Klicken Sie bitte HIER, um zur Langtext-Version dieses Beitrags zu gelangen.
Als der Großherzog Ferdinand von Toskana, am 11. Februar 1803, die säkularisierte ehemalige Fürstpropstei Berchtesgaden als einen Teil der Entschädigung für seine Gebietsverluste in der Toskana in Besitz nahm, bekam er ein hoch verschuldetes Land mit reichen Bodenschätzen und einer verarmten Bevölkerung. Die Geschichte des ehemaligen Augustinerchorherrenstifts ist gekennzeichnet von Auseinandersetzungen zwischen seinen beiden Nachbarn, dem Erzbistum Salzburg und dem Kurfürstentum Bayern, um Einflussnahme im „Ländchen“. Große Wälder als Energieträger und umfangreiche Salzvorkommen bildeten die wirtschaftlichen Grundlagen des Staates. Die ökonomischen Möglichkeiten der Bevölkerung waren dagegen außerordentlich beschränkt. Die Landwirtschaft gab wegen der gebirgigen Lage, den schlechten Böden und dem kühlen Klima zu wenig her. Die fürstliche Verwaltung, Land- und Forstwirtschaft, Salzbergbau und Saline sowie das Landhandwerk boten nicht genug Arbeitsplätze für die seit der Mitte des 16. Jahrhunderts stetig anwachsende Bevölkerung.[252]
Es hat sich, wohl aus dem im Mittelalter üblichen Bedarf an Holzgerätschaften für Land- und Hauswirtschaft, allmählich die Holz verarbeitende Hausindustrie entwickelt, die im 17. und 18. Jahrhundert ganz Europa mit gedrechselten und geschnitzten „Berchtesgadener Waren“ versorgte. Das Holz, vor allem das weiße Ahornholz für gedrechseltes Geschirr, stellte der Staatsforst gegen die Bezahlung einer kleinen Gebühr zur Verfügung; erst als die Sorge um die Energie zum Salzsieden wuchs, wurde die Holzentnahme beschränkt.
Die Berchtesgadener Holzhandwerker hatten sich seit der Frühen Neuzeit in Zünfte organisiert. Die Drechsler, Pfeifenmacher, Schnitzer, Schachtelmacher, Schachtelmaler und auch die Verleger bildeten jeweils eine Bruderschaft und Zunft mit einem eigenen Schutzpatron. Sie gaben sich Ordnungen, die neben dem religiösen Leben die berufsbezogenen Dinge regelten. Dazu gehörten die Ausbildung von Lehrlingen, die Gesellen- und Meisterschaft, der Holzbezug, eine Qualitätskontrolle und das Verhältnis zu den Verlegern. Für kleinere Lehensbesitzer, Häusler und Inwohner bot das Holzhandwerk bei guter Konjunktur ein sicheres Einkommen an Bargeld. Deshalb begannen viele ohne geregelte Ausbildung mit der gewerblichen Produktion. Das ging so weit, dass im 17. Jahrhundert nur schwer Dienstboten für die Landwirtschaft zu bekommen waren. Auch die Berg- und Salinenarbeiter produzierten aufgrund eines Privilegs Holzwaren. Für die Zunfthandwerker waren alle Nichtzünftigen „Fretter“, die das Handwerk übervölkerten und ihnen Konkurrenz machten.
Der Vertrieb des kleineren Teils der gedrechselten, geschnitzten und bemalten Waren, Spanschachteln und Spielsachen lief über Hausierer. Einige von ihnen stammten aus der Fürstpropstei, die meisten kamen aus den traditionellen Hausierergegenden. Die tirolerischen, salzburgischen, bayerischen Hausierer, die „Welschen“ und „Savojarden“ aus Oberitalien deckten sich direkt bei den Produzenten ein und trugen die Waren von Haus zu Haus, boten sie auf Wochen- und Jahrmärkten und auf Kirchweihen an. Der größte Teil der Waren wurde von den Verlegern aus Berchtesgaden, Schellenberg, Salzburg, Hallein und Reichenhall verkauft. Sie hatten daheim große Vorratslager, besuchten die Handelszentren Nürnberg, Frankfurt a. M., Leipzig und Wien oder unterhielten dort sogar eigene Niederlassungen, die Faktoreien. Die „Berchtesgadner War“ verschickten sie auf dem Land-, mehr noch auf dem Wasserweg zu Kunden in ganz Europa. Die Rechnung lautete auf Gulden, bezahlt wurde in verschiedenen Währungen in bar oder mit Wechsel.
Die „Berchtesgadner War“ hatte seit der Mitte des 17. Jahrhunderts mit immer größerer Konkurrenz zu rechnen. In waldreichen, strukturschwachen Gegenden[253] gab es immer mehr Holz verarbeitende Heimindustrien, die ganz ähnliche Produkte herstellten und verkauften.
Zu dem zusätzlichen Warenangebot aus anderen Regionen kamen seit der Mitte des 18. Jahrhunderts die Folgen der merkantilistischen Wirtschaftspolitik der österreichischen Kaiserin Maria Theresia. Sie förderte die gewerbliche Produktion im eigenen Land und verbot die Einfuhr von Spitzen und Modestoffen aus Frankreich ebenso wie den Import von „Berchtesgadner War“. Die Händler wurden verhaftet und eingesperrt, die Waren an die Landesgrenzen zurückgeschickt. Neue Märkte konnten so schnell nicht gefunden werden. Die Verleger bekamen die Konkurrenz zu spüren. Sie warfen den Produzenten vor, schlechte, altmodische und unverkäufliche Waren herzustellen und gaben den Preisdruck an sie weiter. Die Holzhandwerker waren abhängig, Not breitete sich aus. Sie beklagten sich über die Praxis der Verleger, die ihnen für die Waren gar kein Bargeld oder nur einen geringen Teil des Preises in bar auszahlten, den Rest für überteuerte Naturalien, Wein, Branntwein, Tücher, Stoffe u. Ä. einbehielten, die die Handwerker nicht brauchten oder wollten.
Der größte Teil der Bevölkerung lebte in ärmlichen Verhältnissen. Schon kurze Phasen der Teuerung reichten aus und das Gespenst des Hungers ging durch das Land. Das Holzhandwerk gehörte gegen Ende der Fürstpropstei nicht mehr zu den vitalen Industrien. Die „Berchtesgadner War“ blieb eine billige Massenware für den alltäglichen Gebrauch, die umso uninteressanter wurde, je mehr neue Formen und neue Materialien durch die beginnende Industrialisierung der Kundschaft angeboten wurden.
[252] Die Bevölkerungszunahme war einerseits Ursache für die Ausweitung des Holzhandwerks als Erwerbszweig in der Fürstpropstei, andererseits auch die Folge davon, denn Paare, die in agrarischen Strukturen wegen der fehlenden wirtschaftlichen Sicherheit keine Existenz hätten gründen können, heirateten bzw. heirateten früher und bekamen mehr Kinder. Diese halfen nach der Säuglings- und Kleinkindphase, in der sie nur Kosten verursachten, durch ihre Mitarbeit, das Familieneinkommen zu erhöhen.
[253] Als Beispiele für diese waldreichen, strukturschwachen Gegenden sind zu nennen: Spessart, Odenwald, Schwarzwald, Harz, Thüringer Wald, Fichtel-, Erz- und Riesengebirge, im Bayerischen Wald, Böhmerwald, in den Kleinkarpaten, in Oberösterreich, im Mühlviertel und in den waldreichen Gegenden der bayerischen und österreichischen Alpen