Pierre Bourdieu hat das Distinktionsverhalten der gesellschaftlichen Gruppen dargestellt. Den Beginn des bürgerlichen Verhaltenskodex macht er an der immer weiter schreitenden Distanzierung vom Körper und der immer manierierteren Verhaltensweisen fest, die ebenfalls Distanz schaffen[4949].
Auszüge aus „Anstandslehren“ finden Sie in dieser CD-ROM in folgenden Beiträgen: „Die alleinstehende Dame um 1900“, „Feines Benehmen bei Familienereignissen um 1910“, „Der Ball: Sittlichkeit und weibliche Würde um 1900“.
„Höflichkeit ist die sicherste Form der Verachtung.“
(Heinrich Böll, deutscher Schriftsteller, 1917–1985)
„Auch Kränkungen wollen gelernt sein. Je freundlicher, desto tiefer trifft's.“
(Martin Walser, deutscher Schriftsteller, geb. 1927)
„Höflichkeit ist der Sicherheitsabstand, den vernünftige Menschen einhalten.“
(Maurice Chevalier, französischer Sänger und Schauspieler, 1888–1972)
„Durch Höflichkeit verliert man nichts auf dieser Welt, ausgenommen den Sitzplatz in der Metro.“
(Arsenio Hall, amerikanischer Schauspieler, geb. 1955)
„Übertriebene Höflichkeit ist unhöflich.“
(Aus Japan)
„Es ist keine Höflichkeit, einem Lahmen den Stock tragen zu wollen.“
(Arthur Schnitzler, österreichischer Schriftsteller, 1862–1931)
„Höflichkeit ist Klugheit, folglich ist Unhöflichkeit Dummheit.“
(Arthur Schopenhauer, deutscher Philosoph, 1788–1860)
„Menschen müssen sich einmal aneinander reiben. Höflichkeit aber ist das Fett, welches das Unangenehme des Reibens vermindert oder erleichtert.“
(Friedrich Wilhelm Weber, Arzt, Verfasser von Gedichten, 1813–1894)
„Noch einige allgemeine Regeln über die Höflichkeit.
Es klingt so unbedeutend, wenn man von jemand sagt: ‚er ist ein höflicher Mensch‘ – als wenn sich das nicht von selbst verstände, daß der Gebildete nicht unhöflich, nicht grob ist; und doch kommt gerade die rechte feine Höflichkeit von innen heraus, sie zeigt Gefühl und Gemütstiefe, sie ist nicht bloß etwas Angelerntes. Höflichkeit soll bewiesen werden jedem Alter, jedem Stand gegenüber, im Hause und auf der Straße.
Wie die Tochter den Eltern gegenüber höfliche Rücksicht schuldig ist, soll sie dieselbe auch den alten Tanten, dem Onkel, den Geschwistern, selbst den Dienstboten entgegenbringen, und der junge Mann, der sich vor den Augen des Vaters unhöflich auf das Sofa wirft, wird schwerlich in der Gesellschaft herausfühlen, was die Höflichkeit fordert.
Es ist oft recht unbequem, aber es ist höflich, für eine alte Dame das Fußkissen oder ein vergessenes Tuch zu holen; wer bliebe nicht lieber plaudernd sitzen, als daß er unter den Tisch kriechen und ein gefallenes Knäuel aufsuchen muß, aber wie gut steht das schnelle Bücken, das bereitwillige Aufspringen der Jugend.
Innerlich seufzt der junge Mann vielleicht darüber, wenn er eine fröhliche Gesellschaft verlassen soll, um eine alte Dame nach Hause zu begleiten, es ist ja so natürlich, daß seine Gedanken zurückwandern unter die soeben noch mit ihm lustig plaudernden Genossen, aber die Höflichkeit gebot es ihm, seine Begleitung nicht nur anzubieten, sondern auch nun ein bedächtiger, freundlicher Begleiter zu sein.
Höflich aufstehen soll der Jüngere, wenn der Aeltere ihn anredet, er soll stehen bleiben während des Gesprächs, wenn er auch müde ist und lieber säße, und ein höflicher Gruß, eine Frage, selbst von ganz Fremden, nach einer Straße, einem Hause, muß höflich erwidert werden; wer Kellner und Diener höflich behandelt, vergiebt sich dadurch nichts, aus Höflichkeit überläßt man anderen einen besseren Platz, und obgleich man selbst nur gar zu gern in das Theater ginge, gibt man sein Billet aus Höflichkeit dem Gast oder einer Respektsperson.
Der Unhöfliche steht sich selbst im Licht. Wer seine Dienstboten unhöflich behandelt, dem werden sie schwerlich mit Freudigkeit dienen, wer am dritten Ort Unhöflichkeit zeigt, über den fällt niemand ein günstiges Urteil. Ist eine junge Dame noch so schön, ist der Kopf eines jungen Mannes noch so vollgepfropft von gelehrtem Wissen, ein unhöfliches Benehmen kennzeichnet ihren Bildungsmangel.
Aber wie alles übertrieben werden kann, so auch die Höflichkeit. Ueber eine zartfühlende, gebildete Dame hörte ich einst das richtige Urteil: ‚Sie wird unhöflich aus Höflichkeit.‘
Wer einen ihm zukommenden Ehrenplatz durchaus nicht einnehmen will und dadurch die ganze Gesellschaft in Unruhe bringt, wer immerfort aufspringt, um dies und jenes für seine Gäste zu holen, und dadurch den Faden des Gesprächs zerreißt, der fällt durch übertriebene Höflichkeit in das Gegenteil, er belästigt die anderen.
Höflichkeit ist selbst, wenn es auch eigentümlich klingt, im Verhalten gegen Tiere geboten.
Die Hausfrau freut sich an dem fröhlichen Lied ihres Vögelchens, dem Gast ist dasselbe störend, und anstatt diese Störung mit schweigender Höflichkeit zu tragen, äußert er seine Mißstimmung darüber. Der geliebte Haushund wird von einem unhöflichen Besuch beiseite geschoben und verachtet, ja sogar mit rohen Namen betitelt, statt mit freundlicher Rücksichtnahme auf seinen Herrn geduldet. Diese aber, falls sie die rechte Höflichkeit besitzen, verhängen mit freundlicher Miene das Vogelbauer, worin ihr Liebling nun im Dunkeln trauert, und beseitigen das fröhliche Hündchen, ehe sie dem Gast dadurch eine Belästigung bereiten. Höflichkeit an der rechten Stelle zeigt immer das feine Taktgefühl.“
[4949] Zum Werk Pierre Bourdieus siehe: http://HyperBourdieu.jku.at
[4950] Ernst, Klara: Der feine Ton im gesellschaftlichen und öffentlichen Leben. Kurzgefasste Anstandslehre. Mülheim=Ruhr: Jul. Bagel o.J. (um 1910), S. 114–116.