In Salzburg waren 2002 1.500 Sportvereine, 53 alpine Vereine und 329 Heimatvereine und Brauchtumsgruppen registriert.[511] Österreichweit existieren auf über 896 Hektar 35.500 Kleingärten, welche in 364 Vereinen und fünf Landesverbänden administriert werden. Laut Vereinsgesetz von 2002 (VerG 2002) ist ein Verein „ein freiwilliger, auf Dauer angelegter, auf Grund von Statuten organisierter Zusammenschluss mindestens zweier Personen zur Verfolgung eines bestimmten, gemeinsamen, ideellen Zwecks. Der Verein genießt Rechtspersönlichkeit“[Scherhak/Rauscher/Hinterleitner 2002]. Die „Bildungsanzeige“ eines Vereins geht in Österreich gegen Eingabegebühr an die Bezirksverwaltungsbehörde. Wird der Verein nicht gestattet, ergeht dazu ein Bescheid.[512]
Populärwissenschaftlich werden Vereine häufig auf lapidare Sprüche reduziert wie „Der Österreicher ist ein Vereinsmeier“. Dass der sozialwissenschaftliche Blick auf das Phänomen „Verein“ nicht wesentlich differenzierter ist, belegt eine aktuelle Literaturrecherche in der psychologischen Datenbank „Psyndex“ für den gesamten deutschen Sprachraum. Zum Suchbegriff „Verein$“ erschienen von 1999 bis 2004 nur fünf Facharbeiten, die hier aufgezählt werden sollen:
[Clausen 2003] (Gisela Clausen: Vereinsmanagement in Zeiten der Veränderung. In: Gruppendynamik und Organisationsberatung. 34. 2003, S. 7–26.)
[Heinemann 2001] (Klaus Heinemann: Emotionen in Sportvereinen. Entwurf einer funktionalistischen Theorie. In: Sportwissenschaft. 31. 2001, S. 359–379.)
[Keupp 2001] (Keupp, Heiner: Zwischen Egotrip und Ehrenamt. Neue Formen der Solidarität und des bürgerschaftlichen Engagements. In: Hill, Hermann (Hg.): Modernisierung – Prozeß oder Entwicklungsstrategie? Frankfurt 2001, S. 155–179.)
[Waszkewitz 2000] (Bernhard Waszkewitz: Gruppen, Cliquen und Vereine – und wie sie sich und andere regieren. Eine Einführung in die Psychologie und Organisation sozialer Systeme. Stuttgart 2000.)
[Locher 1999] (Beate Locher: Suchtvorbeugung im Sportverein. Interventionsstudie am Beispiel von Schulungsmaßnahmen zum landesweiten Projekt LA OLA. In: Prävention. 22. 1999, S. 29–32.)
Bei einer früheren Durchsicht der Datenbank „Psyndex“[513] für zehn Jahre fanden sich dreizehn Arbeiten zum Thema im engeren Sinn. Auffallend dabei war die Verengung des Themas auf Sportvereine (acht der dreizehn Einträge) und die innovativen Inhalte Systemtheorie (1), Management und Sponsoring (3) und Senioren (2).
Eine weitere Psyndex-Suche im Zeitraum von 1977 bis 2001 zum Suchbegriff „Klub$“ förderte 39 themenrelevante Einträge zutage. Ausgiebig beforscht wurden auch hier die Sportvereine (30 Fundstellen) unter den Aspekten Gesundheitsförderung, Kinder, Jugendliche, Behinderte, Ältere, Strafvollzug, Vergleich zu Fitnessklubs sowie Leistungsorientierung. Dieter Hohenadel[514] beobachtete bei einer Unfallanalyse von Motorradfahrern, dass die Unfallquote bei Ausfahrten ganzer Motorradclubs erheblich unter dem Durchschnitt aller Motorradunfälle lag. Das widerspricht dem sonst verbreiteten Fremdbild über „die wilden Biker“. Barbara Moschner fand in ihrer psychologischen Dissertation über ehrenamtliches Engagement heraus,[515] dass sich ehrenamtlich tätige Personen – entgegen den Erwartungen – in allen Lebensbereichen zufriedener als eine Kontrollgruppe einschätzten und Fragen nach dem Lebenssinn positiver beantworteten. Zentraler Prädiktor von Engagement war die „Bereitschaft“ zur Übernahme ehrenamtlicher Verantwortung, nicht Gerechtigkeits-, Kompetenz- oder Kontrollüberzeugungen.
In mehreren vom Autor konsultierten Lehrbüchern der Sozialpsychologie fehlt das Stichwort „Verein“.[516] Sozialpsychologie, ein in tausend Mikrotheorien zersplittertes Unternehmen, scheint Vereine zur Sozialarbeit zu zählen und automatisch auszusondern. Bei Leon Mann,[517]einer eher populärwissenschaftlichen Sozialpsychologie, kommen Vereine nur negativ als „Vereinsmeiern“, Zeitverschwendung durch enge Freundschaft zwischen Gruppenmitgliedern, vor.
Entgegen der bisher sichtbar gewordenen thematischen Ausgrenzung hält der Autor eine „Psychologie des Vereinswesens“ für ein durchaus lohnendes Gebiet sozialwissenschaftlicher Forschung. Der Mensch als „zoon politicon“, angelegt zum Kleingruppenwesen mit „face-to-face“-Kontakten, bewegt sich in der modernen Gesellschaft gleichzeitig in mehreren sozialen Systemen: der intimen Kern- oder Kleinfamilie mit Resten der erweiterten Familie, dem zwangloseren Freundeskreis oder der Peergroup, den zeitlich rigideren Arbeits- und Ausbildungsbeziehungen und der diffusen Freizeit- und Massenkommunikation. Zu den menschlichen Grundbedürfnissen („basic needs“) nach Abraham Maslow[518] zählt „affiliation“, das Streben nach Anschluss, Zugehörigkeit, sozialem Kontakt. Da die Palette der individuellen Interessen und Werte breit ist, können Zweierbeziehung und erweiterte Familie, trotz hoher emotionaler Erwartungen, nicht alle Kontakt- und Sinnwünsche befriedigen. Interesse an Bergsteigen oder Perlensticken kann bei Partner/Partnerin nicht als selbstverständlich vorausgesetzt werden. Eltern sind auch keine brauchbare „beer [!] group“ in der Pubertät. Arbeitsbeziehungen haben ein zeitliches Raster, aber zu viel Routine und zu wenig Wahlfreiheit. Freizeit und Medien bieten Unterhaltung, Konsum stiftet aber kaum dauerhafte Kontakte.
Freunde können andere Kommunikation, andere Themen und Rollenerwartungen stützen als Kleinfamilie und Arbeitskollegen. Studien zu sozialen Netzwerken und sozialer Unterstützung[519] zeigen die unterstützende Funktion von Freundschaften – aber wie Freunde finden? Die horizontale und vertikale Mobilität der Gesellschaft ist nicht gerade freundschaftsfördernd, die Nützlichkeitsideologie des „Investierens in Beziehungen“ schon überhaupt nicht. Sekundäre soziale Netze wie Nachbarschaft wurden im Stadtleben funktionslos – wer will sich noch im Stiegenhaus unterhalten, wer will noch etwas (her)borgen, wenn es Supermärkte gibt?
An diesem Punkt, der „Stiftung dauerhafter, interessanter“, nicht primär materiell und/oder sexuell motivierter „Beziehungen, die ein breites Spektrum an persönlichen Interessen und Themen abdecken“, erweist sich das Phänomen „Verein“ als sinnvoll. Vereine bieten eine organisatorische Minimalstruktur, welche „Zeit, Ort und Unterhaltungsgegenstand von Begegnungen“ soweit vorgibt, dass – anders als in unverbindlichen Freizeitsituationen – weder ein glücklicher Zufall noch besondere Kontaktfähigkeit für intensivere Gespräche vonnöten sind. Andere Leute sind da und „es geht um etwas“, wobei vorgegebene Inhalte – wie beim Kulturkonsum – in der Interaktion zweitrangig werden. Vereine haben, auch wenn es Sozialwissenschaftler meist unter ihrer Würde finden, sie zu untersuchen, sehr wahrscheinlich psychohygienische bis therapeutische Wirkungen, indem sie soziale Kontakte, ein Gefühl der Zusammengehörigkeit, oft sogar Freundschaften ermöglichen und fördern.
Im Internet koexistieren friedlich die „Bundesbahn-Musikkapelle Innsbruck“, die „Computerfüchse e.V.“, der „Museumsverein für Nummernschilder“, der „Verein Thüringer Ornithologen e.V.“, der „Thir Aslan-Verein für Rollenspiel“, der „Raketenmodellsport-Verein 82 e.V.“ oder der „Tonbandstimmen-Verein für Transkommunikations-Forschung e.V.“. Fördern Vereine nicht auf bedenkliche Weise exzentrisches Verhalten? Ganz im Gegenteil zu weit verbreiteten sozialen Ängsten identifizierten David Weeks und Jamie James[520] „Exzentriker“ in einer empirischen Untersuchung als psychisch gesund, weniger gestresst und krank als der „normale“ Durchschnitt der Bevölkerung. Indem eigene Spleens, Obsessionen, Größenfantasien auf sozial harmlose Weise umgesetzt und ausgelebt werden, indem zur eigenen Entlastung die „Nonkonformistenuniform“ (R. Mey) angezogen wird, tragen Vereine wesentlich zum Selbstwertgefühl, zum Narzissmus sonst sicher einsamerer Individuen bei. Und, last, not least, sind Vereine nicht nur biedere, staatstragende Gebilde, wie beim braven Soldaten Schwejk, sondern erlauben Gegenwelten, kreative Projekte, Ausagieren sonst verbotener oder unerwünschter Fantasien und Handlungsentwürfe. Wer das nicht glaubt, sollte sich einmal mit einem Montafoner Trachtenverein nach der Aufführung hinter der Bühne zusammensetzen oder mit einem Verein der Eisenbahnfreunde eine historische Dampflokfahrt unternehmen. Beides war dem Autor vergönnt. Auch der Sozialforscher fällt unter diesen Bedingungen nicht mehr auf, sondern lernt, dass „gemeinsames Tun“, was immer es auch ist, „Menschen verbindet“. Vereine sind daher von Grund auf weder gut noch böse, sondern Strukturen des sozialen Austauschs. Sie sind in dieser Funktion offenbar erfolgreich. Und wenn Groucho Marx einmal meinte, er würde nie Mitglied eines Vereins werden wollen, der ihn als solches akzeptiert, dann irrt er. Auch diesen Verein gibt es wahrscheinlich schon. Und er veranstaltet demnächst den Kongress der Kongressgegner.
Literatur
[Hohenadel 1983] Hohenadel, Dieter: Motorradclubs. In: Zeitschrift für Verkehrssicherheit. 29 (1). 1983, S. 29–31.
[Keul 2002] Keul, Alexander G.: Zur verborgenen Psychologie des Vereinslebens. In: Kammerhofer-Aggermann, Ulrike (Hg.): Ehrenamt und Leidenschaft. Vereine als gesellschaftliche Faktoren (= Salzburger Beiträge zur Volkskunde, Bd. 12). Salzburg: Salzburger Landesinstitut für Volkskunde 2002, S. 17–21.
[Laireiter 1993] Laireiter, Anton-Rupert (Hg.): Soziale Netzwerke und soziale Unterstützung: Konzepte, Methoden und Befunde. Bern 1993.
[Mann 1997] Mann, Leon: Sozialpsychologie. Weinheim 1997.
[Maslow 1954] Maslow, Abraham H.: Motivation and personality. New York 1954.
[Moschner 1994] Moschner, Barbara: Engagement und Engagementbereitschaft. Differentialpsychologische Korrelate ehrenamtlichen Engagements. Regensburg 1994.
[Scherhak/Rauscher/Hinterleitner 2002] Scherhak, Helmut; Christian Rauscher; Johann Hinterleitner: Vereine. Wien 2002.
[Stroebe/Hewstone/Stephenson 1996] Stroebe, Wolfgang; Miles Hewstone; Geoffrey M. Stephenson (Hg.): Sozialpsychologie. Berlin 1996.
[Weeks/James 1997] Weeks, David; Jamie James: Exzentriker. Über das Vergnügen, anders zu sein. Reinbek/Hamburg 1997.
[Witte 1989] Witte, Erich H.: Sozialpsychologie. München 1989.
[511] Salzburg-Statistik 2002
[516] z. B.: [Witte 1989] – [Stroebe/Hewstone/Stephenson 1996].
[518] [Maslow 1954].