Dieses Statement ist leicht veränderter Teil eines Artikels gleichen Namens, den Stefan Hirsch in der „Bayerischen Staatszeitung“ (Nr. 46, 14. November 2003, S. 17) veröffentlichte. Stefan Hirsch ist Bezirksheimatpfleger von Oberbayern[5091]. In dieser Funktion hat er u. a. am 15. November 2003 mit der „Offenen Akademie“ der Münchner Volkshochschule eine Podiumsdiskussion zum Thema „diskriminierendes Brauchtum“ geleitet. Mit den konfessionellen Bildungswerken hat er mehrere Veranstaltungen zum Fragenkomplex „Brauchtum und Sinnstiftung“ initiiert.
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Volkskultur boomt in Bayern nicht nur auf dem Lande. Trachten- und Volksmusikgruppen können sich über mangelnden Nachwuchs nicht beklagen. Das Bauerntheater ist wieder schick. Auch die globalisierte Weltgesellschaft hat die alten Bräuche, Maibaumaufstellen, Hoagart’n oder Jaudesfeuer, nicht zum Verschwinden gebracht. Wie lebendig und echt sind aber viele dieser Bräuche noch? Oder anders gefragt, wie lebendig können sie noch sein? Kritiker werfen der auf Wahrung der lokalen Identität bedachten Volkskultur „Eingenähtsein“ vor. In Gemeinden und Traditionsvereinen häufen sich Reibereien und Auseinandersetzungen um eine neue Volkskultur ohne „Dumpfheit und Diskriminierung“. Genug Stoff nachzufragen ob und welche Lebensbewältigungshilfen in Bräuchen und brauchähnlichen Ritualisierungen zu finden sein könnten.
Es geht mir in diesem Beitrag nicht um „Heimat“ und nicht um „bayerisches Brauchtum“, was immer das ist, auch nicht um den Menschenschlag des ehemaligen „Hochlandes“, dem angedichtet wurde, es wüchsen ihm die Gamsbärte aus dem Schädel ... Es geht im Folgenden allein um den Menschen hier und heute, der – ohne sich dessen oft bewusst zu sein – in ein subtiles gesellschaftliches und privates Netz von Ritualen und Bräuchen verstrickt ist und sich darin – je nachdem – ganz gut aufgefangen fühlt oder mehr oder weniger verzweifelt darin zappelt.
Bräuche und Rituale haben – so wie sie von Menschen selbstverständlich geübt und innerlich erlebt werden – etwas mit bildhaftem Denken, mit bildhaftem Fühlen zu tun.
Unser Wissen über Bräuche ist dank rund 100-jähriger volkskundlicher Wissenschaftsgeschichte (Institutsgründungen erst im 20. Jahrhundert, davor viele literarische, kameralistische, sozio-ökonomische u. a. Entdeckungen von „Volks-welten“), der breiten Erreichbarkeit von Büchern und den Möglichkeiten des Internets so umfangreich wie noch nie. Ob es gerade dadurch unsere inneren Erlebnismöglichkeiten so reduziert hat, wie kürzlich die McKinsey-Studie gezeigt hat? Begeistert über die deskriptiven Möglichkeiten des Phänomens „Brauch“ und die heimatlich-bayerische Pracht beispielsweise einer Leonhardifahrt fragen wir aber kaum noch nach dem Sinn und der religiös-spirituellen Wirksamkeit dieser Dinge.
Etwas vereinfacht gesagt werden mit dem Begriff „Brauchtum“ in der Alltagssprache in erster Linie Folklore (und zwar in der im deutschen Sprachraum gebräuchlichen Bedeutung), Fremdenverkehr, Tradition, vorgeblich oder wirklich Ursprüngliches und Authentisches verbunden, während mit dem Begriff „Ritual“ häufig, landläufig, eine wie auch immer geartete, nebulose und unbewusste oder tatsächliche Spiritualität und/oder Religiosität assoziiert wird, auch wenn sie sehr profan erscheinen kann, wenn man z. B. vom Zu-Bett-geh-Ritual der Kinder spricht.
Triviale Verwendungen von Begriffen führen uns aber meist auf die Spur tieferer Bedeutungsschichten. Daher sollen die Begriffe an dieser Stelle auch nicht wissenschaftlich debattiert werden. Wenn wir in Anlehnung an berühmte anthropologisch, psychologisch oder kulturwissenschaftlich arbeitende Erforscher von Verhaltensweisen heute z. B. gern von Passageriten sprechen, was nichts anderes bedeutet als Bräuche an Wendepunkten des Lebens oder des Jahreskreises, dann wird deutlich, dass wir durch die Übernahme solcher Begriffe das spirituelle Defizit wettzumachen bestrebt sind, in das wir oft durch formelhafte Brauchausübung geraten sind. Wie und warum es notwendigerweise immer wieder zu einem Ersticken in Formelkram kommt, ist u. a. von Schülern C. G. Jungs sehr einfühlsam und treffend beschrieben worden.
Vor einigen Jahren war anlässlich eines Kongresses in Florenz für eine geschlossene Gesellschaft in der Kirche San Miniato al Monte von einer Agentur eine historische Messe als Konzert- und Theater-„Event“ angeboten worden. Das ganze war ebenso beeindruckend wie erschütternd: einerseits hinsichtlich des zumindest äußerlichen Kulturverlustes im kirchlichen Ritual, aber andererseits noch erschütternder in der Erkenntnis, wie weit wir bereits in ein rein historistisch-rationales Lebensempfinden hineingerutscht sind, so dass wir imstande sind, Gottesdienst als museales Ereignis zu inszenieren.
Beim Ritus der Messe, in dem ja die Wandlung der zentrale Punkt ist, sprechen wir bezeichnenderweise nicht von Brauch, obwohl das Ritual der Messe alle wesentlichen Kennzeichen des Brauches, nämlich vor allem die zyklische Wiederholung und das Andenken an Geschehnisse ferner Zeit, in sich trägt. Wenn wir umgekehrt beim Begriff der Wandlung neben der seit dem 12. Jahrhundert aufgekommenen Transsubstantiationslehre (siehe CD-ROM 2: Geschichte der Fronleichnamsprozession) der katholischen Kirche nun seit etwa 1900 auch außerhalb des Konfessionellen auf die tiefenpsychologische und spirituelle Symbolebene des Wandlungsbegriffes im Sinn der Jung’schen „Individuation“ gestoßen werden, dann kommt eine außerkonfessionelle Bedeutung dazu. Dann geraten die Wörter „Brauchtum“ und „Ritual“ zunehmend in sich in eine Gespaltenheit, obwohl beide eigentlich die gleiche Wurzel haben, bzw. Rituale immer Bestandteile von Bräuchen sind. Heute werden die Worte in breiter Auslegung von vordergründigem und banalem Kommerz bis hin zu größter Seelentiefe verwendet.
Konkret: Fakt ist, dass man z. B. gerade in der Lebenswelt der heutigen jungen Generation, besonders auch in ländlichen Regionen, eine deutliche Gespaltenheit feststellen kann. Diese pendelt zwischen traditioneller Brauchausübung, die wirklich oder scheinbar keinen oder nur geringen spirituellen „Erlebniswert“ hat sowie der ausgeprägten Ritualsehnsucht mit möglichst intensiven spirituellen Erlebniswerten. Gemeint sind weniger die „Szenen“ diverser weltanschaulicher Strömungen mit den bekannten „Guru-“ abhängigen Strukturen, vielmehr die ganz normalen Rituale jugendlicher Gemeinschaftsbildungsprozesse, die der immer wieder vulkanartig ausbrechenden emotionalen Seite unseres technoid geprägten Menschendaseins ein Bild, ein Symbol, einen Ritus geben wollen, um das eigentlich Unbewältigbare im Rahmen einer eingeübten und wiederholbaren Form irgendwie bewältigen zu können. Es ist dies eine „Kultur der Angst“ – der Angst vor der steten Wandlung als Lebensaufgabe, der Angst vor den Lebensübergängen, dem Abschied-nehmen-Müssen, dem Übertritt in neue Lebensphasen, dem Älterwerden, dem Sterben, dem Verlassen-Müssen der konkreten Heimat.
Da spielt man einerseits beim Heimatabend in der Trachtenkapelle mit, selbstverständlich mit Hosenträger, Hut und Feder am Kopf, aber das wirkliche existentielle Lebensgefühl wird in einem anderen Ambiente gesucht. Bewusstseinserweiternde sowie Ganzheits-Erfahrungen erhofft „man“ sich heute im „flippigen Alter“ u. a. von den „afro-cosmic-nights“, den Didgeridoo-Abenden oder von den „Buddha-Szene-Parties“, den Diskotheken oder Fitness-Studios und was sich da sonst noch alles auch außerhalb der Städte in den letzten Jahren ausbreitet.
Weil in unserer heutigen Alltagswelt spirituelles Angebot über traditionelle Orte und Zusammenhänge nicht mehr oder nur noch mit spezieller Kenntnis zu erspüren ist, füllt sich dieses Vakuum schnell mit kommerzialisierten Formen vermeintlicher Ganzheitsglück-Verlockungen.
Hier wird neuerdings die ja auch dem Christentum auf weiten Strecken verloren gegangene Einheit von Körper und Seele – im öffentlichen Erscheinungsbild oft reduziert auf „Bier und Weihrauch“ – angepriesen. Trainer und Animateure nehmen geradezu einen Priesterstatus an, betreiben Körperseelsorge, huldigen einer Götterkombination aus ewiger Jugend, Unversehrtheit, Leidensverdrängung, Kommerz, Sozialprestige und Leistungsehrgeiz. (vgl. dazu in CD-ROM 2 die Beiträge von Ronald Lutz).
Fixiert auf Brauchtumskalender, Brauchtumssendungen, Brauchtumskolumnen, die wie die täglichen Horoskopspalten in der Zeitung unsere Wahrnehmung von Brauch und Ritual ins Banale, ins Oberflächliche verbiegen, sind wir häufig nicht mehr in der Lage, alten Traditionen eine persönliche Werthaltigkeit abzugewinnen. Selbst wenn wir in der Fronleichnamsprozession mitgehen, im Herzen sind wir meist mehr Zuschauer als innerlich vom numinosen Geschehen Ergriffene. So sind wir z. B. nicht mehr in der Lage, das Herabregnen von feurigen Zungen in Form von Pfingstrosenblättern und Zetteln mit frommen Sprüchen aus dem Pfingstloch als großartiges Symbol auf uns wirken zu lassen. In intellektueller Überheblichkeit verurteilen wir solche Bräuche als naiven Kitsch und lächeln darüber ironisch. Vielleicht kaschieren wir damit unsere Abwehrhaltung gegenüber den Tiefen, aber auch den Untiefen unserer eigenen Seele.
Warum tun sich heute etwa die christlichen Kirchen so schwer, im Bereich des Brauchtums wirkliche spirituelle – und eben nicht esoterische – Inhalte zu vermitteln, obwohl sie über alle Infrastruktur verfügen, die man dazu braucht? Räume mit den besten und ausgesuchtesten Kunstwerken, deren Qualität einem Herz und Sinn gerade für diese Dinge öffnen könnte, Inhalte wie die Überlieferungen der Heiligen Schrift, der Mystik oder auch eine ausgeprägte Volksfrömmigkeitsgeschichte ebenso wie junge kritische Bewegungen stünden zur Verfügung.
Brauchtumspflege wird heute oft reduziert auf reine Äußerlichkeiten und eine gut funktionierende Organisation. Jedes Jahr – ich kann schon darauf wetten – bekomme ich Anfragen, ob beim „bayerischen“ Maibaum die weiß-blauen Girlanden rechts- oder linksdrehend sein müssen. Es gibt Fanatiker, die behaupten, sie müssten nach links oben gewendet sein, weil die bayerischen Rauten im Staatswappen auch nach links oben gehen. Dass aber, z. B. die früheren amtlichen königlich-bayerischen Wegweiser aus Gusseisen nach rechts gewendet waren, wird gar nicht zur Kenntnis genommen. Kurz gesagt: es ist auch völlig „wurscht“. Es gibt da ebenso wenig kanonisierte Vorschriften wie beim Kräuterbuschenbinden, bei dem es jedes Jahr pünktlich im August zu Auseinandersetzungen kommt, wie viele und welche Kräuter da hineindürfen, wenn es ein „echt bayerischer“ Kräuterbuschen sein soll.
Insofern reagiere ich immer ein wenig empfindlich auf staatsgeographische Begriffsverbindungen, die zu leicht in gefährliche ethnische abtriften können, wie etwa „bayerisches Brauchtum“. Lieber wären mir da Formulierungen wie „christliche Bräuche“ in Altbayern, Franken oder Schwaben oder „Zunftbrauchtum“ in Wasserburg oder anderswo usw. (So nennt sich ja auch diese CD-ROM-Reihe bewusst „Bräuche im Salzburger Land“ und nicht „Salzburger Bräuche“.).
Jedenfalls scheint mir, dass gerade konfessionelle Bildungswerke (aber nicht nur diese) in der aktuellen gesellschaftlichen Situation einen wichtigen Beitrag dazu leisten könnten, dass einerseits „die Kirche im Dorf bleibt“, was die Bräuche betrifft, aber auch, dass brauchähnliche Lebensbewältigungshilfen entwickelt werden könnten, wo es kein traditionelles Brauchtum gibt. Z. B. fehlt uns dies bei einem wichtigen Lebensschritt, der oft ganze Familien ins Unglück stürzen kann, wie bei der Hofübergabe. Oder wir haben im Gegensatz zu anderen Kulturen keinerlei Passageriten für die jungen Leute bei den oft schmerzlich erlebten Übergängen ins Reifealter entwickelt. Es gibt oft keine brauchbaren Rituale für Trennungserlebnisse und vieles mehr. Andere Brauchformen werden wiederum stark diskriminierend erlebt, wie die jahrelange Auseinandersetzung um das so genannte Jaudesfeuer am Karsamstag zeigte. Da gäbe es also viele Aspekte, die zu bearbeiten wären. Auch die Bewertung von so genannten Resten „heidnischen Brauchtums“ müsste im Sinn des nicht diskriminierenden Begriffes des Vorchristlichen (siehe CD-ROM 1: Christian Rohr: Vorchristliche Feste, Idole und Masken) wie des kritischen Umgangs mit „Brauchtums“-Instrumentalisation neu überdacht werden.