Im Jahre 1909 erschien in Paris ein für die noch junge Volkskunde, aber auch für die Ethnologie insgesamt wichtiges Buch unter dem – französischen – Titel „Les rites de passage“, welches sich für die Theoriebildung als ebenso fruchtbar erwies wie für die Klassifikation ethnologischer Phänomene und welches bis heute nichts von seiner geistigen Frische und innovativen Denkweise eingebüßt hat – ja heute vielleicht, am Beginn eines neuen Jahrtausends, aktueller denn je ist, wo, um ein Wort des amerikanischen Ethnologen Victor Turner (1920–1983) zu zitieren, die Vergangenheit ihre Macht verloren, die Zukunft aber noch keine definitive Form angenommen zu haben scheint. Obwohl das Buch auch in deutscher Sprache vorliegt und oft zitiert wird, hat man allerdings gelegentlich den Eindruck, dass es zwar dem Namen nach bekannt ist, aber weniger auch tatsächlich gelesen wird. Dieses Schicksal teilt es mit anderen.
Trotzdem gehen die Wirkungen bis in die Gegenwart. Ein deutsches Forschungsvorhaben beschäftigt sich derzeit damit, die Gültigkeit der Thesen des Autors am Beispiel der modernen Gesellschaft Neuseelands zu überprüfen.[1272] Eine Neuübersetzung des Buches in deutscher Sprache wurde 1999 vorgelegt,[1273] gerade rechtzeitig zum Übergang vom 20. ins 21. Jahrhundert. Und in Frankreich erschien zum selben Zeitpunkt der Nachdruck eines weiteren bedeutenden Werkes des Autors, sein groß angelegtes Handbuch der französischen Volkskunde der Gegenwart („Manuel de folklore francais contemporain“), welches in breiter Form die Thesen des Verfassers am Beispiel einer nationalen Kultur exemplifiziert,[1274] eine späte Genugtuung des zu Lebzeiten von der herrschenden französischen Ethnologie nahezu negierten Wissenschaftlers.
Wer war dieser Mann? War er Franzose, weil er, wenn auch nicht nur, in französischer Sprache geschrieben hat? Oder war er, wie der Klang seines Namens, Arnold van Gennep, vermuten ließe, Niederländer? Oder war er gar Deutscher, weil er in Ludwigsburg im heutigen Baden-Württemberg geboren wurde?
Um es vorweg zu nehmen: der deutsche Anteil an seiner Biografie ist nicht sehr groß. Aber dennoch verdankt er seinen Jugendjahren in Ludwigsburg etwas für seinen weiteren Weg ganz Entscheidendes, nämlich die perfekte Beherrschung der deutschen Sprache, die es ihm später ermöglichte, das deutschsprachige Schrifttum zu verfolgen und sich in seinem wissenschaftlichen Werk eingehend damit auseinander zu setzen.
Geboren wurde Arnold van Gennep am 23. April 1873 – wie bereits erwähnt – in Ludwigsburg, „capital de Wurttemberg, petit royaume appartenant á l’empire allemand“, wie man fälschlicher Weise noch in einer neueren französischen Darstellung lesen kann.[1275] Falsch deshalb, weil die Zeiten, in denen das Herzogtum Württemberg gleich über drei Hauptstädte verfügte – nämlich Tübingen, Stuttgart und seit 1724 in der Tat auch Ludwigsburg –, mit der Erhebung Württembergs zum Königreich im Jahre 1805 endgültig vorbei waren und Stuttgart als Residenz- und alleinige Hauptstadt nach Pariser Vorbild an die Stelle der anderen getreten war.[1276] Tübingen blieb die Universitätsstadt des Königreichs, Ludwigsburg wurde zu „der“ Garnisonsstadt des Landes.
Van Genneps richtiger Name war eigentlich Charles Kurr. Sein Vater stammte von aus Frankreich emigrierten Protestanten ab, die Württemberg vielfach bei sich aufgenommen hat, 1699 die Waldenser unter ihrem Führer Henri Arnaud, aber auch die Hugenotten im mömpelgardischen Landesteil.[1277] Vater Kurr war angeblich Arzt, wie man gelegentlich liest.[1278] Wer aber um das Jahr 1873, dem Geburtsjahr van Genneps, in Ludwigsburg lebt und arbeitet, für den spricht eher, dass er irgendwie mit dem dort stationierten Militär zu tun hat. Und so finden wir einen gewissen Kurr, allerdings ohne näheren Vornamen, im Verzeichnis der Offiziere des Königreichs als „Premier Lieutenant“ im Dragonerregiment Königin Olga, der 1870 mit dem Friedrichsorden 1. Klasse mit Schwertern ausgezeichnet wird.[1279]
Damit stimmt überein, dass die Tochter Ketty van Gennep in ihrer kurzen Biografie des Vaters den väterlichen Großvater als „Lieutenant á la court“ bezeichnet.[1280] Da der Name Kurr sonst nirgends aufscheint, dürfte es sich bei ihm also um den Vater handeln. 1881 ist er allerdings schon als außer Dienst befindlich geführt. Der Hintergrund ist, dass die Ehe der Eltern scheiterte und schon 1879 geschieden wurde, als van Gennep gerade sechs Jahre alt war.
Zusammen mit der Mutter, einer geborenen Holländerin, die nach der Scheidung wieder ihren Mädchennamen van Gennep angenommen hatte und den er später als Pseudonym wählt, geht der Knabe zur mütterlichen Großmutter nach Lyon. Es scheint gewisse Erziehungsprobleme gegeben zu haben. Denn 1883, also mit zehn Jahren, finden wir ihn zum Schulbesuch in einem Internat in Paris.
Die Mutter heiratet 1884 wieder, den Chirurgen – daher wohl die Verwechslung mit dem wirklichen Beruf des Vaters – und späteren Bürgermeisters von Challes les Eaux in Savoyen, Paul Raugé. Mit ihm scheint sich der Junge, zunächst wenigstens, besser verstanden zu haben. Denn die nächsten Stationen seines Lebens sind die Lyceumsbesuche in Nizza und Chambéry, in nicht allzu großer Entfernung vom jeweiligen Elternhaus in Nizza bzw. Challes. 1892 macht er sein Abitur in Grenoble. Er scheint verschiedene Berufspläne gehegt zu haben: Arzt wie sein Stiefvater oder Diplomat wegen der damals schon von ihm beherrschten Sprachen: Französisch, Niederländisch und Deutsch – seinen Muttersprachen –, dazu Englisch und Italienisch, die er auf der Schule erlernte, Spanisch und Portugiesisch hatte er sich teils im Selbststudium, teils durch Privatunterricht angeeignet. Ihnen sollten noch einige mehr folgen wie Arabisch, Polnisch und Russisch, auch Dialekte wie etwa das Nissard, das man in Nizza spricht. Insgesamt soll er 18 Sprachen und mehrere Dutzend Dialekte beherrscht haben. Überhaupt scheint er ein Phänomen an Produktivität gewesen zu sein. So wird von ihm gesagt, er habe drei Tätigkeiten gleichzeitig ausüben können, zum Beispiel Maschine schreiben, Konversation führen und – man denke an Bertold Brecht – rauchen.
Schließlich beginnt er an der renommierten Pariser Sorbonne das Studium der Ethnografie, Soziologie und Religionswissenschaft. Ohne eigentlichen Studienabschluss heiratet er 1897, wodurch es zum Bruch mit den Eltern kommt. Zusammen mit seiner jungen Frau geht er zunächst für vier Jahre nach Tschenstochau in Polen als Französischlehrer – nicht zuletzt, um sich dort weitere, diesmal slawische Sprachen – Polnisch und Russisch – anzueignen. Nach der Jahrhundertwende, im Jahre 1901, erfolgte die Rückkehr nach Frankreich. Van Gennep geht als Leiter der Übersetzungsabteilung in das Ministerium für Landwirtschaft in Paris. Sozusagen nebenher promoviert er 1904 mit einer Arbeit „Tabu und Totemismus in Madagaskar“, 363 Druckseiten stark. Seine Tätigkeit als Übersetzer, Vortragsreisender und ab 1908 als freier Schriftsteller, wovon noch ausführlicher die Rede sein muss, erlaubt ihm den Erwerb eines Hauses in Bourg La Reine südlich von Paris, das ihm bis zu seinem Tode als Wohnsitz dienen sollte.
1908 gründet er eine ethnologische Zeitschrift, die „Revue des Études ethnographiques et sociologiques“. 1912 folgt er einem Ruf an die Universität im schweizerischen Neuenburg (Neuchâtel) auf einen Lehrstuhl für Ethnologie, wo er noch vor Ausbruch des Ersten Weltkrieges den ersten Internationalen Ethnologenkongress organisieren kann. Die kurze Zeit als Universitätslehrer wird die einzige wissenschaftliche Anstellung im Laufe seines Lebens bleiben. Denn schon 1915 ist durch die Ereignisse des Ersten Weltkrieges sowie einiger kritischer Äußerungen van Genneps zur Schweizer Neutralität die Universitätslaufbahn in der Schweiz auch schon zu Ende und sie wird auch nie mehr aufgenommen. Er kehrt als „Chargé de mission“ nach Paris zurück, diesmal ins Außenministerium, wohin ihn Staatspräsident Poincaré berufen hatte. Daneben übersetzt er Fachliteratur, besonders aus dem angelsächsischen Raum, aber auch aus Deutschland in die französische Sprache.
Aber wegen einer Anämie im Gehirn gibt er 1922 die Festanstellung im Außenministerium wieder auf, begibt sich auf Vortragsreisen in die USA und nach Kanada, versucht eine Hühnerzucht im Midi – ähnlich wie später Carl Zuckmayer oder Curt Goetz im amerikanischen Exil –, gibt auch diese Unternehmung bald wieder auf. Fortan ist er nur noch freischaffend tätig, arbeitet für verschiedene Zeitungen und Zeitschriften, publiziert ein wissenschaftliches Buch, einen wissenschaftlichen Artikel nach dem anderen – zum Teil auch in deutscher Sprache –, verfasst Rezensionen und beginnt schließlich 1924 mit der Arbeit an dem monumentalen „Manuel de folklore francais contemporain“, dessen erster Band nach lokalen Vorarbeiten schließlich 1943 erscheint. Er umfasst die Kapitel Geburt, Taufe, Kindheit, Jugend und Verlöbnis aus den Bräuchen des Lebenslaufes „Von der Wiege bis zum Grab“. Die weiteren Bände erscheinen in rascher Folge in den Jahren 1946 (Hochzeit und Begräbnis), 1947 (Carnaval, Fasten, Ostern), 1949 (Mai, Johannistag), 1950 (Sommer) und 1953 (Herbst). Schon 1937 hatte van Gennep Fragebogen und eine systematische Bibliografie veröffentlicht, aus deren Titeln er schöpfte. Insgesamt umfasst das Handbuch rund 3.000 Seiten, die Bibliografie allein nochmals 1.000 Seiten – und jede Woche veröffentlichte er zwischen 1927 und 1930 in der Zeitschrift „Le Savoyard de Paris“ eine Volkserzählung, Sage oder Legende.
Während der deutschen Besetzung Frankreichs diente er dem Bürgermeister von Bourg la Reine als Dolmetscher. Dort ist Arnold van Gennep, am 07. Mai 1957, im Alter von 84 Jahren gestorben. Eine Straße trägt heute noch seinen Namen. Die noch ausstehenden Teile des „Manuel“ konnten nur noch posthum 1958 (Weihnachten) und 1988 (Dreikönig) erscheinen.
Nicht ganz vergessen werden soll neben diesem bedeutenden und vielfältigen wissenschaftlichen Werk, dass er auch der Erfinder und geistige Vater einer Detektivfigur war. Denn unter dem sinnigen Pseudonym Jean La Ravoir (von se ravoir = sich erholen, wieder zu Kräften kommen) schrieb er, der Kriminalromane über alles liebte und zur eigenen Zerstreuung und Entspannung gerne las, selbst ein halbes Dutzend solcher Romane, in denen sein Inspektor Darius oft eine Hauptrolle spielt. In einem Brief, vom 27. Oktober 1923, schreibt er in diesem Zusammenhang an die Redaktion des „Quotidien“, einer Pariser Zeitschrift, Folgendes: „Je vous autorise vivement á dire, que j’ai besoin de sous, que je ne suis pas le chic amateur et que je suis gendelettre[1281] pour le pain quotidien“.[1282] Diese weniger bekannte Seite seines Schaffens war mit sein finanzielles Rückgrat, denn von der wissenschaftlichen Arbeit allein, zumal ohne feste Anstellung, konnte man schon damals, auch in Frankreich, nicht leben. Erst ab 1945 erhält er für die Zeit bis zu seinem Tode zur Herausgabe seines Handbuches eine staatliche Unterstützung, die ihn einigermaßen sorgenfrei arbeiten ließ. Und trotz der überragenden Fähigkeiten und wissenschaftlichen Kompetenz war es van Gennep nicht vergönnt, eine offizielle Position innerhalb der französischen Ethnologie und Volkskunde zu bekleiden. Für uns Heutige nahezu unverständlich.
Bei dem breit gestreuten Forschungsinteresse van Genneps wundert es nicht, dass gleich mehrere wissenschaftliche Disziplinen ihn als einen der ihren für sich in Anspruch nehmen, die Ethnografen wie die Religionssoziologen, die Anthropologen, die Ur- und Frühgeschichtler und nicht zuletzt eben auch die Volkskundler. Schon die Übergangsriten von 1909 schöpften aus deren Quellen, und auch in der Folgezeit hat er zu all diesen Disziplinen Entscheidendes beigetragen.
Vor einer etwas eingehenderen Darstellung seiner beiden Hauptwerke sei es vielleicht erlaubt, eines anderen Wissenschaftlers kurz zu gedenken, der uns gleichfalls ein Passagenwerk hinterlassen hat, unvollendet und nur fragmentarisch überliefert. Die Rede ist von Walter Benjamin (1892–1940)[1283], dem Berliner Philosophen und Schriftsteller, dem aus rassischen Gründen eine Hochschullaufbahn in Deutschland verwehrt war. Seine letzten Lebensjahre im Pariser Exil galten ganz der Arbeit an diesem Werk, dessen Weiterführung und Abschluss sein tragischer Tod, am 26. August 1940, in Port Bou zunichte machte. Greifbarer Auslöser für seine geschichtlich-philosophischen Betrachtungen waren die auch von Heinrich Heine in dessen „Hebräischen Melodien“ besungenen Pariser Passagen, überdachte luxuriöse Einkaufsstrassen, wie sie ab 1822 nach und nach entstehen und zum Teil heute noch – allerdings weniger luxuriös und etwas heruntergekommen – existieren, für Benjamin die Signatur der frühen Moderne schlechthin, gleichzeitig aber auch ein Produkt des Verfalls, Richtwege, wie er einmal notierte,[1284] zu einer anderen, diesmal vielleicht klassenlosen Gesellschaft, vielleicht aber auch gleichzeitig Zeichen des Überganges.
Bei van Gennep aber stehen die Passagen nicht als Metapher. Seine kritischen Beobachtungen gelten den Übergängen zwischen den Phänomenen des täglichen Lebens aus der Erkenntnis, dass sich das menschliche Leben in verschiedenen Abschnitten und Gruppen vollzieht, wobei die einzelnen Gruppen und Abschnitte nicht blockartig gegeneinander stehen, sondern sich in Übergängen vollziehen, die von bestimmten Riten begleitet werden. Es findet demnach, wenn man so will, eine permanente Grenzüberschreitung statt, so wie wir in der Natur nicht nur hell und dunkel unterscheiden, sondern daneben verschiedene Abstufungen von der Dämmerung bis hin zur tiefsten Nacht kennen oder wir nicht allein vier Jahreszeiten unterscheiden, sondern beispielsweise den Sommer nochmals in Frühsommer, Hochsommer und Spätsommer unterteilen, wobei die einzelnen Abschnitte von Festlichkeiten begleitet werden, Lichterbräuche, Sonnwende u. Ä. Das Schema, welches er in der Dynamik des sozialen Lebens zu erkennen glaubte, ganz gleich, ob es sich um zivilisierte oder primitive Gesellschaftsordnungen handelt, gliedert sich in drei Phasen. Auf die Trennungsphase, die vom früheren Ort oder Zustand löst, folgt die Schwellen- oder Umwandlungsphase, in der man sich quasi zwischen zwei Welten befindet. Den Abschluss bildet die Angliederungsphase, die Re-Integration in ein neues, anderes Leben.[1285]
Was vielleicht zunächst etwas abstrakt klingen mag, sei an einem persönlichen Beispiel des Autors dieser Zeilen etwas näher erläutert. 2000 habe ich meine aktive Laufbahn als Richter beendet. Und wie man beim Eintritt in den Arbeitsprozess überhaupt oder auch nur beim Wechsel des Arbeitsplatzes in der neuen Umgebung seinen Einstand gibt, so verabschiedet man sich auch hiervon mit einem Ausstand, erhält gute Wünsche für die Zukunft, vielleicht auch Geschenke der Kollegen und Mitarbeiter, im konkreten Fall noch beamtenrechtlich die Entlassungsurkunde, umgekehrt lädt der Ausscheidende zu einem Glas meist alkoholischen Getränks und/oder auch zu einem Imbiss, um dann am nächsten Tag ein neues Leben oder wenigstens einen neuen Lebensabschnitt zu beginnen. Van Gennep notiert in diesem Zusammenhang (S. 43): „Und tatsächlich lässt sich aus der Praxis eine genaue Entsprechung zwischen Ankunfts- und Abschiedsriten feststellen, zu denen wieder Besuche, ein letzter Gabentausch, ein gemeinsames Mahl, ein letztes Getränk, Wünsche, Weggeleit, manchmal auch Opferhandlungen gehören“. Das Wort Opferhandlung verwundert vielleicht in diesem Zusammenhang etwas. Aber van Gennep gelangt zu eben diesen Feststellungen anhand von Reiseberichten aus Nordafrika und China. Man ersieht aber hieraus, dass das Schema, welches er zu erkennen glaubte, nicht auf Europa beschränkt ist.
Noch ein weiteres Beispiel für den dreigliedrigen Rhythmus sei hier angeführt. Um Mitglied in einer Knabenschaft zu werden, wie sie beispielsweise vielfach in der Schweiz bezeugt sind, muss man „die Bubenschuhe ausziehen und die Gesellenschuhe anziehen“, d. h. derjenige, der einen Aufnahmeantrag gestellt hat, darf keinen Kontakt mehr mit seinen bisherigen Spielkameraden haben (Trennung), er kauft sich mit Geld, Wein, Brot oder anderen Gaben ein, wobei die Naturalien durch die Gemeinschaft ohne den Neuling verzehrt werden. Noch ist er also nicht vollwertiges Mitglied der Gruppe, sondern erst wenn weitere Riten hinzu treten, etwa eine Eidesleistung oder ähnliche verpflichtende Handlungen oder der gemeinsame Kirchgang, der auch nach außen dokumentiert, dass der Proband nunmehr vollwertiges Mitglied der Gruppe geworden ist. Ähnliches lässt sich bei den Zechen oder Rotten besonders in Niederösterreich beobachten.[1286] Der junge Mann gehört der Burschenschaft bis zu seiner Verheiratung an. Das Ausscheiden aus der alten Gemeinschaft erfolgt in ähnlicher Form wie der Eintritt.
Derartige Riten lassen sich nun innerhalb der verschiedensten Lebensphasen – von der Geburt bis zum Begräbnis – oder beim Wechsel von einer gesellschaftlichen Gruppierung in eine andere oder auch bei geografischen Ortswechseln konstatieren. Das eigentliche Phänomen aber, welches van Gennep aufzeigt, ist, dass diese Riten viel stärker bei den so genannten primitiven oder halb zivilisierten Kulturen beobachtet werden können als in den modernen Gesellschaften, ja, dass diese Gesellschaften von gleicher Komplexität sind wie die zivilisierten. Dazu nochmals der Autor (S. 13): „Jede Gesellschaft umfasst mehrere soziale Gruppierungen, die umso autonomer sind und deren Abgrenzung voneinander sich umso schärfer abzeichnet, je geringer der Zivilisationsgrad der Gesellschaft ist. In unserer modernen Gesellschaft ist nur noch die Trennung zwischen säkularer und der religiösen Welt, zwischen dem Profanen und Sakralen einigermaßen deutlich zu erkennen“.
Es war das Ziel van Genneps, das erwähnte dreigliedrige Schema in möglichst vielen Kulturen und Lebenssituationen nachzuweisen. Denn aus der Wiederholung desselben Phänomens gewinnen seine Argumente an Überzeugungskraft. Van Gennep wird so der Vertreter einer, ja „der“ vergleichenden Methode. Das Material hierzu bot ihm die Ethnografie, die wissenschaftliche Beschreibung fremder Kulturen und Völker, die sich um die Mitte des 19. Jahrhunderts zu institutionalisieren beginnt. Denn damals haben die Wissenschaftler das Feld entdeckt, sie wurden fortan, wie man heute sagen würde, vor Ort tätig. Die Kolonialpolitik Englands oder auch Frankreichs erlaubten nunmehr relativ problemlose Reisen in ferne Kontinente, welche die Ethnologen zu eigenen Aufzeichnungen und Beobachtungen nutzten. Obwohl van Gennep selbst nur zwei kurze Forschungsreisen nach Nordafrika unternommen hatte, 1911 bzw. 1912, verarbeitete er in seinen ethnologisch-ethnografischen Studien die reiche, von anderen eingebrachte Ernte, die er minutiös beherrschte.
Zu den Kolonialmächten gehörte beispielsweise auch Deutschland, das Kolonialbesitz besonders in Afrika an sich bringen konnte, aber auch die Insel Sansibar, die es 1890 allerdings gegen die strategisch wichtigere Insel Helgoland in der deutschen Bucht eintauschte. Auch die deutschen Ethnologen nahmen bald einen führenden Platz in Europa ein. Stellvertretend für viele andere Wissenschaftler sei hier besonders an Albert Hermann Post (1839–1895) erinnert, den auch van Gennep in seinen Übergangsriten gelegentlich zitiert (Anm. 129, 344, 385). Post war von Hause aus Jurist und Richter in Bremen. Er hatte 1880/81 ein zweibändiges Werk „Bausteine für eine allgemeine Rechtswissenschaft auf vergleichend ethnologischer Basis“ vorgelegt und die darin vertretenen Thesen in seiner „Afrikanischen Jurisprudenz“ von 1887, besonders aber in seinem Hauptwerk, dem „Grundriss der ethnologischen Jurisprudenz“ (zwei Bände 1894 und 1895) näher zu beweisen versucht. Seine Ideen wurden von Josef Kohler (1849–1919)[1287] aufgegriffen, der unter anderem einen Fragebogen zur ethnologischen Jurisprudenz Afrikas entwarf. Allerdings fanden die Ideen Posts und Kohlers in Deutschland kaum Gefolgschaft. Aber durch die von ihnen entwickelte Methode der Vergleichung wurden sie zu den Begründern der modernen Rechtsvergleichung. Mit dem Ende des deutschen Kolonialbesitzes nach dem Ersten Weltkrieg verschwand die ethnologische Jurisprudenz aus dem Forschungsprogramm der deutschen Wissenschaft. An ihre Stelle trat die kleinräumigere nationale Volkskunde.[1288]
Van Gennep verstand sein gefundenes Schema nicht als Gesetz, sondern eher als Hilfsmittel, mit welchem sich ethnologische Phänomene ordnen, systematisieren und klassifizieren lassen. Aber natürlich sind die von ihm herausgearbeiteten drei Phasen nicht überall gleich stark ausgeprägt. Er schreibt dazu, was insbesondere seine französischen Kritiker entweder nicht gelesen haben oder nicht lesen wollten (S. 21): „Diese drei Phasen sind jedoch nicht in allen Kulturen oder in allen Zeremonialkomplexen gleich stark ausgebildet“ und „Ich versuche zwar, alle diese Riten so klar wie möglich zu ordnen, da ich es mit menschlichen Handlungen zu tun habe, mache ich mir keine Illusionen, eine ebenso exakte Klassifizierung wie zum Beispiel die Botaniker erreichen zu können“ (S. 22). Die Kritik – vor allem die französische – setzte gerade hier an, weil sie glaubte, van Gennep presse alles in ein Korsett von Übergängen. So war die Aufnahme des Buches durchaus geteilt, ging von einem völligen Verriss bis hin zu begeisterter Anerkennung. Aber das Echo verblasste sehr schnell und in der Folge wurden die Riten eigentlich nur noch bei den Initiationsritualen genannt, vielleicht auch, weil van Gennep in der zweiten Hälfte seines wissenschaftlichen Schaffens sich ganz dem Handbuch der französischen Volkskunde zuwandte, welches ihn bis an sein Lebensende beschäftigen sollte.
Bevor dieses Werk in Lieferungen erscheinen konnte, publizierte er zwei Programmschriften, die immer noch lesenswert sind, „Le Folklore“ von 1924 (Paris, 121 Seiten), wozu er sich über Methode und die Klassifizierung des Stoffes Rechenschaft gab und „La Formation des Légendes“ von 1929, worin er querschnittsartig populäre Lesestoffe in eine formale Ordnung bringt, um dann eine allgemeine Theorie ihrer Entstehung und Verbreitung zu entwerfen. Die Erzählforschung nimmt dann später keinen Platz mehr in seinem Handbuch ein – wohl, weil auf den 310 Druckseiten alles Wesentliche von ihm gesagt wurde.
Dagegen finden wir dort, wie auch schon in der Programmschrift „Le Folklore“, aber auch anderswo,[1289] eingehende Überlegungen zur Methode innerhalb der Volkskunde und der Gliederung ihres Stoffes. Dabei propagiert er unter anderem die kartografische Methode, d. h. die Übertragung volkskundlicher Fakten auf Landkarten, um so Aufschlüsse über Entstehung, Verbreitung, aber auch die Gründe für ihre Gesetzmäßigkeiten und Veränderungen zu erlangen. Eine solche Methode wurde besonders in den 20er-Jahren des vorigen Jahrhunderts in Deutschland entworfen.[1290] Sie führte in der Folgezeit zu den bedeutenden Atlasunternehmen (Deutschland, Schweiz, Österreich, später auch Schweden, den Niederlanden, Polen, Tschechien, Finnland u. v. a.), von denen das deutsche Projekt allerdings unvollendet blieb. Die bis dahin, beim Erscheinen des ersten Bandes des „Manuel“ im Jahre 1942, entworfenen Karten erschienen ihm indes alle unbefriedigend. In der ihm eigenen Art schreibt er in der Einleitung zu seinem „Manuel“ (S. 87): „Die einzigen französischen Karten, die erstmals wissenschaftlichen Ansprüchen genügen, sind die von mir entworfenen“. Vor allem beanstandete er die bislang festzustellende Unübersichtlichkeit durch eine Überfrachtung mit Zeichen sowie die Verwendung eines zu kleinen Maßstabes.
Aber auch mit der bislang unternommenen Klassifikation des Stoffes, wie ihn etwa Eduard Hoffmann-Krayer in seiner volkskundlichen Bibliografie gliederte,[1291] war er unzufrieden, weil eine bibliografische Klassifikation andere Ziele verfolge wie eine systematische. Er schlägt daher eine Klassifikation ähnlich derjenigen vor, wie sie Adolf Spamer in dem von ihm redigierten Handbuch vorgenommen hatte.[1292]
Noch vor dem Erscheinen der ersten Lieferung seines „Manuel“ veröffentlichte van Gennep 1937/38 eine Reihe von Fragebögen, die er zum Teil selbst entworfen hatte, sowie eine systematische, 6.500 Nummern umfassende Bibliografie, weil er fand, dass es nötig sei, künftigen Forschern ein Instrument an die Hand zu geben, welches eine Weiterentwicklung des Faches ermöglicht. Dazu muss man wissen, dass es damals, in den 1920ern, in Frankreich zwar eine ganze Reihe meist lokaler Untersuchungen zur Volkskunde gab, die zum Teil allerdings wissenschaftlichen Ansprüchen kaum genügten und denen oft ein Bezug zu anderen Regionen und Forschungsfeldern fehlte, die zum Teil noch gar nicht erschlossen waren. Insbesondere aber fehlten eine Begriffsbestimmung dessen, was Volkskunde ist und sein kann sowie eine Abgrenzung zu den Nachbardisziplinen. Dies war die Folge des Fehlens volkskundlicher Lehrstühle in Frankreich, so dass es nicht zu einer Theoriebildung kommen konnte.
Fragebögen hatte schon Napoleon in den Jahren zwischen 1805 und 1811 aussenden lassen. Denn das Kaiserreich veranlasste in fast allen Gebieten seines Imperiums eine Reihe offizieller Bestandsaufnahmen, die ein Gesamtbild der volkskundlichen Gegebenheiten Europas vermitteln sollten. Zur Erinnerung: Ein ähnliches Vorhaben für Innerösterreich, wozu gleichfalls Fragebögen ausgeschickt wurden, veranlasste Erzherzog Johann. Ihm verdanken wir beispielsweise die bekannte Knafflhandschrift, eine obersteirische Volkskunde aus dem Jahre 1813,[1293] in deren Text erstmals das Wort Volkskunde aufscheint. Der Zusammenbruch der napoleonischen Herrschaft ließ das französische Vorhaben allerdings unbeendet. Von dem reichen Material, welches unter den Präfekten zusammengetragen worden war, scheint nichts mehr erhalten, außer den Dokumenten, die sich auf Norditalien beziehen. Dieses Material wurde vor einigen Jahren veröffentlicht. Es handelt sich um 200 Kostümdarstellungen und 15 Berichte über traditionelle Volksbräuche aus dem ersten Königreich Italien.[1294] Van Gennep konnte im Jahre 1937 wenigstens den seinerzeitigen Fragebogen veröffentlichen.[1295]
Bei aller Verschiedenheit der wissenschaftlichen Ansätze versteht sich heute doch die Volkskunde als Europäische Ethnologie. Das derzeit von Rolf W. Brednich herausgegebene Standardwerk, der „Grundriß der Volkskunde“,[1296] trägt den Untertitel „Einführung in die Forschungsfelder der Europäischen Ethnologie“, wie auch die dreisprachige Internationale Volkskundliche Bibliografie als ihres wichtigsten Arbeitsmittels den französischen Titel „Bibliographie Internationale d´Ethnologie“[1297] wählte, nicht zuletzt deshalb, weil ein dem Wort Volkskunde vergleichbarer Ausdruck in der französischen Sprache nicht existiert.
Umso erstaunlicher, dass der Name van Gennep in dem genannten „Grundriß“ gerade mal auf drei Seiten genannt wird, davon einmal sogar sozusagen aus „zweiter Hand“. Nachdem seine Übergangsriten in einer neuen deutschen Übersetzung vorliegen ist die Sprachbarriere zu einer genaueren Beschäftigung mit seinem Schema der Übergänge keine Entschuldigung mehr. Und auch in seinem neu aufgelegten „Manuel“[1298] wird der Interessierte manche gewichtige Entdeckung machen können.
[1272] Schriftliche Mitteilung von Herrn Prof. Dr. Rolf W. Brednich, Göttingen/Wellingon, New Zealand, vom 9. August 2000.
[1275] [Lacassin 1998/99], S. VIII.
[1276] [MüllerE 1963], S. 170.
[1277] [Krinninger-Babel 1999], hier S. 265f.
[1278] [Bimmer 2000], S. 15–36, hier S. 22.
[1279] [Hof- und Staatshandbuch 1873], S. 128.
[1280] [Gennep 1964]. – Zu seiner Biographie auch [Belmont 1987].
[1281] Gendelettre = Schriftsteller, von gens de lettre, ähnlich wie gens d’armes = Gendarm.
[1282] Zitiert nach [Lacassin 1998/99], S. XVI.
[1284] [Benjamin 1983], S. 92.
[1285] Die nachfolgenden Zitate stammen aus der deutschen Ausgabe: [Gennep 1999], S. 50.
[1286] [Schmidt 1966], S. 114–117.
[1287] Zu Josef Kohler vgl. [Handwörterbuch der Deutschen Rechtsgeschichte], S. 925–927.
[1289] [Gennep 1998/99], S. 77–92.
[1291] [Wildhaber 1960]. – Erst ab 1990 wurde das Klassifikationssystem der Internationalen Volkskundlichen Bibliografie (IVB) einer kritischen Überprüfung unterzogen. Dazu Alsheimer, Rainer: Die Systematikdiskussion der IVB-Mitarbeiter als Austausch von europäischen (Volks-)Kulturmodellen. In: [Beitl/Hummer 1996], S. 11–18.
[1295] [Gennep 1999], S. 7–11.
[1296] [Brednich 2001].
[1297] Zuletzt erschien der Band mit den Titeln für das Jahr 1998, hrsg. von Rainer Alsheimer (Bonn 2001).