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Der Bau der Tauernbahn durch das Gasteinertal mit seinen Kunstbauten in den Jahren 1901 bis 1909 geht auf die unterschiedliche regionale Entwicklung innerhalb der österreichisch-ungarischen Monarchie zurück. Von besonderer Bedeutung war der Zugang zur Hafenstadt Triest, über die ein großer Teil der Ein- und Ausfuhr erfolgte. Die verkehrstechnisch benachteiligten westlichen Länder und das benachbarte Königreich Bayern zeigten seit den 1850er-Jahren großes Interesse an einer Eisenbahnverbindung nach Triest und dem damit verbundenen Zugang zum Seeverkehr.
1901 wurde unter Ministerpräsident Ernest Körber mit der öffentlichen Ausschreibung und Vergabe der Arbeiten an der Tauernbahn begonnen. Mit dem Ausbau des österreichischen Eisenbahnsystems wurden sowohl ökonomische als auch soziale Prozesse mitinitiiert. Denn für den Bahnbau benötigte man eine Vielzahl von Technikern, Beamten, Fach- und Hilfsarbeitern – insgesamt waren 70.000 Arbeiter an den verschiedenen Bahnbauten gleichzeitig beschäftigt.
Gearbeitet wurde nicht nur am Kernstück der Tauernbahn, dem Tauerntunnel (8.551 Meter lang), sondern auch an der Bahnstrecke und den dazu benötigten Kunstbauten (z. B. Weidmoser-Viadukt). Diese technischen Bauten, der Verkehr für Materialtransporte und vor allem der Zuzug von Arbeitern trugen zu einer Veränderung des Gasteinertals bei.
Der Bau des Tauerntunnels erforderte im Vergleich zu heutigen Tunnelbaustellen geringen Einsatz von Maschinen, dafür aber eine umso größere Zahl von Arbeitskräften. Der Fuhrwerkverkehr bedeutete zusätzliche Verdienstmöglichkeiten auch für die Bauern der Umgebung und schuf Kontakte zwischen Einheimischen und den Arbeitern auf den Baustellen. Diese rekrutierten sich aus allen Teilen der Monarchie, wobei der Großteil der Hilfskräfte Ruthenen, moslemische und orthodoxe Bosnier, Kroaten, Slowenen und vor allem Mazedonier waren.
Für die Kunstbauten der Tauernbahn (Viadukte, Gebäude, Galerien usw.) wurden zumeist friulanische Steinmetze herangezogen, da sie seit Generationen über die notwendigen Kenntnisse der Steinbearbeitung verfügten. Die Barockbaukunst und auch Details vieler Bürger- und Bauernhäuser in Österreich sind untrennbar mit dem Wirken dieser Handwerker verbunden.
Weniger angesehen als die Facharbeiter und Handwerker waren die zahlreichen Hilfsarbeiter, welche die Mehrzahl der Arbeiter stellten. Schlechte Bezahlung, die Trennung von ihren Familien, die unzureichende Qualität der Unterbringung und der Druck der Akkordarbeit führten zu Alkoholproblemen und höherer Gewaltbereitschaft. Die damalige Gendarmerie konnte diesen Problemen nur schwer Herr werden und die einheimische Bevölkerung reagierte mit Skepsis und Ablehnung.
Vor dem eigentlichen Beginn des Tauernbahnbaus mussten Wohngebäude, Arbeiterunterkünfte, Verpflegungsstation, Krankenspital und dergleichen errichtet werden – es entstand eine „Barackenstadt“. Der Standort des Lagers war nicht optimal, da eine Gefährdung durch Hochwasser der in der Nähe fließenden Bäche gegeben war. Die typischen hölzernen Wohnbaracken, die nicht nur von ledigen Arbeitern, sondern auch von Familien bewohnt wurden, wiesen keinen hohen Komfort auf. Vergleichsweise aufwändig war da bereits das im Jahr 1906 eingereichte Arbeiterwohnhaus, das für verheiratete Facharbeiter gedacht war.
Auch die medizinische Versorgung war vor allem in der Anfangszeit der Bauarbeiten mangelhaft. Die „Union-Baugesellschaft“ reichte erst im April 1903 die Pläne für den Bau eines gemauerten Arbeiterspitals ein, das im selben Jahr in Betrieb ging und im Jahr 1907 um ein Barackenspital erweitert wurde.
Für eine hohe Auslastung dieser Spitalbauten und der dazugehörigen Leichenkammer war durch die Vielzahl von Unfällen gesorgt. Der hohe zeitliche Druck der Arbeiten, die oft schlechten Wetterbedingungen, Steinschlag und Sprengarbeiten verursachten während der Bauarbeiten des Tauerntunnels insgesamt 684 Verletzte und 55 tödlich verunglückte Bauarbeiter.
Die Haltung der einheimischen Bevölkerung gegenüber den fremden Arbeitern war großteils ablehnend und mit großen Spannungen beladen. Oft kam es zu einem Aufeinandertreffen von unterschiedlichen Kulturen und Lebenswelten. Ingenieure, Bahnbeamte, Facharbeiter und Handwerker wurden von der Bevölkerung akzeptiert. Anders verhielt es sich jedoch mit der Masse der dort eingesetzten Hilfsarbeiter. Mit dem Eisenbahnbau kamen erstmals Fremde ins Gasteinertal, die nicht Einnahmequelle waren wie die Badegäste, die dort bis dahin im Sommerhalbjahr die einzigen Fremden gewesen waren.
Auch die Behörden sahen in den Arbeitern vor allem einen lästigen Zuzug. Zum einen gab es die Ablehnung von Menschen aus dem Süden und Südosten, gefördert durch deutschnationale Strömungen, zum anderen die Furcht vor politischer Radikalisierung durch die Entstehung eines organisierten Proletariats und des Importes der politischen Konflikte aus anderen Teilen der Monarchie.
Als die Strecke Bad Gastein–Spittal am 5. Juni 1909 eröffnet wurde, zogen die meisten der Arbeiter wieder weiter. Zurück blieb ein verändertes Gasteinertal – dies betraf nicht nur die Modernisierung des Verkehrsnetzes, sondern auch die Veränderung des sozialen Gefüges der ländlichen Gesellschaft durch das Eindringen neuer sozialer Schichten. Die wirtschaftliche Lage des Tales wurde auf eine neue Grundlage gestellt und die Bevölkerung wuchs innerhalb dieses Jahrzehnts um rund 26 Prozent an.