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Was den konservativen Kulturhistoriker und Publizisten Wilhelm Heinrich Riehl im zeitgenössischen Kontext als die „zwiespältige Natur des Bürgertums“ befremdet, ist seit geraumer Zeit Gegenstand der historischen Bürgertumsforschung.
Neue Untersuchungen neigen dazu, die Unschärfe des Bürgertumsbegriffs durch einen handlungstheoretischen Klassenbegriff zu umgehen, der „Bürgertum“ primär als Lebenswelt versteht. Als Untersuchungsgegenstand der Bürgertumsforschung bieten sich jene auch als Milieus zu umschreibenden politisch, sozial und kulturell normierten Lebenswelten an, welche sich im Bürgertum des 19. Jahrhunderts vor allem auf regionaler und lokaler Ebene ausprägten. Auf Grundlagen bisheriger Untersuchungen zeichnen sich einige Grundzüge struktureller Entwicklung ab.
Die bürgerliche Existenz in der Habsburgermonarchie wurde über das gesamte 19. Jahrhundert hinweg durch das Nebeneinander von „Großstadtbürgertum“ und landnahem „Provinzbürgertum“ geprägt. Das Bürgertum erfüllte zwei wesentliche Funktionen: Einerseits waren Angehörige dieser Schicht nicht selten Anhänger des Fortschritts, die vielen Innovationen zum Durchbruch verhalfen, andererseits bildete das kleinstädtische Bürgertum ein wichtiges Rekrutierungspotential für das großstädtische Bildungsbürgertum. Unternehmerische oder auch bildungsbürgerliche Karrieren jedoch setzten meist nicht ganz unten ein, sondern wurden durch den Aufstieg der vorhergehenden Generation vorbereitet.
Der Gegensatz von „altem“ und „neuem“ Bürgertum, also von traditionellem Stadtbürgertum und neuer Leistungselite, prägte die stadtbürgerliche Gesellschaft in verschiedenen Ausformungen bereits seit dem 18. Jahrhundert. Einige Szenarien lassen sich zumindest aufgrund der Entwicklung von regionalen Fallstudien nachweisen.
Altes Stadtbürgertum und zugewanderte Bürger wuchsen im Sinne wirtschaftsliberaler Vorstellungen allmählich zu einer neuen bürgerlichen Einheit zusammen. Neue, teils zugewanderte wirtschaftsbürgerliche Schichten verdrängten das alte Stadtbürgertum. Die alte stadtbürgerliche Elite und ein neues Wirtschaftsbürgertum existierten über einen längeren Zeitraum nebeneinander, ohne dass die Wirtschaftsbürger eine soziale und politische Integration (Einbindung) in die traditionelle städtische Führungsschicht erreichten.
Die alte stadtbürgerliche Elite und ein neues Bildungsbürgertum fanden, vor allem über das Vereinswesen, zu einer kulturellen und politischen Einheit. Die verschiedenen stadtbürgerlichen Gruppierungen befanden sich in einer starken sozialen und funktionalen Verflechtung, die sich bis zum Ende des 19. Jahrhunderts als eine wirksame Barriere gegenüber einer Fragmentierung (Zergliederung) der städtischen Gesellschaft erweisen sollte.
Auch im wirtschaftlich rückständigen geistlichen Fürstentum Salzburg existierten moderne und vormoderne Strukturmerkmale bereits nebeneinander. So war der Salzburger Handelsstand in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zweifellos eine ständische Elite im klassischen Sinn.
Die Ausbildung neuer Formen von Bürgerlichkeit zeigt deutlich, dass die Kluft zwischen den einzelnen Gruppierungen des städtischen Bürgerstandes gegen Ende des 18. Jahrhunderts eher zu- als abnahm. Ursache dafür war unter anderem die Ausbildung neuer ständeübergreifender Formen bürgerlicher Geselligkeit. In Salzburg war es der letzte geistliche Landesherr Fürsterzbischof Hieronymus Graf Colloredo (1772–1803) selbst, der durch die Gründung eines Theaters und eines „Casinos“ die Voraussetzungen für eine Annäherung von Aristokratie und bürgerlicher Elite schuf. Neben den neuen Formen gesellschaftlichen Umgangs und kultureller Praxis kam der Herausbildung einer bürgerlichen Öffentlichkeit besondere Bedeutung zu.
Das intellektuelle Niveau der salzburgischen Spätaufklärung verflachte im darauf folgenden Jahrzehnt. Im 1810 gegründeten „Museum“[19] organisierte sich die „bürgerliche Geselligkeit“ ohne besonderen Bildungsanspruch. Handwerker und Kleinhändler – die große Mehrheit des Stadtbürgerstandes – fanden jedoch allein schon wegen der hohen Mitgliedsbeiträge keinen Zugang zu diesen neuen Formen bürgerlicher Kommunikation.
Der politische Handlungsspielraum des Bürgertums war im Vormärz (Periode von 1815 bis zur Märzrevolution von 1848) eng bemessen. Offene Opposition gegen das absolutistische System gab es angesichts der allgegenwärtigen polizeilichen Überwachung nicht. Übrig blieb somit einzig und allein der Rückzug in die unpolitischen Bereiche von Wirtschaft, Kultur und Geselligkeit.
Mit einiger Verspätung brach die zeittypische Vereinsleidenschaft nun auch in Salzburg aus. 1841 war der „Dom-Musik-Verein“ ins Leben gerufen worden, aus dem die Musikschule „Mozarteum“ herauswachsen sollte. Als weitere bürgerliche Vereinsgründungen folgten in diesem Jahrzehnt der „Salzburger Kunstverein“ (1844), die „Salzburger Liedertafel“ (1847), sowie die „Landwirtschaftsgesellschaft (1848) und der „Gewerbeverein“ (1846).
Ganz auf eigenen Füßen standen die bürgerlichen Vereinsgründungen des späten Vormärz noch nicht. Im Falle des Dom-Musik-Vereins und auch des Kunstvereins wirkte Erzbischof Kardinal Friedrich Fürst Schwarzenberg (1836–1850) anregend und finanziell unterstützend als Geburtshelfer mit. Weniger exklusiv, dafür aber von breiten Schichten des Bürgertums getragen, war die Salzburger Liedertafel, deren Mitglieder sich im Revolutionsjahr 1848 aktiv am politischen und geselligen Leben beteiligten.
[19] Unter den Mitgliedern überwogen – zum Teil adelige – Offiziere, bürgerliche Beamte und Kaufleute. Dazu kamen einige Geistliche, Mediziner, Advokaten und Erzieher. „Museumsbälle“, musikalische Darbietungen, Lektüre, gemeinsames Spiel und gehobene Konversation machten die abstrakte Kategorie „Bürgertum“ auch in der wirtschaftlich und kulturell stagnierenden k. k. Kreishauptstadt Salzburg konkret erfahrbar.