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Marktvergesellschaftung (Karlheinz Wöhler)[433]

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Zugang zum Marketing von heute

Die heutige Gesellschaft der westlichen Welt zeichnet sich durch Individualisierung und einen Käufermarkt aus. Dem Individuum steht heute einerseits eine unbegrenzte Anzahl von Möglichkeiten auf dem Markt der Gesellschaft offen, andererseits muss es seine Entscheidungen nicht begründen. Wird nichts nachgefragt, dann verlieren die Anbieter von Waren ihre Existenzgrundlage.

Marketing ist demnach die Ausrichtung von Sachgüter- und Dienstleistungsanbietern (Warenanbieter) an gegebene und potenzielle Nachfrager, die sich mit dem Erwerb von Waren ökonomisch, sozial und kulturell verorten und sich mit diesen Waren physische und psychische Fundierung sichern. Anbieter und Nachfrager stehen damit in einem wechselseitigen Abhängigkeitsverhältnis. Der eine kann ohne den anderen nicht existieren – sie müssen in einen Leistungsaustausch treten.

Ein Anbieter muss sich bemühen, den Wünschen und Erwartungen der Nachfrager zu entsprechen. Zugleich muss er sein Leistungsangebot so gestalten, dass es in der Wahrnehmung der Nachfrager den Konkurrenzangeboten als überlegen eingestuft wird. Die Individuen stehen vor der Aufgabe, dass sie ihr Leben selbst gestalten, verorten und verantworten müssen. In dieser Situation betreten sie den Markt der Gesellschaft, der mit seinen Warenangeboten diese Gestaltungs- und Verortungsfunktion übernimmt.

Marktabhängigkeit

Heute lebt man, wie man ist, und dies bedeutet, dass man sich jene Waren erwirbt, die einem gerade gefallen. Werte behalten zwar ihre allgemeine Gültigkeit, die inhaltliche Verwirklichung aber bleibt jedem Einzelnen überlassen, da es nicht zuletzt in Anbetracht der vielen Marktmöglichkeiten an einer Bestimmung des „guten Lebens“ fehlt.

Was jedoch die Freisetzung des Individuums in der heutigen Zeit bewirkte (Bildung, Beruf, Mobilität, Recht etc.), ist nicht nur organisiert, sondern zunehmend marktlich vermittelt und gerät damit in eine Marktabhängigkeit. Der Gegenwartsmensch ist also auf den Zugang zu Organisationen angewiesen. Diese Abhängigkeit bewirkt, dass die Gesellschaft trotz des freigesetzten und „bindungslosen“ Individuums nicht auseinander bricht. Der soziale Zusammenhalt erfolgt über eine Systemintegration, letztlich über Marktvergesellschaftung.

Diese Organisationen stehen untereinander mit ihren Leistungen um den Kunden im Wettbewerb. All diese Leistungsanbieter können nicht mehr von einem unveränderlichen Verhalten der Individuen ausgehen. Für den Gegenwartsmenschen gilt das Handlungsprinzip: Offenheit für alles. Diese Offenheit dem gesellschaftlich Bereitgestellten gegenüber ermöglicht es, sich ständig selbst zu erschaffen und sich infolge dessen selbst zu entgrenzen. Die Individualisierung schreitet fort und bringt stets neue Verhaltensweisen hervor.

Grund- und Zusatznutzen

Leistungsanbieter jeglicher Art müssen grundsätzlich entscheiden, welcher Kundennutzen überhaupt geschaffen werden soll und wie sie sich gegenüber dem Wettbewerb einordnen wollen bzw. können. Ein Nachfrager interessiert sich für ein bestimmtes Gut und erwirbt es, wenn es einen bestimmten Nutzen stiftet. Der Nutzen resultiert prinzipiell aus der Befriedigung seiner Bedürfnisse. Wenn eine Anbieterleistung ein Bedürfnis befriedigt, dann liegt also ein Kundennutzen vor.

Jedes Gut stiftet zunächst einen Grundnutzen (z. B. man muss auf einem Sofa sitzen können). Durch zusätzliche Leistungen (z. B. besonderes Design) stiften die Anbieter einen so genannten Zusatznutzen, der für die Funktionsfähigkeit nicht zwingend notwendig ist, aber die gestiegenen Ansprüche der Kunden befriedigen kann. Der (Grenz-)Nutzen von Gütern nimmt mit dem Augenblick ab, wo die Versorgung der Basisleistungen gesichert ist, so dass bei den Nachfragern zusätzliche Wünsche entstehen.

Die von den objektiven Gegebenheiten abweichenden Zusatznutzenarten bestimmen die Kaufentscheidungen und damit den Markterfolg eines Gutes. Im Zusatznutzen will sich der Mensch in seiner spezifischen soziokulturellen und psychischen Verfasstheit wiederfinden. Um sich gegenüber der Konkurrenz in den gesättigten Märkten abzuheben, stehen einem Leistungsanbieter zwei Möglichkeiten offen: die Strategie der Kostenführerschaft („Billig-“ und „Low-Cost-Angebote“) und die Differenzierungsstrategie (leistungsbezogene Überlegenheit, z. B. Dienstleistungen wie Beratung/Service, verbesserte Leistungsfähigkeit durch Neuerungen).

Zielgruppen in einer pluralistischen Gesellschaft

Die Individualisierung der Menschen läuft auf eine Pluralisierung kultureller Lebensformen und unterschiedliche Nutzungsstrukturen hinaus. Um die Kunden in Marktsegmente bzw. Zielgruppen einteilen zu können, werden Studien durchgeführt. Potenziellen Kunden werden die unterschiedlichsten Produktversionen mit der Aufforderung vorgelegt, ihre Präferenzen in eine Rangfolge zu bringen. Fasst man die Befragten zusammen, die ähnliche Nutzenstrukturen aufweisen, dann erhält man so genannte unterschiedliche „Cluster“ (Zielgruppen/Marktsegmente).

Als zeitlich stabil haben sich Lebensstile herausgestellt. Es hat sich gezeigt, dass den individuellen Lebensformen bestimmte Einstellungen, Interessen, Aktivitäten und Verhaltensmuster zugrunde liegen, die allesamt in einem engen Zusammenhang mit Produkten, dem Konsumverhalten und mit der Abnahme von Produkten stehen. Das Ziel einer daran anknüpfenden Marketingforschung ist es also, beobachtbares Kauf- und Konsumverhalten der Individuen durch Lebensstile zu erklären.

Auch Milieus stellen das Zielpublikum für Produkte dar. Die soziale Milieuzugehörigkeit ist relativ beständig, da Mentalitäten eingepflanzt sind, die von tief verwurzelten Werthaltungen und Milieukontakt aufrechterhalten werden. Somit liefern sie beständige Vorgaben für die Produktgestaltung.

Werbung: Information und Veränderung

Marketing wird nicht selten mit Werbung gleichgesetzt. Da man nur für Produkte werben kann, vollzieht sich die Werbung vor dem Hintergrund von Produkten bzw. deren Eigenschaften. Um zu wissen, mit welchem Produkt man auf dem Markt Erfolg haben könnte, muss man sich darüber informieren, was die (potenziellen) Kunden wollen, welchen Nutzen sie sich von einem Produkt versprechen und wie sie sich mit dem Produkt soziokulturell eingebettet sehen. Erst nach der Gewinnung entsprechender Informationen kommt es zur Produktgestaltung und danach zur Vermarktung im Sinne der Werbung und des Handels. Werbung bildet nicht den Ausgang, sondern den Endpunkt des Marketings.

Werbung ist die Weckung bzw. Bewusstmachung von Bedürfnissen – sie soll Aufmerksamkeit und Wünsche erzeugen. Obwohl Werbung nicht das einzige Kommunikationsinstrument darstellt (Messen, Events, Sponsoring etc.), so ist es doch zentral – weil allgegenwärtig. Damit die Werbung ankommt, muss sie sich den ständig wandelnden gesellschaftlichen Bedingungen anpassen. Sie greift Trends in der Gesellschaft auf, verstärkt sie in die gewünschte (Produkt-)Richtung, prägt ihrerseits wieder neue Trends und bringt sie untersetzt mit Produkten ins allgemeine Bewusstsein.

In diesem Sinne spiegelt Werbung nicht nur die Gesellschaft wider, sondern sie produziert und setzt Neues durch. Demzufolge informiert Werbung schon seit geraumer Zeit nicht mehr ausschließlich, sie verändert auch den Menschen.

Nutzungsrecht statt Eigentum

Dass die Gesellschaft von heute eine vermarktete Gesellschaft geworden ist, lässt sich schwerlich widerlegen. Räume und Zeiten sind nahezu bedeutungslos geworden. Überall und zu jeder Zeit sind nahezu alle Waren des Globus erhältlich. Der Zugang der modernen Gesellschaft zu Sachgütern und Dienstleistungen ist einem steten Wandel ausgesetzt.

Nicht mehr der Warentausch und somit Besitz und Eigentum an Waren, sondern die Nutzungsrechte daran prägen künftig das Leben (z. B. statt ein Auto zu kaufen, schließt man Leasing- und Mietverträge ab). An die Stelle der Märkte treten Netzwerke; Verkäufer und Käufer werden zu Anbietern von Nutzungsrechten und Nutzern von Gütern für einen bestimmten Zeitraum. Was bislang käuflich war, ist für die Nutzung zugänglich zu machen.

Für die moderne Gesellschaft hat das „Sich-selbst-Erfahren“ einen höheren Stellenwert gegenüber dem „Besitzen“ eingenommen. Aus den Erkenntnissen darüber entwickelte sich die so genannte „Erlebnisökonomie“. Das Kerngeschäft der Leistungsanbieter hat sich folgerichtig auf die Vermarktung von Erlebnissen und Erfahrungen verlegt. Der Zugang zu diesen Erlebnissen scheint heutzutage allein persönliche Erfüllung zu gewährleisten. Zugang wird damit zu einer politischen Kategorie: Wer keinen Zugang hat, der wird von weiten Teilen der Gesellschaft ausgeschlossen.



[433] Kurzfassung von Ilona Holzbauer

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