Pierre Bourdieu hat das Distinktionsverhalten der gesellschaftlichen Gruppen dargestellt. Unter Distinktion versteht Bourdieu die soziale Abhebung. Den Beginn des bürgerlichen Verhaltenskodex macht er an der immer weiter schreitenden Distanzierung vom Körper und der immer manierierteren Verhaltensweisen fest, die ebenfalls Distanz schaffen. Für Frauen trifft dies in ganz besonderem Maße zu[4946].
Die Situation der Frauen im bürgerlichen 19. und 20. Jahrhundert hat Doris Baumgartner im Beitrag „Frauenbewegung, Frauenwahlrecht, Frauenpolitik“ in dieser CD-ROM dargestellt. Auszüge aus „Anstandslehren“ finden Sie in dieser CD-ROM in folgenden Beiträgen: „Feines Benehmen bei Familienereignissen um 1910“, „Über die Höflichkeit“ und „Der Ball: Sittlichkeit und weibliche Würde um 1900“.
„Wenn ein junges Mädchen aus höherem Stande durch die Verhältnisse ihres Lebens allein dasteht, so ist sie gezwungen, sich entweder einer Familie anzuschließen, oder sich eine viel ältere Gesellschafterin in das Haus zu nehmen, welche sie überall begleitet und auch im Hause selbst gleichsam Mutterstelle vertritt. Dieselben Grenzen sind ihr gesteckt, wenn sie die Mutter verliert und an der Seite des verwitweten Vaters zurückbleibt. Auch dann kann sie erst nach dem fünfundzwanzigsten Jahre allein im Hause repräsentieren, und wenn sie vorher auch selbst der Vater auf öffentliche Bälle und in Gesellschaften begleitet, wird dennoch ihre Stellung daselbst eine schiefe werden, sobald eine mütterliche Dame ihr nicht zur Seite bleibt. Ihre Grenzen sind noch enger gezogen als diejenigen einer jungen Dame, welche schon in der Jugend für ihren Lebensunterhalt zu sorgen hat, aber dafür hat diese auch unzähliche andere Verpflichtungen, welche das reiche oder vornehme junge Mädchen nicht kennt.
Eine Gesellschafterin wird auch auf Reisen, an Badeörtern die Begleitung ihrer Schutzbefohlenen sein müssen, selbst wenn derselben ein Vater zur Seite ist, da dieser durch Geselligkeit und andere Pflichten nicht immer nur mit der Tochter erscheinen kann. Vertraut man die junge Dame einer Familie an, muß man diese, sowie ihre Grundsätze, ihr Verhalten am fremden Ort genau kennen. Gar zu leicht kann ein junges argloses Gemüt in Verhältnisse hineingezogen werden, die seine Unschuld beeinträchtigen, seinem guten Ruf schaden und eine Verletzung desselben ist etwas sehr Schlimmes, das die Welt schonungslos beurteilt und die Teilnehmenden sogar zwingt, sich zurückzuziehen.
Hat die Dame indes die erste Jugend hinter sich, geht sie dem dreißigsten Jahre entgegen, wird es ihr niemand mehr verargen, selbständig aufzutreten. Dann kann sie in der Häuslichkeit als Repräsentantin auftreten, in der Gesellschaft, in der Fremde, auch dann natürlich noch mit echt weiblicher Vorsicht, ihre Stellung allein behaupten.
Wer es vermeiden kann, besonders in der großen Stadt, abends allein über die Straße zu gehen, der thue es. Die Begüterte wird einen Diener zur Hand haben oder ein Fuhrwerk benutzen, während es mancher Dame nicht möglich ist, auch wenn sie den besseren Ständen angehört, sich immer begleiten zu lassen. Sie gehe dann sicheren Schrittes ruhig ihren Weg, überhöre gleichsam etwaige dreiste Anreden, zeige für freche Blicke ein ruhig ernstes Gesicht, und wenn sie sonst durch ihre Erscheinung oder ihre Kleidung nicht gerade etwas Auffälliges zur Schau trägt, wird der sie inkommodierende Geck bald zur Ueberzeugung gelangen, daß ihre Haltung und Sittlichkeit sich mit seiner Albernheit nicht verträgt. Nach zehn Uhr aber, wenn die Häuser geschlossen sind, raten wir es keiner jungen Dame, sich noch allein auf der Straße zu zeigen, es wird sich in jeder anständigen Gesellschaft alsdann eine passende Begleitung für sie finden, oder sie wendet sich, falls ihr dieselbe nicht angeboten oder zugesagt ist, mit der Bitte an die Hausfrau, ihr ein Fuhrwerk holen zu lassen. Wagen und Fahrgelegenheit stehen überall zu Gebote in großen Städten; auch junge Frauen sollen dieselben lieber benutzen, als abends allein gehen, falls sie nicht von ihrem Mann begleitet werden können.
Eine junge Witwe soll noch vorsichtiger sein. Wir haben schon früher erwähnt, [Anm.: hier bezieht sich Klara Ernst auf Passagen, die in diese CD-ROM unter „Feines Benehmen bei Familienereignissen um 1910“ aufgenommen wurden] daß es angemessen ist für sie, selbstverständlich in den ersten Trauerjahren und auch später, öffentliche Feste und Bälle zu meiden, besonders wenn sie dieselben nicht mit ganz nahen Verwandten, Eltern, Geschwistern, besuchen kann.
Die geschiedene Frau soll noch mehr ihre strenge Zurückgezogenheit bewahren, selbst wenn sie an ihrem Unglück sich schuldlos fühlt, werden die Vertreter einer Partei, welche gegen sie ist, nicht fehlen, und ihr Ruf wird durch deren Urteil untergraben; falls sie in ihrem Benehmen noch den leisesten Anstoß gibt, um so mehr.
Junge Mädchen können einen Badeort nicht besuchen, ohne sich in den Schutz einer bekannten Familie zu begeben, Frauen können allein reisen, auch Gartenkonzerte daselbst und Promenaden besuchen, müssen sich aber vorsichtig ihre Gesellschaft wählen, sich nicht von Herren umschwärmen lassen, oder mit jedem Fremden sogleich in ein Gespräch geraten.
Wir haben nun noch der vom Geschick weniger Bevorzugten zu gedenken, der großen Anzahl junger Mädchen, welche früh schon darauf angewiesen sind, sich ihr Brot selbst zu verdienen, sei es nun, daß sie als Erzieherinnen, Gesellschafterinnen, als Stütze der Hausfrau in die Welt hinausgehen, oder im Comptoir und öffentlichen Geschäft ihre Stellung gefunden haben. Wie dieselbe auch sei, entehrend ist sie niemals, sobald die Trägerin selbst sich ehrbar hält und den Takt besitzt, sich in die Anforderungen, welche an sie gemacht werden können, zu schicken. Sie soll es nie vergessen, daß sie sich in einer abhängigen Stellung befindet, also gehorchen muß, und ebensowenig herrschen wollen, als es schweigend ertragen, daß man sie knechtet.
Hier auch ein Wort an die Herrschaft selbst, in deren Hause sich eine Dame als dienstbares Mitglied befindet.
Nicht Reichtum und Kenntnisse gestatten es, nicht Rang und Titel geben die Berechtigung, seine Ueberlegenheit fühlen zu lassen auf eine Weise, welche dem Dienenden wehe thut. Auch ungebildete Dienstboten haben ein Herz und oft ein recht warmes Gefühl darin, und die Lehrerin, die Erzieherin, der wir unsere Kinder anvertrauen, steht, wenn auch in äußeren Verhältnissen nicht, so doch sonst uns gleich in der Sorge, in der Belehrung derjenigen, die wir ihr übergeben haben.
Die abhängige Stellung in einem Hause kann, besonders für den Gebildeten, eine recht schwere sein, eine ganz leichte ist es niemals, aber sie wird sich wesentlich gut gestalten dadurch, daß der Dienende fügsam ist, frei von alberner Empfindlichkeit, und diejenigen, welche zu gebieten haben, dies mit Takt und Zartgefühl thun.
Eine Gesellschafterin, braucht zwar nicht die wissenschaftlichen Kenntnisse der Erzieherin zu besitzen, dennoch ist ihre Stellung eine fast noch schwierigere. Mit den Launen, den oft unbesiegbaren der Dame selbst, oft sogar einer kranken Dame, hat sie zu kämpfen und darf nicht wie bei anvertrauten Kindern hoffen, diese Launen und durch sie entstehenden Unarten zu besiegen. Da gilt es gleichfalls, Sanftmut und Geduld zu haben.
Als Stütze der Hausfrau hat ein junges Mädchen dennoch nicht die Rechte derselben und muß stets, wo es einen Besuch, ein Vergnügen betrifft, schweigend zurückstehen; es darf keine Empfindlichkeit verraten, sobald man es nicht dazu auffordert, teil daran zu nehmen. In unserer Jetztzeit will sogar manche junge Dame hinaus in die Welt, weil die Schranken des elterlichen Hauses ihr zu enge erscheinen, sie Eltern und Geschwistern sich nicht unterordnen kann, und erst unter Fremden lernt sie das Dienen und Entsagen.
Daß die junge Dame, sobald sie sich in einen fremden Haushalt begiebt, auch seine Interessen zu teilen hat, gebietet der Anstand. Sie bezeigt ihre Teilnahme daran freundlich, aber mit Zurückhaltung; sie bringt an Geburtstagen ihren Glückwunsch, auch wohl ein kleines Angebinde und erscheint bei Todesfällen im schwarzen Kleide.
In einem Geschäft kommt es mehr auf die Arbeit als auf die Person an; wie das Verhältnis der Dame zu den anderen mit ihr dort dienstbaren Personen sich gestaltet, dazu muß die Sitte und das richtige Taktgefühl ihr den Weg zeigen. Den Kaufenden gegenüber wird Freundlichkeit, Gefälligkeit und Geduld verlangt. Jeder Kaufende kann Ansprüche darauf machen, etwas zu finden, was ihm gefällt, weil er es bezahlt, jeder macht andere Ansprüche nach seinem Geschmack, und es ist höchst unangenehm, wenn der Verkäufer sich unfreundlich, ungeduldig zeigt, oder mit den Augen ganz anderswo ist als bei dem, was er uns präsentiert. Auch junge Mädchen, die hinter dem Ladentisch stehen, sollen die Sittsamkeit nicht verleugnen, im einfach sauberen Anzug gefallen sie viel besser als im gesuchten Putz, der gerade in diesem Verhältnis so gar nicht angebracht ist.
Ueberhaupt merke sich doch jede Dame das bewährte Wort des alten griechischen Weisen, daß diejenige Frau die tugendhafteste ist, von der man am wenigsten spricht.“
[4946] Zum Werk Pierre Bourdieus siehe: http://HyperBourdieu.jku.at
[4947] Ernst, Klara: Der feine Ton im gesellschaftlichen und öffentlichen Leben. Kurzgefasste Anstandslehre. Mülheim=Ruhr: Jul. Bagel o. J. (um 1910), S. 110–114.