In allen katholischen Gegenden – sei es in Italien, Spanien, Österreich oder Teilen Deutschlands – finden sich in den Dörfern, auf den Feldern oder in der freien Natur religiöse Kleindenkmale. Dieser Brauch ist nicht allein auf Europa beschränkt, er begleitet die Verbreitung des christlichen Glaubens auf der ganzen Welt.
Es gibt sie in vielfältiger Gestalt, so zum Beispiel als Marterl, Feldkapelle, Gipfel- oder Wegkreuz. In den meisten Fällen ist der Tod – sei es durch die symbolisch dargestellte Kreuzigung Christi oder durch den Schutz, den schon die Vorgänger der Wegkreuze aus vorchristlicher Zeit vor bösen Geistern bieten sollten – ein zentrales Moment. Einigen von ihnen, besonders den Marterln, liegen konkrete persönliche Motive für die Errichtung zugrunde – oft der Unglückstod eines Menschen –, und sie fungieren als Gedenkstätten für den Verstorbenen. Sind sie geweiht, wie bei Gipfelkreuzen oder Kapellen meist der Fall, können dort Feld- oder Gipfelmessen abgehalten werden. Sie dienen so der Verlängerung der Kirche in die Landschaft.
Religiöse Kleindenkmale sind Zeichen, die sich nicht wie Werbebanner aufdrängen und dennoch durch ihre Öffentlichkeit eine – wenn auch nur geringe – mediale Wirksamkeit besitzen. Durch ihre Bescheidenheit im Vergleich zu den massenhaften, vielfach aggressiv wirkenden alltäglichen Mitteilungen, die uns ständig erreichen, werden sie nur von wenigen wahrgenommen. Dennoch finden sie Beachtung, sie werden „genutzt“ und immer wieder als Stätten für religiöse Aktivitäten aufgesucht. Sie bilden in der Medienwelt eine Nische, die von jedem Menschen herangezogen werden kann. Der folgende Artikel befasst sich mit religiösen Kleindenkmalen, ihren Eigenschaften und den verschiedenen Wahrnehmungsebenen, die ihnen zugrunde liegen.
Seit 2001 rückt ein EuRegio-Projekt die kulturelle Bedeutung von Kleindenkmalen ins Zentrum regionaler, kulturpolitischer und touristischer Interessen. Das Projekt „Schätze der Kulturlandschaft“ erfasst systematisch die betreffenden Objekte in der Region Salzburg/Berchtesgadener Land/Traunstein und unterstützt damit die Gemeinden in der Wertschätzung sowie in Pflege und Erhaltung der oft vernachlässigten Denkmale.
Im EuRegio-Projekt werden verschiedene Klassen von Kleindenkmalen aufgeführt, von denen bisher drei für Bad Reichenhall relevant sind: Verkehrsdenkmäler, religiöse Kleindenkmäler und Gedenktafeln. Für die hier vorliegende Arbeit werden nur die „religiösen Kleindenkmäler“ herangezogen – wobei das hier genannte Marterl eine Überschneidung aus den Gruppen 1 und 3 darstellt, nämlich eine Gedenktafel an ein Unglück, an das Unglücksopfer, die aus der Tradition solcher religiös motivierter Gedenktafeln an eine „Marter“ entstanden ist. Eine weitere Unterteilung dieser Kategorie findet sich bei Paul und Richilde Werner in „Vom Marterl bis zum Gipfelkreuz – Flurdenkmale in Oberbayern“.[1247] Sie nennen Sühnekreuze, Martersäulen, Marterln, Wegkreuze, Wetterkreuze, Hof- und Feldkapellen, Gipfelkreuze und andere. Wenn im Folgenden von Flurdenkmalen oder Kleindenkmalen die Rede ist, sind immer religiöse Kleindenkmale gemeint, die sich außerhalb des städtischen Raums in der Natur befinden.
Drei der unten besprochenen Flurdenkmale – ein Marterl, ein Kastenkreuz und eine Kapelle – sind auf der Homepage des EuRegio-Projekts aufgeführt. Ein Viertes, ein einfaches Wegkreuz, liegt ebenfalls auf Bad Reichenhaller Gemarkung, wurde aber bis dato[1248] noch nicht in die Liste aufgenommen. Beim Fünften schließlich handelt es sich um das Gipfelkreuz des Dötzenkopfes, das schon zur Gemeinde Bayerisch Gmain zählt.
Für die Errichtung eines Flurdenkmals ist immer ein bestimmter Anlass ausschlaggebend. Sei es ein einzelnes Schicksal – wie der Tod eines Wanderers im Gebirge oder eines Holzrückers (Holzarbeiters) bei der Waldarbeit – oder ein Einschnitt in das kollektive Leben zum Beispiel durch Seuche oder Krieg: Die Kleindenkmale sind geschichtliche Zeugen für vergangene gesellschaftliche Zustände und herausragende Ereignisse, die das Leben einer Person, einer Familie oder der Gesellschaft veränderten. Der geschichtliche Zusammenhang, der dem Denkmal zugrunde liegt, ist das erste Element, das für die Interpretation herangezogen werden muss.
Durch ihre andauernde Existenz sind sie aber auch Zeichen der aktuell stattfindenden Gesellschaft. Sie werden gepflegt, gewartet, geschmückt, benutzt und betrachtet – in jedem Falle aber verbinden sie die Vergangenheit mit dem Jetzt, zeigen, durch immer neue Rezeption, Unterschiede zwischen der Gesellschaft früher und heute auf. Einen Gegenpol zur geschichtlichen Zeugenschaft stellt somit die aktuelle Rezeption dar. Sie bildet die zweite Betrachtungsebene der vorliegenden Arbeit.
Flurdenkmale sind Zeichen des öffentlichen Raums, „Religiöse Zeichen in der Landschaft“, bewusste (oftmals private) Zeichensetzungen in der Öffentlichkeit.[1249] Sie liegen in der Regel an Wegen oder, wie Gipfelkreuze beispielsweise, am Ende eines Weges. Bei aller Bescheidenheit ihrer Gestaltung sind sie dennoch so angebracht, dass sie von den Passanten gesehen werden können und sollen – sie sind also keine privaten, sondern öffentliche Male. Diese lokale Beschaffenheit kennzeichnet gleichzeitig ein weiteres allgemeines Merkmal: Flurdenkmale sind Wegmale. Durch die Wege sind alle miteinander verbunden und werden vom Wanderer der Reihe nach passiert. So werden sie auch zu Zäsuren individueller Fortbewegung. Die Flurdenkmale einer Gemeinde sind miteinander verwoben, gleich einem bedeutungstragenden Netz, welches als Ganzes die Gemeinde aus einem bestimmten Blickwinkel heraus beschreibt.
Wie oben gesagt, steht dieser Öffentlichkeit oft ein äußerst individuelles oder privates Motiv der Errichtung gegenüber, dessen Gründe und Motive vielfältig sein können. Häufig äußern sich darin signifikante Ereignisse im Lebenslauf der Errichter. Darüber hinaus entspringt dieses private Handeln immer auch einer kollektiven Konvention, einer bestimmten regionalen, oft auch religiösen Tradition – es ist erlernt und sozialisiert. Außer dem ursprünglichen Motiv liegt meist auch die aktuelle Pflege und der Erhalt der einzelnen Denkmale in privater Hand – ohne die Betreuung Einzelner würden sie allmählich verschwinden.
In den letzten Jahrzehnten sind verschiedene regionalkulturelle und touristische Interessen dazu gekommen. Flurdenkmale erhöhen gleichsam den Wert von Wanderwegen, sie bereichern Tourismusprospekte und Reiseführer, heben den „kulturellen Wert“ einer Gemeinde, eignen sich für Themenwege und so genannte „volkskulturelle“ Veranstaltungen der Identifikation und Repräsentation.
Dieser Spannungsbogen zwischen öffentlicher Rezeption und Privatheit bildet ein essenzielles Charakteristikum der Flurdenkmale.
Ein beliebter, viel frequentierter Bad Reichenhaller Wanderweg führt auf den Dötzenkopf, einen kleinen Vorgipfel des Predigtstuhls im Lattengebirge. Gerade weil er in recht kurzer Zeit zu erklimmen ist – die Gipfelhöhe beträgt 990 Meter –, ist er ein häufig gewähltes Ziel. Von Reichenhaller Seite her ist er in ungefähr 1 ½ bis 2 Stunden zu erreichen. Der bewaldete Teil wird bis auf etwa einen Kilometer vor dem Gipfel, wo die Wegverhältnisse etwas alpiner sind, vom „Reichenhaller Kurverein“ instand gehalten, von dem auch die Beschilderung stammt.
Dieser Weg verbindet wie ein roter Faden vier verschiedene Flurdenkmale vom Ausgangspunkt, dem Festplatz Bad Reichenhalls, bis hinauf zum Gipfel.
Zwei davon liegen besonders exponiert. Das so genannte Bildstöckl, eigentlich eine Kapelle, ist schon von weitem, von Reichenhall aus, zu sehen. Der Mischwald, der den Fuß des Gebirgszugs umgibt, weist auf 700 Metern ü. NN eine gerodete Lücke auf, aus der die Kapelle herausragt. Schon beim Hinaufblicken ist zu erahnen, dass den Spaziergänger von dort eine weite Aussicht über Reichenhall und die Umgebung erwartet.
In Luftlinie ungefähr 1 ½ Kilometer links – das heißt, östlich von ihr – ragt ein kleiner Gipfel empor: der Dötzenkopf. Auf ihm ist – ebenfalls weithin – das Gipfelkreuz zu erkennen. Er ist der Reichenhall am nächsten gelegene Vorgipfel des Lattengebirges und somit als Wanderziel von der Stadt aus besonders geeignet. Auf dem Weg liegen außerdem ein Wegkreuz (ursprünglich zwei, siehe unten, und ein Marterl. Die „Flurdenkmale auf dem Weg zum Dötzenkopf“ sind als Grundlage für eine allgemeine Betrachtung sehr gut geeignet, denn hier finden sich die häufigsten Typen: Kapelle, Gipfelkreuz, Wegkreuz und Marterl.
Wie sich zeigen wird, tauchen bei der Beschreibung dieser Kleindenkmale immer wieder für Reichenhall typische Identifikatoren auf: Zwiesel und Hochstaufen, der Fliegerangriff 1945 und nicht zuletzt das Salz. Die Flurdenkmale stehen insofern auch ganz konkret für die Geschichte der Stadt, deren Leitmotive sich in ihnen widerspiegeln.
Beim Reichenhaller Festplatz beginnt der Anstieg, 500 Meter unterhalb des Gipfels des Dötzenkopfes. Bis 1997 stand hier ein über drei Meter hohes, mit einer kunstvoll gefassten Christusfigur versehenes Kastenkreuz. Es gehört streng genommen nicht mehr zu den Kleindenkmalen „auf dem Weg zum Dötzenkopf“, dennoch ist seine Geschichte gerade durch seine „Verpflanzung“ interessant und repräsentiert eine Variante zeitgenössischer Rezeption der Kleindenkmale. 1928 wurde es an seinem ersten Platz errichtet, wo es mehrere Restaurierungen erfuhr, bis es schließlich 1997 abmontiert und am Saalachufer an der Luitpoldbrücke wieder errichtet wurde. Dort steht es sicherer vor Diebstahl und wird häufiger frequentiert. Für den Erhalt dieses Flurdenkmals sind nun die Behörden der Stadt verantwortlich, in deren Besitz es sich mittlerweile befindet. Dem Kreuz kommt durch die städtische Beachtung und Verantwortung ein besonderer Stellenwert zu, den, wie im Folgenden zu sehen ist, bei weitem nicht alle Flur- und Kleindenkmale beanspruchen können.
Der schmale Fußweg verläuft vom Reichenhaller Festplatz aus zunächst quer zum bewaldeten Abhang und steigt dabei stetig leicht an, bis er nach einigen hundert Metern plötzlich in engen Kehren steil hinaufführt. Das erste Flurdenkmal – ein so genanntes Marterl – ist in einer dieser Wegkehren an einer Fichte angebracht, so dass der Blick der Passanten, egal ob von oben oder von unten kommend, unmittelbar darauf fällt.
Paul und Richilde Werner, die regional bedeutsame Bücher herausgegeben haben, nennen in „Vom Marterl bis zum Gipfelkreuz“ zwei wesentliche Merkmale, die den Begriff des Marterls definieren: Ein Unglückstod (eine „Marter“, ein „Martyrium“) ist stets Motiv für das Anbringen eines Marterls, für das eine Gedenktafel direkt an der Unglücksstelle aufgestellt wird.
„Der schicksalhafte Ort des Marterls ist nicht nur Topographie des Todes, er erhält durch den Volksglauben als Ort des Gebetes auch eine spirituelle Weihe.“[1250]
Aller Wahrscheinlichkeit nach waren die Gründe für die Errichtung von Marterln, so Werner, „seit jeher religiöser Natur.“[1251] Wahrscheinlich lösten sie im 16. Jahrhundert in katholischen Gegenden das Sühnekreuz ab.
Hans Schnetzer unterscheidet Marterln rigide von den Flurkreuzen, Votivtafeln und Bildstöcken. Für Schnetzer stellen Marterln die Weiterentwicklung der Steinkreuze dar, die sowohl eine Erinnerung an einen Verunglückten oder Ermordeten darstellen als auch an sich schon (katholisches) „Seelgerät“ für den Toten sind, da sie vom Vorbeigehenden ein Gebet für den Verstorbenen fordern, das ihn aus dem Fegefeuer erlösen soll. Ihre Verbreitung erstreckt sich über den Alpenraum.[1252] Ihren Höhepunkt erlebten sie im 18. Jahrhundert. Wichtige Literatur zum Thema Marterl verfassten unter anderem auch Anton Dörrer und Josef Dünninger.[1253]
Das Marterl auf dem Weg zum Dötzenkopf ist jüngerer Natur: Es betrifft den Tod eines Jungen im Jahre 1945. Es besteht aus insgesamt vier Teilen: der Gedenktafel, einem Kranz aus Kunststoffblumen und Zweigen, einem kleinen Jesuskreuz und einem metallenen Kerzenschreinchen, in dem sich ein rotes Grablicht befindet. Diese Zusammenstellung verschiedener Details ist nicht ungewöhnlich, denn seit jeher haben die Marterln zu keiner „eigenen Gesamtgestaltung gefunden [...].“[1254]
Die Inschrift auf der Tafel lautet: „Zum Andenken an unseren lieben Sohn Adolf Wimmer, welcher am 25. April 1945 beim Fliegerangriff hier an dieser Stelle im Alter von 13 ½ Jahren sein junges Leben lassen musste. Herr gib ihm die ewige Ruh.“ Am 25. April 1945 kamen bei einem Fliegerangriff der Alliierten über zweihundert Menschen in Bad Reichenhall ums Leben.[1255]
Adolf Wimmer war zum Zeitpunkt des Unglücks in Begleitung eines Schulkameraden.[1256] Der zum Zeitpunkt des Interviews 71-jährige Freund erzählt, dass die beiden nach der ersten Angriffswelle am Morgen in den Wald hinauf in Richtung „Stadtkanzel“ liefen – aus purer Abenteuerlust, um nach Bombensplittern zu suchen. Von der Stadtkanzel aus beobachteten sie am späten Vormittag, wie sich zwischen den Gipfeln von Zwiesel und Hochstaufen wieder Flugzeuge der Stadt näherten. Zunächst erfassten sie den Ernst der Situation nicht. Die zweite und vernichtendere Angriffswelle hatte begonnen. Der Abwurf zerstörte weite Teile Reichenhalls, bis sich ein Flieger dem Fuß des Predigtstuhls näherte, wo sich die zwei Jungen befanden. Sie versuchten sich in einem Graben nahe der Stadtkanzel zu schützen – umsonst, ein von einer Bombe weggesprengter Stein traf den 13-Jährigen am Kopf und tötete ihn. Der Zeitzeuge erinnert sich, wie er aufstand und sich wunderte, dass sein Freund regungslos liegen blieb, bis er die Wunde am Kopf bemerkte. Von unten herauf kamen weitere Menschen hinzu, die schließlich den Leichnam aufnahmen und herunter trugen. Es war kein Zufall, dass sich das Unglück ausgerechnet an dieser Stelle ereignete, denn für die Jugendlichen war dieser Teil des Waldes ein vertrautes Revier. Ein anderer Zeitzeuge, ebenfalls bekannt unter dem Namen Adolf Wimmer, erzählte, dass er sich nur kurz nach seinen Freunden auf den Weg gemacht hatte. Er hatte zuvor noch eine Axt aus dem Elternhaus geholt, weil er dachte, es sei Brennholz von zersplitterten Bäumen aus dem ersten Angriff im Wald zu finden.
Am unteren Rand der Holztafel steht klein geschrieben: „Erneuert von seinen Schulkameraden 1972. Renoviert 1977.“ Die Inschrift wurde zum Schutz mit einer Plexiglasscheibe und einem Dach versehen. Leider konnte keine Fotografie der Originaltafel gefunden werden, Erneuerung und Renovierung machen aber deutlich, dass das Marterl noch immer gepflegt und betreut wird. Über den Wert als geschichtliche Quelle hinaus bildet es heute für die unmittelbar Beteiligten einen Anlass, aktiv mit der Vergangenheit in Verbindung zu bleiben und sie so auch zu verarbeiten. Die Eltern des jungen Adolf Wimmer sind mittlerweile verstorben – es gibt also keine direkten Nachkommen mehr. Dennoch kümmern sich noch immer Menschen um das Gedenkmal, auch die Kerze wird von Zeit zu Zeit angezündet. Der Freund erzählt, dass alle fünf Jahre ein Klassentreffen stattfindet, bei dem die ehemaligen Schulkameraden zum Marterl wandern und gemeinsam ihres verstorbenen Freundes gedenken. Auch mit ihren Enkeln gehen sie von Zeit zu Zeit vorbei und nutzen es als Anlass, um an die Schrecken des Krieges zu erinnern.
Der Tod eines Jugendlichen, fast eines Kindes, ist besonders einschneidend und eindringlich – das Marterl verkörpert dies nach wie vor, gerade durch den einmaligen Umstand, dass es ein einzelnes herausragendes, besonders trauriges Schicksal an einem expliziten Ort nachvollzieht. Dass dieser Ort zudem außerhalb der Stadt liegt, in der Natur, wo das Opfer seiner jugendlichen Abenteuerlust nachging, unterstreicht die Tragik des Geschehenen noch deutlicher.
Außer diesem Marterl existiert in Bad Reichenhall ein zweites Mal an öffentlicher Stelle – im Hof der alten Saline –, das den Tod eines Menschen beim Fliegerangriff betrifft. Ein Drittes ist bekannt, das an den ehemaligen Besitzer des Hauses Kammerbotenstraße 7 erinnert und dort im Hausflur angebracht ist – es liegt also im privaten, nicht öffentlichen Raum.
Der über den reinen Referenzbezug – hier das Unglück auf der Stadtkanzel als Motiv für die Errichtung – hinaus verweisende symbolische Gehalt eines Marterls wird klar, wenn der Text der Tafel eingehender betrachtet wird. Das Marterl auf der Stadtkanzel ist nicht direkt an der Stelle des Unglücks angebracht, wie der Text auf der Tafel vermuten lässt. Der Vorfall ereignete sich vielmehr nahe der Stadtkanzel, ungefähr 150 Meter weiter oben am Weg. Wahrscheinlich wurde es in der Wegkehre errichtet, weil es dort von Passanten leichter bemerkt werden kann. Die Aussage „an dieser Stelle“ ist also nicht wortwörtlich zu sehen. Wichtiger bei der Wahl der Stelle war, dass das Zeichen gut wahrgenommen werden kann. Ähnlich verhält es sich mit dem einleitenden Satzteil „zum Andenken an unseren lieben Sohn [...]“. Die Schulfreunde, die die Tafel 1972 erneuerten, hielten sich (vermutlich) an die Originaltafel und folgten der ursprünglichen Formulierung. Für die Rezeption spielt dies keine Rolle – im Gegenteil, gerade durch das leichte Abrücken von der Wirklichkeit, durch das Kreieren von Authentizität, ist das Denkmal emotional lesbar und erhält eine, über die historische Begebenheit hinausgehende symbolische Bedeutung: Es ist somit geschichtliches, gesellschaftlich-religiöses und persönliches Symbol.
Der Weg passiert die Stadtkanzel – einem bis vor kurzem überdachten Aussichtspunkt –, bei der ein Wegzeiger auf einen Kapellenbildstock verweist. Die Kapelle, die im Volksmund einfach „das Bildstöckl“ genannt wird, befindet sich einen Kilometer vom Marterl entfernt. Sie liegt knapp über 200 Meter abseits des Weges zum Dötzenkopf auf einer gerodeten Stelle im Wald. Unterhalb der Kapelle stehen Bänke, die es Besuchern ermöglichen, den Ausblick über Bad Reichenhall und die Südseite der gegenüberliegenden Berge zu genießen.
„Der als Kapellenbildstock auf rechteckigem Grundriss errichtete Mauerbau weist ein weit vorgezogenes, an der vorderen Giebelseite abgewalmtes [Anm.: Halb- oder Krüppelwalm] Kupferdach auf, über dem sich ein kleines Glockentürmchen mit schlichtem Kreuz erhebt. [...] Der Vorbau, von vier Rundhölzern getragen, ist an drei Seiten bis auf die halbe Höhe mit Schindeln verkleidet. Die Altarnische ist mit einem Schmiedeeisengitter verschlossen.“[1257] Das Bildstöckl besitzt weitgehend die architektonischen Merkmale einer Kapelle, wie sie Paul und Richilde Werner beschreiben: das seit jüngerer Zeit übliche Blechdach sowie die Trennung in Altar- und Betraum und der Glockenturm sind typische Kennzeichen.[1258]
Die Geschichte der Kapelle ist sehr bewegt.[1259] An ihrer Stelle stand früher ein Bildstock, nach dem sie später benannt wurde. Der Grund für ihre Errichtung kann leider nicht mehr nachvollzogen werden, nur dass schon 1878 erste Pläne dafür bestanden. Nach einigen behördlichen Verzögerungen dauerte es schließlich mit dem Bau bis zum Jahr 1910. Im „Reichenhaller Tagblatt“ heißt es: „Neben der Kapelle ist auf alten Bildern ein etwa 2,50 Meter großes Kreuz mit Dach zu sehen.“[1260] Dieses Kreuz wurde nach dem Zweiten Weltkrieg aus Angst vor Diebstahl demontiert und die Christusfigur in das Nebengebäude der St. Zeno Kirche in Bad Reichenhall geschafft, wo sie sich noch heute befindet. Möglicherweise ist die Christusfigur dieses neuen Kreuzes mit dem des alten Bildstocks identisch, wie der Vergleich der Abbildungen vermuten lässt. Unten, am Fuß des ehemaligen Kreuzes, ist im Fels eine eingemeißelte Fläche zu erkennen, auf der noch heute das Jahr der Errichtung der Kapelle erkennbar ist. Kurz nach Fertigstellung des Baus wurde die Kapelle am 10. Juli 1910 durch Kaplan Helmuth von St. Nikolaus in Anwesenheit von 200 Personen geweiht.[1261]
Die Kapelle war als Aussichtsattraktion für die Stadt zu Beginn sehr bedeutsam, wie eine Postkarte aus dem Jahr 1913 zeigt. Diese, eine Fotomontage, wurde so montiert, dass im Hintergrund die schneebedeckten Gipfel von Hohenstaufen und Zwiesel genau hinter der „Vorzeigeansicht“ der Kapelle liegen. Die Aussicht im Hintergrund ist diejenige, die aus der Kapelle heraus zu sehen ist, so dass zwei unterschiedliche Perspektiven – Ausblick über Reichenhall mit Bergen und die Kapelle als über die Stadt erhabener Bau – zu einer Perspektive vereint ein prädestiniertes Ausflugsziel überhöhen. Auch heute noch ist die Bildstöcklkapelle ein viel frequentiertes Ziel – sowohl für die Reichenhaller Spaziergänger als auch für die Kurgäste der Stadt, obwohl sie längst nicht mehr als Postkartenmotiv dient.
1921 erhielt sie Gesellschaft einer Alm, im Volksmund „Goaßalm“ genannt. Hier wurden, auf Vorschlag des Ziegenzuchtvereins, Ziegen zur Produktion von Milch für die Molkenkuranstalten gehalten.[1262] Später war die Alm bewirtschaftet, wodurch die Besucherzahl der benachbarten Kapelle noch stieg. Aus Konkurrenz zum 1955 errichteten Stadtberglift und dessen Bergstation wurden die Besucherzahlen allerdings immer geringer, so dass die Stadt sich 1964 entschied, die Goaßalm abzureißen.
Trotz vieler Helfer, die sich um den Erhalt der Kapelle kümmerten, war sie nach dem Zweiten Weltkrieg in desolatem Zustand. Sie wurde deshalb im Jahr 1949 vom Grundeigentümer der Stadt Bad Reichenhall dem Gebirgstrachten-Erhaltungs-Verein „Alt-Reichenhall“ übereignet, der sie von Grund auf renovierte und seither für die Instandhaltung verantwortlich ist. Noch heute ist der Verein stolz auf seine Kapelle – es ist der einzige Trachtenverein in der Gegend, der ein solches Bauwerk besitzt. Wie groß ihre identifikatorische Bedeutung für den Verein ist, zeigen die Trachtenfeste, bei denen die „Alt-Reichenhaller“ an den Umzügen mit einem eigens dafür gebauten Modell der Kapelle, installiert auf einem Pferdewagen, teilnehmen. Dieses Modell wird am Museumseingang in der alten Saline aufbewahrt.
Seither erfuhr die Kapelle einige architektonische Änderungen, die den Charakter des Baus aber nicht wesentlich beeinflussten. Beispielsweise wurde das Dach mit Kupfer gedeckt oder das Geländer des Vorraums wurde geschlossen und mit Schindeln versehen.
Neu ist allerdings die Ausstattung des Altarraumes mit Gedenktafeln – zunächst eine für die Gefallenen im Zweiten Weltkrieg und eine zweite für die zivilen verstorbenen Vereinsmitglieder seit 1922, dem Gründungsjahr des Vereins. Später kamen zwei weitere Tafeln hinzu und in jüngerer Zeit zusätzliche aufklappbare Tafeln an der linken Seitenwand. Einmal im Jahr demontiert der Kapellenwart die aktuelle Tafel und bringt sie in die Stadt, um die jüngst Verstorbenen eintragen zu lassen.
Seit der Übereignung feiert der Verein jedes Jahr im Juni eine Gedenkmesse für die im Laufe des Jahres verstorbenen Vereinsmitglieder, die ein Geistlicher der St. Nikolaus Gemeinde in Reichenhall hält. Zu diesen jährlichen Feiern sind auch die Nachbar- und Patenvereine eingeladen. Eine Musikkapelle verleiht der Messe den gewünschten traditionellen Rahmen.
Die Vereinsmitglieder schmücken die Kapelle am Tag und am Morgen vor dem Anlass. Der Kranz an der Frontseite wird neu geflochten und bleibt jeweils bis zum nächsten Jahr als Symbol des Gedenkens erhalten. Am Tag der Messe selbst entfernen die Vereinsmitglieder das Gitter vor dem Altarraum, stellen Blumen auf und entzünden die Kerzen.
Weil die Messe in den 1990er-Jahren zweimal hintereinander wegen Regens ausfallen musste, beschloss der Verein, eine zusätzliche Maiandacht einzuführen. So soll verhindert werden, dass die Tradition der Vereinstreffen bei der Kapelle untergeht.
Die Bildstöcklkapelle wird zu diesen beiden Veranstaltungen regelrecht belebt. Der rege Besuch sowie Messe und Andacht tragen dazu bei, das Schmücken des Gebäudes selbst, die Kerzen, die im Alltag wegen der Brandgefahr nicht angezündet werden dürfen, brennen nun, das Gitter, das schon seit jeher den Altarraum vor Dieben schützt, wird entfernt, und der welkende Kranz wird erneuert. Ist die Kapelle also das Jahr über eine ruhige Anlaufstelle für Ausflügler und Besucher, so ist sie jetzt umgeben von Leben. Die Teilnehmerzahl ist dabei oft so groß, dass die Menschen bis in den umliegenden Wald versammelt sind, wie ein regelmäßiger Besucher der Messe berichtet. Für den Erhalt der Bildstöcklkapelle sind diese jährlichen Rituale essenziell.
Für die Bildstöcklkapelle lassen sich, wie gezeigt, verschiedene Rezeptionsebenen feststellen, die miteinander verknüpft sind. Im Mittelpunkt der jüngeren Geschichte steht der Trachtenverein „Alt-Reichenhall“, für den sie ein wesentliches identitätsstiftendes Merkmal ist – einerseits als Raum für Aktivitäten, andererseits als Symbol, das den Verein repräsentiert. Als religiöses Zeichen ist sie gleichzeitig als eine Verbindung zwischen Landschaft, kirchlicher Institution und Volksglauben zu sehen. Die Gedenkmessen des Vereins tragen durch das Hinausschreiten des Pfarrers hin zur Kapelle und in die Natur über den rein christlich-symbolischen, eigentlichen Charakter des Gebäudes hinaus dazu bei. Außerdem ist sie noch immer ein Wahrzeichen der Stadt, wenngleich nicht mehr im selben Ausmaß wie in den Jahren ihrer Errichtung beziehungsweise zwischen den Weltkriegen. Die Stadt trägt keine Verantwortung mehr für den Erhalt, als Werbeträger ist die Kapelle heute nicht mehr bedeutsam. Dennoch wird der Weg vom Kurverein gepflegt und die Beschilderung ist sehr genau, so dass das „Bildstöckl“ nach wie vor Wanderern zugänglich gemacht wird. Tatsächlich machen – rein zahlenmäßig – den Großteil der Besucher übers Jahr sicher die einheimischen Wanderer und die touristischen Gäste Reichenhalls aus, die die Bildstöcklkapelle als nahen Anlaufpunkt mit Aussicht über Reichenhall für sich in Anspruch nehmen.
Über zwei Kilometer weiter, kurz vor dem Flotterbach, wo das Gelände alpin wird, befand sich bis vor einigen Jahren die Skiabfahrt hinab nach Reichenhall. Heute ist die ehemalige Schneise wieder baumbewachsen. An dieser Stelle zweigt der Weg ab – ein schmaler steiler Pfad führt hinauf zu den Spechtenköpfen. Genau bei der Wegkreuzung, linker Hand, talwärts gelegen, hängt an einer Fichte ein Kastenkreuz.
Unter den Flurdenkmalen sind Wegkreuze sicher die am meisten verbreiteten. Sie stehen in ihrer Bedeutung für zweierlei: „Zum einen erinnerten sie an das Leiden und den Kreuzestod Christi und damit indirekt auch daran, daß jeder ‚sein eigenes Kreuz zu tragen‘ hat, zum andern standen solche Holzkreuze vornehmlich an Wegkreuzungen“[1263] und waren damit Wegmarken in der Landschaft. Schon in vorchristlicher Zeit standen Zeichen an den Kreuzungen, von denen man glaubte, dass sie besonders unter dem schlechten Einfluss von Dämonen und Geistern stünden. Sie wurden unter päpstlicher Anweisung nach und nach durch christliche Symbole ersetzt. Wegkreuze im Ort stehen oft mit dem Tod in direkter Verbindung, da sie beim Transport eines Verstorbenen zum Friedhof zur Rast und zum Gebet dienten. Ein verbreiteter Brauch war es außerdem, „die Totenbahre dreimal zu heben und zu senken oder die Pferde dreimal anziehen zu lassen, um den Geist des Toten zu verwirren und an der Rückkehr ins Heimathaus zu hindern“[1264] – eine Ansicht, die heute als Produkt des 19. Jahrhunderts angesehen wird.
Das Kastenkreuz an der Wegkreuzung zu den Spechtenköpfen ist ungefähr 80 bis 90 Zentimeter hoch und 50 Zentimeter breit. Die Christusfigur ist aus gegossenem Metall und silberfarben lackiert. Unter dem Kreuz, hinter einem filigran gearbeiteten Zäunchen, liegen Kunststoffblumen – Rosen, Enzian und Edelweiß – und künstliche Latschenzweige. Ein weiteres Detail ist ein mit einer Reißzwecke befestigtes Bändchen in bayerischem Dekor mit den blau-weißen Rauten.
Der Erbauer,[1265] ein Reichenhaller Schreiner, erinnert sich: „Vorher hing an derselben Stelle ein einfaches, grün lackiertes Holzkreuz“ mit der metallenen Christusfigur. Das Motiv für die Errichtung dieses ursprünglichen Kreuzes lag wahrscheinlich in der Skiabfahrt, vielleicht hat es der ehemalige Hüttenwirt der Bergstation angebracht. Der zum Zeitpunkt des Interviews 72-jährige Schreiner baute das neue Kreuz innerhalb einer Woche im September 1993 und verwendete den Christuskorpus weiter. Er hatte sich zuvor mit einem Reichenhaller Pfarrer abgesprochen, ob es rechtens sei, in eigener Initiative das verrottende Wegkreuz zu erneuern – der Pfarrer hatte keine Bedenken. Dabei nennt der Schreiner als erstes Motiv für seine Handlung nicht die Religiosität (die er sicher auch vertritt), vielmehr war ihm die Leidenschaft zum traditionellen Handwerk wichtig. Diese findet sich in Details, besonders in der Form des Kastens: Die Bögen der Seitenwände sind im „Berchtesgadener Hund“ gehalten – einer, traditionellen Stilvariante der Region.
Das Herzstück und eigentliche, zentral bedeutungstragende Element, die Christusfigur, wurde nicht ausgetauscht, nur der Kasten wurde ersetzt. Insofern bezieht sich die Geschichte des Vergehens und der Neuentstehung des Kreuzes nur auf den Schutzraum, der den Inhalt umgibt. Dieser wurde erneuert, um den Inhalt weiterhin präsentieren zu können. Beim Vergleich dieser zwei, ganz unterschiedlich ausgeführten Kreuze wird deutlich, dass der Schreiner zwar individuell handelte, aber in einer populär tradierten ästhetischen Tradition steht, die ihn auch in den 1990er-Jahren jene historisierende Form wählen ließ, die dem örtlichen Bewusstsein von handwerklicher Tradition entspricht. Zudem ist das Kreuz ein Beispiel für das Weiterbestehen des Zeichens im aktuellen gesellschaftlichen Kontext. Flurdenkmäler werden nicht nur als Kulturgüter restauriert und erhalten, sondern es werden auch neue gebaut.
So will auch dieser Schreiner hinter das Kreuz zurücktreten, nicht seine Person soll bedeutend sein, sondern einzig die Tatsache, dass das Wegkreuz da ist. Man kommt in der Entstehungsgeschichte des Kleindenkmals aber nicht umhin, die Eigeninitiative des Errichters zu bemerken und die individuelle Aktivität selbst in die Bedeutung des Zeichens mit einzubeziehen. Das einzelne, handgefertigte Kastenkreuz, das weitab im Wald aufgehängt wurde, steht sicher für eine nebensächliche Entwicklung innerhalb der postmodernen, von Massenkommunikation geprägten Gesellschaft. Gerade dieses Kreuz zeigt aber auch die Wahlmöglichkeit des Einzelnen auf, der seinen persönlichen Freiraum wählt und diesen durch die Öffentlich-Machung jedem Menschen, der das Kreuz passiert, zur Verfügung stellt. Nur dadurch wird der Erhalt einer Tradition in stets neuer Rezeption, mit immer wieder neuer Symbolsetzung, ermöglicht.
Nach dem Wegkreuz wird das Gelände alpiner. Der Weg passiert den Flotterbach – einen gerölligen Einschnitt, der gleichzeitig die Gemarkungsgrenze zu Bayerisch Gmain darstellt. Nach einer Stahlbrücke geht es weiter über eine steile Holztreppe bis zu einem bewaldeten Abhang, der sich oberhalb des Dötzenkopfes befindet. Nun schlängelt sich der Pfad hinunter bis zum eigentlichen Gipfel, wo das Gipfelkreuz exponiert auf 990 Metern ü. NN liegt. Insgesamt beträgt die Strecke vom Wegkreuz bis zum Dötzenkopf etwa zwei Kilometer.
Das Kreuz ist ungefähr vier Meter hoch. An der Vorderseite – zum Tal hin – sind ein Behälter für das Gipfelbuch, eine Gedenktafel und ein kleines Behältnis für Blumenschmuck angebracht. Darüber hängt eine Christusfigur – von ungefähr einem Meter Höhe, oben am Kreuz schließlich eine I.N.R.I.-Tafel.
Das jetzige Gipfelkreuz wurde 1949 errichtet. Vom alten Kreuz ist wenig bekannt, nur dass es ein nach dem Zweiten Weltkrieg ramponiertes Holzkreuz war. Die Facharbeiter der Saline errichteten dann „auf dem Dötzenkopf ein Kreuz zum Gedenken der in den beiden Kriegen Gefallenen sowie der beim Bombenangriff auf Reichenhall ums Leben gekommenen Angehörigen der Saline.“[1266] Die Saline entschied sich für den Dötzenkopf, weil er, obwohl auf Bayerisch Gmainer Gemarkung, von Bad Reichenhall aus sehr gut sichtbar liegt.
Das „Gipfelkreuz wurde zum alpinen Kriegerdenkmal schlechthin und zum Mahnmal wider den Wahnsinn des Krieges“[1267], so schreiben Paul und Richilde Werner. Für die Arbeiter der Saline, der größte Arbeitgeber Reichenhalls und als Salzproduzent gleichzeitig das historische Symbol für die Stadt, ist beziehungsweise war es somit selbstverständlich, ein Kreuz für ihre Gefallenen zu errichten.
Das Kreuz ist heute Eigentum der Salzbruderschaft der Reichenhaller Saline. Im Jahr 1956 wurde von der Werksleitung eine neue Christusfigur gestiftet, die seither einmal zur Restaurierung abmontiert worden ist.[1268]
Noch heute findet jedes Jahr in der Zeit um Pfingsten und Christi Himmelfahrt eine „traditionelle Bergmesse zum Gedenken der Gefallenen und Verstorbenen der Saline“[1269] statt, die der Salinenpfarrer hält. Einschränkend muss aber gesagt werden, dass sich die Predigten thematisch meist weniger mit den Kriegsopfern befassen als mit der Jahreszeit und den festlichen Anlässen. Die Salzbruderschaft lädt ihre Mitglieder schriftlich dazu ein und, wie bei einer Bergmesse üblich, kommen regelmäßig viele Besucher aus der Gegend. Das Gedenken beim Gipfelkreuz geriet im Laufe der Zeit mehr in den Hintergrund als jenes bei der Bildstöcklkapelle oder dem Marterl. Dies liegt sicher daran, dass das Marterl einen hohen emotionalen Wert besitzt und die Kapelle – mit ihren Messen und Gedenktafeln – ein essenzielles Identifikationsobjekt des Vereins der „Alt-Reichenhaller“ ist.
Das Gipfelkreuz dagegen wird über das ursprüngliche Motiv hinaus in der aktuellen Rezeption ganz anders wahrgenommen.
Eine Belebung findet – ähnlich wie bei der Kapelle – auch hier statt. Jährlich versammeln sich Menschen, das Kreuz wird geschmückt und von der Salzbruderschaft instand gehalten. Ebenso findet sich über das Jahr hinweg immer wieder ein Passant, der Latschenzweigchen in das vorgesehene Kästchen stellt. Die Motivation dafür ist aber eine andere: Sie ist offener, allgemein gültiger. Das Kreuz ist somit christliches Symbol und Fixpunkt für die jährliche Messe, darüber hinaus ist die Rezeption konzentriert auf die Wahrnehmung als Ziel einer Gipfelbesteigung.
Dies gilt sicher für Gipfelkreuze allgemein, denn „die Idee des Gipfelkreuzes [ist] auf anderem geistigem Hintergrund entstanden [...], als alle anderen Flurdenkmale, welche ebenfalls die Form des Kreuzes haben.“[1270] Sie sind in ihrer Entstehungsgeschichte keine Zeichen der Volksfrömmigkeit, sondern monumentale Male der Eroberung einer reisenden Oberschicht seit Ende des 18. und Anfang des 19. Jahrhunderts und erinnern damit an Landnahmen früher Zeiten. Mit der Zunahme des Tourismus im späten 19., vor allem aber in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wurden der Besuch der Alpen und damit das Bergsteigen zu einer von der breiten Masse ausgeübten Tätigkeit.
Die Gipfelbücher des Dötzenkopfkreuzes werden von der Salzbruderschaft gesammelt. Es sind insgesamt 28 Stück vorhanden, leider sind einige – wohl auch durch Diebstahl – abhanden gekommen.[1271] Die Beliebtheit als Ausflugsberg lässt sich anhand dieser Bücher nachvollziehen. Allein das vom 29. Mai 2003 – dem Tag der Bergmesse – bis in den Dezember gültige Gipfelbuch umfasst weit mehr als 150 Seiten. Der Kriegsopfer wird hier, ebenso wie in allen anderen, nicht gedacht. Auch im ersten Buch – von 1949 – findet das Thema seitens der Besucher keine Erwähnung. Dagegen ist, wie bei allen Gipfelbüchern, die Entwicklung zum Tourismus schon in der direkten Nachkriegszeit abzulesen. So finden sich schon in den Jahren 1949/50 Einträge von Wanderern aus ganz Deutschland neben denen von Bayerisch Gmain und Bad Reichenhall. Heute zeigen sie, in den Erwähnungen Rekordbesteigungen, eine Konkurrenz unter den sportlich ambitionierten Berggehern und Berggeherinnen. Christliche Äußerungen sind beinahe keine zu finden, wenngleich in den 1950er-Jahren einige wenige mehr vorkommen. In jüngerer Zeit werden sie oft kommentiert, wie im Falle des Eintrags: „Es ist herrlich hier oben. Die Berge und die Täler verkünden die Herrlichkeit des Herrn.“ Er ist umrahmt von den Äußerungen: „Und was ist mit seiner Frau?“ und „Laß die Kirche im Dorf.“, der unbeabsichtigt wie auch ironisch die oben geführte Diskussion über die Verlegung kirchlicher Aktivitäten in die Natur weiterführt, obwohl er wohl insgesamt als areligiöse Äußerung gemeint war. Sicher handelt es sich um eine nicht bewusst wörtlich gemeinte Redewendung, die dennoch durch ihre Verwendung belegt, dass das Thema Religiosität im Raum der Natur aktuell ist; inwieweit darin Relikte des in der NS-Zeit „Gottglauben“ genannten und vielfach naturmythologisch gebundenen Atheismus zu finden sind, ist nicht nachweisbar.
Auf dem Weg von Bad Reichenhall zum Dötzenkopf befinden sich vier Flurdenkmale: ein Marterl, die Bildstöcklkapelle, ein Wegkreuz und das Gipfelkreuz. Es handelt sich hierbei um vier sehr verschiedene Kategorien von Kleindenkmalen, die dennoch gemeinsame Merkmale aufweisen. Neben dem Kreuz, das sich bei allen Denkmalen – sei es als formgebendes Element oder als Detail – findet, wiederholen sich verschiedene christliche Symbole. Beispielsweise taucht oft die Kerze als ewiges Licht auf, die aus pragmatischen Gründen zwar meist nur zu bestimmten Anlässen entzündet wird, aber dennoch fester Bestandteil ist. Alle beschriebenen Flurdenkmale sind darüber hinaus mit Blumen- und Zweigschmuck versehen. Dieser ist teilweise aus Kunststoff, wie zum Beispiel beim Wegkreuz, das der Erbauer nicht mehr oft genug besuchen kann, um immer frische Zweige zu bringen. Außerdem sind alle Kleindenkmale, die einen konkreten Anlass referieren, mit Texten, hier stets Gedenktafeln, bestückt. Diese Tafeln sind Erinnerungsstücke, die auf geschichtliche Geschehnisse aufmerksam machen; bei den besprochenen Zeichen ist dies der Zweite Weltkrieg und der Fliegerangriff von 1945.
Über die Gemeinsamkeiten hinaus unterscheiden sich die vier Kleindenkmale allerdings in wesentlichen Punkten.
Das Marterl ist, wie es der Tod eines einzelnen Menschen bedingt, inhaltlich und der Form nach äußerst individuell. Die Wahrnehmung ist sehr persönlich, fast intim. Sie ruft von allen Denkmalen das größte Maß an Emotionalität und Betroffenheit hervor. Die Kapelle dagegen ist seit 1949 identitätsstiftendes Element einer Gruppe – des Trachtenvereins „Alt-Reichenhall“. Die Gestaltung obliegt dadurch nicht dem Einzelnen, sondern allen Teilen der Gruppe. Durch den Zeitpunkt der Übereignung von der Stadt Bad Reichenhall, 1949, stand auch hier das Gedenken der Kriegsopfer zunächst im Mittelpunkt, wurde aber dann durch Vereinsinteressen in den Hintergrund gedrängt.
Das Wegkreuz wiederum ist innerhalb des tradierten Rahmens ein sehr eigenständiges Produkt – es wurde nach den, allerdings sozialisierten und erlernten, persönlichen Vorlieben des Handwerkers geschaffen, seine Passion zum Holz war dabei maßgeblich. Auch die Erhaltung ist seine Aufgabe – zumindest so lange, bis sich ein neuer Betreuer findet. Das gilt nicht unbedingt für Wegkreuze schlechthin, wie am Beispiel des ehemals beim Festplatz errichteten Kastenkreuzes gezeigt werden konnte. Bei diesem übernahm die Stadt die „Patenschaft“, ließ es restaurieren und ist seither für die Erhaltung verantwortlich. Es errang dadurch einen Vorzeigestatus als Denkmal.
Das Kreuz auf dem Dötzenkopf schließlich besitzt einen eigenen Stellenwert unter den Flurdenkmalen. Allein die allgemeine Entstehungsgeschichte der Gipfelkreuze bedingt eine eigenständige Rezeption, die sich gänzlich von allen anderen religiösen Kleindenkmalen unterscheidet.
Genau wie beim Marterl und der Bildstöcklkapelle ist der Zweite Weltkrieg das eigentliche Motiv für die Errichtung des Gipfelkreuzes (auch der Erste Weltkrieg ist auf der Gedenktafel erwähnt, aufgestellt wurde es aber erst 1949!). Das Totengedenken findet dennoch in einer anderen Qualität statt. Es ist weniger persönlich, denn die Namen der Toten sind nicht vermerkt. Gedacht wird hier der verstorbenen Salinenarbeiter, also einer ganzen Gruppe. Der Erhalt ist freilich trotzdem eine Sache von Einzelnen, genau wie bei den anderen besprochenen Flurdenkmalen auch. Die Mitglieder der Salzbruderschaft kümmern sich um die Pflege von Kreuz und Christusfigur, sammeln die Gipfelbücher und besuchen ihr Gipfelkreuz. Außer seinem Status als Gedenkmal ist das Dötzenkopfkreuz ein Kennzeichen der Bergbesteigung, die jeder im Gipfelbuch festhalten kann.
Ganz anders verhält es sich bei der Bildstöcklkapelle. Das Entstehungsmotiv des Totengedenkens wurde durch die „Alt-Reichenhaller“ aktiv ins Jetzt transportiert: War sie zunächst zu einem Teil Gedenkkapelle für die Kriegsopfer, wurde gleichzeitig eine zweite Tafel installiert, die eine Tradition hervorbringen sollte: Alle Vereinsmitglieder wurden und werden namentlich verewigt. Diese regelmäßige Erneuerung evoziert den Erhalt des ursprünglichen Motivs.
Für das Marterl hingegen ist dieses ursprüngliche Motiv per definitionem gültig. Die Gedenktafel nennt den Namen des Verstorbenen, Datum, Anlass und Ort seines Unglücks. Eine Umdeutung war hier, bedingt durch das persönliche Moment, gar nicht möglich. Verglichen mit den anderen Kleindenkmalen gilt: Je persönlicher das Denotat des Zeichens, desto emotionaler wird es rezipiert. Darüber hinaus gewann es durch den zeitlichen Abstand zum Entstehungsanlass eine zweite Rezeptionsebene. Es wurde zur einzigartigen geschichtlichen Quelle. Seine Authentizität belebt den Rückblick auf Vergangenes in einer Weise, die so keine andere Quelle leisten kann.
Der Weg verbindet die Flurdenkmale. Er macht sie zu Stationen, gleich Punkten auf einem komplexen Netz. Jedes einzelne der Denkmale hat eine Bedeutung, erzählt eine Geschichte, alle haben einen bestimmten Sinn inne. Dieser Sinn begründet sich aus ihrem Ursprung und ihrer Wandlung heraus. Aber erst in ihrer Gesamtheit als Netzwerk liegt der übergeordnete Sinn, der die Geschichte in ihrem ganzen Facettenreichtum erfassen kann. Die hier beschriebenen vier Kleindenkmale sind nur ein Bruchteil all derer, die die Geschichte Reichenhalls illustrieren und aus sich heraus deutbar machen. Insgesamt wurden 64 gezählt und in der ganzen Region müssen es Hunderte oder Tausende sein, die alle durch ein Wegenetz miteinander verbunden sind und so die Geschichte des ganzen Landstrichs begleiten.
[1248] Im Januar 2005.
[1249] So der Arbeitstitel einer Studie von Bärbel Kerkhoff-Hader, Bamberg.
[1250] [Werner/Werner 1996], S. 86.
[1251] [Werner/Werner 1996], S. 81.
[1252] [Werner/Werner 1996], S. 540: dort zitiert: [Schnetzer 1914].
[1253] [Dörrer 1960]. – [Dünninger 1970].
[1254] [Werner/Werner 1996], S. 87.
[1255] Die Zahlen variieren zwischen 196 und 225: vgl. beispielsweise: [Hofmann Schreckensjahre], S. 45ff. oder die Angabe auf dem Gedenkbild an einer Außenwand der St. Aegidi Kirche in Bad Reichenhall. – Vgl. dazu historische Marterlsprüche in: [Roth 1973].
[1256] Ich danke Roman Schmölzl und Franz Wolf für die eindrückliche Schilderung der Geschehnisse.
[1257] Die Beschreibung ist unter www.kleindenkmaeler.com zu finden. Die Bildstöcklkapelle trägt die Objekt-Nummer 60 im Katalog.
[1258] Vgl. [Werner/Werner 1996], S. 257ff.
[1259] Mein Dank geht an Maximilian Danzl, Vorsitzender, und Christoph Winkler, Kapellenwart des Gebirgstrachten-Erhaltungsvereins „Alt-Reichenhall“, für die Interviews und das freundliche Bereitstellen von Text- und Bildmaterial.
[1260] [Reichenhaller Tagblatt], 10./11. Juni 1995, S. 5.
[1261] Vgl. [Reichenhaller Tagblatt], vom 17./18. Juni 2000, S. 5, zum 90-jährigen Bestehen der Bildstöckl-Kapelle.
[1262] Vgl. [Reichenhaller Tagblatt], vom 07. November 1964, S. 7.
[1263] [Werner/Werner 1996], S. 127.
[1264] [Werner/Werner 1996], S. 130.
[1265] Ich danke dem Erbauer, der nicht namentlich genannt werden will, vielmals für das Gespräch und die interessanten Details.
[1266] „Heimatblätter“ (= Beilage zum „Reichenhaller Tagblatt“), 1956/5.
[1267] [Werner/Werner 1996], S. 420.
[1268] Vgl. [Reichenhaller Tagblatt], vom 22. Mai 1974, S. 5.
[1269] [Reichenhaller Tagblatt], vom 29. Mai 1974, S. 6.
[1270] [Werner/Werner 1996], S. 408.
[1271] Mein Dank gilt Herrn Schönherr, dem Schriftführer der Salzbruderschaft der Saline Bad Reichenhall, für die Bereitstellung der Gipfelbücher und von weiterem Textmaterial.