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Der Chor: Eine wichtige gemeinschaftsbildende und kulturelle Kraft in der Region (Walter Sulzberger)[5260]

Ein kurzer Blick zurück in die Geschichte des Chores

Der Chor als Gruppe war seit der liturgischen Reform des Papstes Gregor des Großen ein wichtiges Element der Gestaltung liturgischer Feiern im Rahmen des Kirchenjahres, angefangen vom Gregorianischen Choral bis über die jeweils dem musikalischen Zeitstil entsprechenden Chorkompositionen. Es sind dies vor allem die sakralen Werke der Meister, wie sie uns immer wieder bei festlichen Anlässen in ihrer zeitlosen Größe musikalischen Ausdrucks beeindrucken. Im profanen Raum entwickelte sich der Chorgesang, jeweils in der Volkssprache gesungen, als Madrigal bezeichnet, im 16./17. Jahrhundert zur wichtigsten Gattung weltlicher Vokalpolyphonie, vier- oder mehrstimmig, nach reicher harmonischer Ausgestaltung und tonalen Klangeffekten strebend. Über flämische Komponisten kam diese Kunst über Italien zu uns und in die anderen europäischen Länder.

Diese ursprünglich solistisch gesungene Vokalmusik wurde im 20. Jahrhundert vornehmlich in der Jugendmusikbewegung als Chormusik gepflegt. Viele herausragende Komponisten der Renaissance und des frühen Barock fanden und finden dadurch in unserem Jahrhundert ihre Verbreitung. Diese Madrigale gaben musikinteressierten Laien die Möglichkeit, gute Literatur gemeinsam zu singen und zu musizieren.

Mit den Werken der Klassik und Romantik erlebte das Chorwesen bis in unser Jahrhundert herein einen neuen Höhepunkt. Die großen Werke dieser Epochen als Teil der Weltkultur erfordern eine ernsthafte, professionelle Auseinandersetzung und Wiedergabe. Die Chöre haben hier die große Verantwortung, den Erfordernissen und stimmlichen Voraussetzungen dieser weltlichen und geistlichen Kompositionen gerecht werden zu können. Immer mehr versuchen Chöre, sich mit neuen und nicht immer leicht zugänglichen Formen zeitgenössischer Musik auseinander zu setzen.

Die Chöre im Spannungsfeld zwischen Tradition und Erneuerung

Kultur versteht sich immer als Prozess im Spannungsfeld von Tradition und Erneuerung. Die Pflege des Überlieferten, die Weiterentwicklung von Traditionen und schließlich der Mut zu Neuem – mitunter als „fremd“ Empfundenem – sind Merkmal einer lebendigen Chorarbeit. Dazu zählt auch die Auseinandersetzung mit alter guter Chorliteratur, deren Tradition unterbrochen und später wieder aufgenommen wurde.

Mit Helmut Pommer, dem Gründer zahlreicher Singgemeinschaften, wurde dem deutschen Volkslied durch das mehrstimmige Singen im Chor ein neuer Stellenwert verliehen. Nach dem Zweiten Weltkrieg gab Sepp Dengg dieser Idee, das Volkslied und geeignete Jodler im Chorsatz zu singen, neue Impulse. Dieses „Alpenländische Chorlied“, eine junge, „bodenständige“ Variante, wurde zum festen Bestandteil vieler Chorgemeinschaften. Mit der neuen Form des Adventsingens und – dem wieder aufgenommenen – Passionssingen in Salzburg fanden die Chöre landesweit ein neues Feld der Liedarbeit im Jahreskreis. Diese spezifische Entwicklung des Chorwesens in Salzburg ist eng mit den Namen Sepp Dengg, Tobi und Tobias Reiser, Cesar Bresgen, Wilhelm Keller und Harald Dengg verbunden. In den Salzburger Singwochen oder im Wochenendsingen, die seit mehreren Jahrzehnten jährlich stattfinden, wird versucht, die ganze Breite zeitgemäßen, profanen und sakralen Liedgutes mit erfahrenen Chorleitern zu erarbeiten.

Ergebnis- und prozessorientierte Chorarbeit

Der Chor ist die ideale Voraussetzung für die Bildung von Gemeinschaft. Das Singen als gemeinsames Anliegen verbindet die einzelnen Mitglieder zu gemeinsamer Arbeit. Das erwartete Ergebnis kann nur durch Zusammenarbeit entstehen. Mehrstimmigkeit erfordert die Arbeitsteilung innerhalb der einzelnen Stimmgattungen. In polyphonen Sätzen erfolgt durch horizontale Verschiebung der Stimmen eine zusätzliche Dynamisierung und Spannung. Große Chöre erfahren durch Teilung in Haupt- und Nebenchor eine weitere Belebung. Neben dem Erlebnis der Aufführung – gleichsam als krönender Höhepunkt der Arbeit – wird so die Chorarbeit selbst, also die gemeinsame Erarbeitung eines Werkes, die Hinführung und Hineinführung in den Aufbau und die Aussage des Chorsatzes, zu einem bereichernden Prozess. Dies ist jedoch nur möglich, wenn die Chormitglieder nicht überfordert werden und die Chorleitung fachlich wie auch didaktisch ausgebildet ist.

Die Qualität der Chorarbeit hängt eng mit der Aus- und Fortbildung der Chorleiterinnen und Chorleiter wie auch der Sängerinnen und Sänger zusammen. Begeisterung und Engagement für diese Aufgabe ist zwar eine wichtige Grundlage, doch entscheidend für eine qualifizierte Chorleitung ist die fachliche Auseinandersetzung mit der Chorliteratur insgesamt, mit der Bildung der Stimme, mit dem musikalischen Gehalt, mit der Ausdrucksform, mit dem Stil und dem Text sowie der Führung der Chorsätze.

Die Chöre als soziales integratives Element

Lebendige Vereine und Gruppen sind ein wichtiges Kennzeichen demokratischer Staaten. Demokratie äußert sich nicht allein in der politischen Verfassung der Gesellschaft, sondern auch in der Art und Weise, wie es um die Freiheit und Würde des Menschen steht, wie Menschen miteinander umgehen und wie Gruppen sich entfalten können. Chöre sind Gruppen, die allen Menschen offen stehen, die fähig und bereit sind, miteinander zu singen. Für die Mitglieder der Chöre gibt es keine beruflichen Schranken, keine Abgrenzung in Richtung Herkunft wie auch politischer oder religiöser Weltanschauung. Ausnahmen gibt es nur dort, wo die spezielle Zielsetzung des Chores eine bestimmte Auswahl erfordert. Chöre sind somit ein unverzichtbares Element sozialer Integration. Das gemeinsame Singen verbindet Alt und Jung genau so wie Menschen aus den verschiedensten Berufen mit oft unterschiedlichen Weltbildern. Dieses fachliche und menschliche Zusammenwirken erfolgt freiwillig. Die Leitung wird auf Grund der fachlichen Kompetenz und Führungsqualität respektiert. Der Chor ist kein „zusammengetrommelter Haufen“, sondern eine Gemeinschaft, motiviert und getragen von der „Sehnsucht“, ein musikalisches Werk zum Klingen zu bringen. Diese Arbeit verlangt den Einsatz wichtiger demokratisch-humaner Grundlagen wie ehrenamtliches Engagement, Verlässlichkeit, Ausdauer, Zusammenarbeit, Dialog, Toleranz und Solidarität.

Regionale „offene“ Identität

Durch die Errungenschaft der Technik ist es gelungen, jederzeit und an jedem Ort Musik zu speichern, zu kopieren und wiederzugeben. Trotzdem wurde in keiner Generation vor uns so viel aktiv gesungen wie in der heutigen Zeit. Immer mehr werden die Chöre zu einem unerlässlichen Bestandteil der örtlichen und regionalen Kulturarbeit. Sakrale und profane Feste im Jahreskreis, besondere örtliche kulturelle Anlässe erfahren durch die Teilnahme von Chören eine besondere Bereicherung. Chöre leisten damit einen wesentlichen Beitrag für die Entwicklung und Festigung eines Gefühls für Heimat und regionale Identität. Diese emotionale und soziale Bindung an Gemeinde und Region bedeutet für viele einen konkreten Halt in einer Zeit überregionalen, globalen Denkens und Handelns. Bewusste Verwurzelung und vertiefte Erfahrung der eigenen Identität ermöglicht einen angstfreien offenen Umgang mit Menschen aus anderen Regionen, mit deren Lebensweisen und Kultur. Chöre, die in ihrem Repertoire ausgreifen in das Liedgut benachbarter oder entfernter Regionen, lassen erfahren, dass auch jenseits unserer Grenzen Menschen am Werk sind, ihr Leben, geprägt durch eine andere Landschaft und eine andere Geschichte, durch Lied und Musik zu bereichern. Chöre leisten somit neben ihrer Förderung des Heimatbewusstseins einen für die Zukunft immer wichtigeren Beitrag für ein Europa der Regionen und für internationale Solidarität.

Chorarbeit: ein Geben und Nehmen

Wie jede gruppenbezogene kulturelle Tätigkeit, lebt auch das Singen im Chor vom „Geben und Nehmen“. Das Miteinander bei den Proben, das gemeinsame Erarbeiten des Liedgutes, die Freude an Klang und Rhythmus, die Befriedigung, das Ergebnis an Menschen weitergeben zu können und schließlich das Gefühl, etwas geleistet zu haben, fördert die Freude am Singen. Die Teilnahme am Chorgesang erfordert keine technischen Voraussetzungen, wie sie zum Beispiel beim Musizieren erforderlich sind. Die eigene Stimme ist das Instrument, das aber auch der Ausbildung und Pflege bedarf. Schließlich: Jugend- und Erwachsenenchöre profitieren von der Liedarbeit in der Schule. Kinder aus Schulen, in denen durch engagierte Lehrerinnen und Lehrer ein kompetenter Musikunterricht geleistet wird, sind eine gute Voraussetzung für die Erwachsenenchöre. Gerade in Schulchören werden – neben ihrer musikalischen Leistung und ihres herausragenden Beitrages für Feste in Schule und Gemeinde – wichtige Grundlagen für die Mitwirkung in Chören geschaffen!



[5260] Zeitschrift Salzburger Volkskultur, 25. Jg., November 2001, S. 86–89.

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