfnisse des Dorfes ausgerichtete Entwicklung in die Wege zu leiten. Ausgehend von den oben genannten allgemeinen Rahmenbedingungen, Problemstellungen und Chancen, die in jedem Dorf in einer anderen Konstellation vorhanden sind, kann hier kein Patentrezept abgegeben werden. Folgende Beispiele sollen zeigen, wie sowohl fachlich als auch räumlich vernetzte Projekte einen Beitrag zu einer nachhaltigen Gemeindeentwicklung leisten können.
Gerade vor dem Hintergrund des Wandels in der Landwirtschaft sollten Dorf und Landschaft künftig wieder als eine Einheit gesehen werden. Kooperationen zwischen den Bauern – konventionell wirtschaftenden und ökologisch wirtschaftenden – können dazu beitragen, die „Säule Landwirtschaft“ im Dorf zu stärken. Ökologisches und wirtschaftliches Kreislaufdenken ist dazu notwendig. Die Produktion, Veredelung und Vermarktung landwirtschaftlicher Produkte muss künftig wieder mehr im Dorf bleiben. Neue Kooperationen sind dazu notwendig, z. B.
mit den Tourismusanbietern (Verkauf typischer Produkte wie z. B. Wurst, Käse, Obstbrände, Marmeladen im Hotel oder durch den Ferienhausanbieter),
mit der Gastronomie (Lieferung von Fleisch und Fisch mit dem Qualitäts- und Herkunftssiegel),
mit den Gemeinden, für die die Landwirte Landschaftspflege betreiben (Landschaftspflege als bäuerliche Dienstleistung).
Aber auch im Bereich alternative Energieversorgung kann die Landwirtschaft durch die Bereitstellung nachwachsender Rohstoffe wie z. B. Holz, Raps, Elefantengras und die Betreibung von Holzhackschnitzelheizwerken oder Biogasanlagen nicht nur alternative Einkommensquellen erzielen, sondern auch einen unverzichtbaren Beitrag dazu leisten, den Verbrauch nicht regenerativer Brennstoffe wie Öl und Gas künftig zu vermindern.
Neue Konzepte zur Nahversorgung im Dorf sind notwendig, die dem Funktionsverlust entgegenwirken. Ein Ideenwettbewerb im Frühjahr 2001 in Südbayern zu diesem Thema, brachte eine Fülle von innovativen Vorschlägen. Die Idee eines Mehrgenerationenhauses – eingerichtet in einem bereits vorhandenen, leer stehenden gemeindeeigenen Gebäude – als Begegnungsstätte für Kindergarten- und Schulkinder, behinderte Kinder, Senioren und Vereine ist nur ein Beispiel für gelebte Nahversorgung. Dabei steht nicht nur eine neue Dorfkultur des bürgerlichen Engagements im Vordergrund, sondern die Einbindung ortsnaher Produzenten wie z. B. Landwirtschaft und Handwerk runden das Projekt ab. Ein Projekt, das gerade vor dem Hintergrund der demografischen Entwicklung – also dem zunehmenden Älterwerden unserer Gesellschaft – wegweisend ist.
Ein weiterer Wettbewerbsbeitrag zum Thema Nahversorgung war die Umnutzung eines alten Feuerwehrgerätehauses zu einer Plattform für eine zeitgemäße und qualitative musikalische Ausbildung und Fortbildung aller Altersgruppen. Damit wird den Jugendlichen nicht nur ein Raum zur Begegnung gegeben, der das „Auspendeln in der Freizeit überflüssig macht“, sondern auch die „Kultur bleibt vor Ort“ und trägt durch musikalischen Aufführungen maßgeblich zur Steigerung der Lebensqualität bei.
Auch der Beitrag „Errichtung einer Feuchtgebietskläranlage“ ist ein Beispiel für eine bewusste Entscheidung für Eigenständigkeit und ortsnahe Lösung. Nach einer intensiven Auseinandersetzung mit der Abwasserproblematik, hat sich die örtliche Bürgergemeinschaft aktiv für eine dezentrale Kläranlage eingesetzt, die soziale, ökonomische und ökologische Vorteile bietet: Die Anlage wurde zu einem großen Teil in Eigenleistung gebaut, so dass Kosten eingespart werden konnten. Als Biotop mit guter Reinigungsleistung passt sich die Feuchtgebietskläranlage naturnah in die Landschaft ein und liefert Rohrkolben, der als nachwachsender Rohstoff genutzt werden kann.
Ein Thema, dass vor dem Hintergrund des immensen Flächenverbrauchs künftig mit eines der Schlüsselthemen nachhaltiger Siedlungs- und Ortsentwicklung sein wird. Das ungeordnete Außenwachstum – also die kontinuierliche Ausweisung neuer Siedlungsgebiete – muss zugunsten einer ortverträglichen Nachverdichtung bzw. Innenentwicklung drastisch gebremst werden. Bessere Nutzung vorhandener Bauland- und Gebäudereserven sowie die sinnvolle Umnutzung leer stehender landwirtschaftlicher Bausubstanz sind dabei Ansatzpunkte. Nur so werden langfristig vorhandene Infrastrukturanlagen, wie z. B. Straßen oder Ver- und Entsorgungsleitungen finanzierbar sein.
Die genannten Beispielprojekte machen deutlich, dass die Bildung von Netzwerken auf den verschiedensten Ebenen unverzichtbar ist, um Impulse für eine nachhaltige Entwicklung auszulösen und umzusetzen. Fachliche Kooperationen zwischen den verschiedenen Berufsgruppen im Dorf wie z. B. Landwirten, Handwerkern und Gastronomen gehören genauso dazu, wie die Kooperationen mit nichtstaatlichen Verbänden und Organisationen. Netzwerke, die zwischen Gemeindeverwaltung, Wirtschaft, Vereinen, Verbänden und Bürgern, genauso wie zwischen den Ressorts verschiedener Verwaltungen und nicht zuletzt über die Gemeindegrenze hinaus zu den Nachbargemeinden geknüpft werden, sind von großer Bedeutung.
Und damit beantwortet sich die Frage „Wer kann das Dorf erneuern?“ fast von selbst. Viele der genannten Probleme sind nicht allein auf der „Ebene Dorf“ zu lösen. Die Zusammenarbeit der Gemeinden mit den Nachbargemeinden, in denen ähnliche Voraussetzungen vorhanden sind, wird künftig unverzichtbar sein, wenn der ländliche Raum mit seinen Dörfern und Gemeinden nicht der Verlierer im Wettbewerb mit den Städten sein will. Leitbilder benachbarter Gemeinden müssen im Sinne des gegenseitigen Ergänzens aufeinander abgestimmt sein. Nur so können so genannte Synergieeffekte entstehen, von denen alle profitieren.
Um diesen kommunalen Zusammenschlüssen oder Kleinregionen wirtschaftliche Impulse zu geben und um die genannten Aufgaben bewältigen zu können, müssen – nicht nur vor dem Hintergrund der angespannten Finanzsituation öffentlicher Haushalte – „Kirchturm- und Konkurrenzdenken“ unter den Gemeinden abgebaut werden. Interkommunale Zusammenarbeit und Planung im Dialog kann somit zum zentralen Problemlösungsansatz für viele der gegenwärtigen Aufgabenstellungen sein. Also – nicht mehr „der kompetente Planer“ oder „der fähige Bürgermeister“ – kann die genannten Aufgaben lösen, sondern nur ein Netzwerk aus politisch Verantwortlichen, Planern, Bürgern und Verwaltungen kann unter dem Motto „gemeinsam erkennen, entwickeln und handeln“ die Herausforderungen gemeinsam, aktiv und verantwortungsbewusst anpacken.