Seit ältester Zeit stellen sich die Menschen vor, daß alles Leben aus der Erde kommt. Die Erde ist die Große Mutter, die sich mit dem Himmel paart, um in immer neuer Fruchtbarkeit alle Lebewesen dieser Welt hervorzubringen. Ihr gebührt daher Verehrung, ihre Gunst wird mit Bitt- und Dankopfern gewonnen. Auch der Mensch verdankt dieser Anschauung zufolge sein Dasein zu allererst der Mutter Erde, die leibliche Mutter vollendet nur deren Werk. Bei vielen Völkern war und ist es noch Brauch, ein Neugeborenes auf den Erdboden zu legen, von wo es der Vater aufhebt und als sein Kind anerkennt. Menschen, die in die Fremde ziehen müssen, tragen oft ein Säckchen voll Heimaterde bei sich, das ihnen einst ins Grab mitgegeben wird. Mancherorts werden Sterbende auf die bloße Erde gelegt, und im Tod kehren die Menschen ganz zu ihr zurück. In einigen primitiven Kulturen bestattet man die Verstorbenen sogar in Embryonallage, um die Bindung an die Große Mutter anzuzeigen. Tote werden bis heute mit Saatkörnern verglichen, die in der Erde auf neues Leben warten. Aus der Verbundenheit mit der fruchtbaren Erde erklärt sich auch die Tatsache, daß die Feldarbeit seit alter Zeit von den Frauen getan wird. Nach mündlicher Überlieferung holt man die kleinen Kinder aus Erdspalten, Höhlen und Grotten hervor. Solche Orte ließen die Menschen in den Leib der Mutter Erde eindringen, und daher wurden sie zu Schauplätzen von Initiationsriten und anderen wichtigen Zusammenkünften wie Hochzeiten und Begräbnisse gewählt. In der klassischen griechischen Sage von der Sintflut sollte Deukalion die Gebeine seiner Mutter hinter sich werfen, um die verwüstete Welt wieder zu bevölkern; er hob Steine vom Boden auf, warf sie über seine Schultern, und wirklich standen Menschen davon auf.
Die große Ehrfurcht vor der Mutter Erde führte dazu, daß sie seit der Altsteinzeit als die mächtigste Göttin verehrt wurde. Sie bekam viele Namen. Im Kulturraum rund um das Mittelmeer hieß sie etwa Gäa oder Tellus, Rhea, Isis, Demeter, Ceres oder Ops. Man huldigte ihr auch im wechselnden Bild des Mondes und nannte sie zum Beispiel Astarte oder Artemis. Als wichtigste Erdgöttin überstrahlte die kleinasiatische Kybele alle anderen Kultfiguren. Sie wurde von einem schwarzen Meteorsteinbild verkörpert, von dem es hieß, daß es jeden herannahenden Feind vertreiben könne. Während des Zweiten Punischen Krieges ließen die Römer dieses Götterbild nach Rom bringen, stellten es einige Jahre lang im Tempel der Victoria auf und erbauten ihm im Jahr 191 v.Chr. auf dem Palatin einen eigenen Tempel. Im römischen Festkalender wurde der 4. April nach griechischem Vorbild als „Megalesia“ zum Feiertag dieser damals größten „Großen Mutter“ erklärt, doch durften römische Bürger nicht an den orgiastischen Kulten der phrygischen Priester teilnehmen. Im antiken Rom feierten die freien verheirateten Römerinnen, die Matronen, am 11. Juni im Tempel der Ceres das Fest „Matralia“ zu Ehren der oskischen Göttin Mater Matuta; sie brachten ihr als Opfergaben Kuchen dar und beteten für das Wohl der in der Familie heranwachsenden Kinder.
Mit dem Siegeszug des Christentums nach seiner Anerkennung als Staatsreligion im Römischen Reich statteten christliche Theologen die Mutter Jesu zu Ehren ihres göttlichen Sohnes mit den Eigenschaften und Attributen der großen Göttinnen der Antike aus. Auch setzten sie Maria der apokalyptischen Frau im Sternenkranz gleich und erklärten sie im Jahr 431 in Ephesus, dem bedeutendsten Heiligtum der Göttin Artemis, zur „Theotokos“, zur „Gottesgebärerin“. Die einfache jüdische Frau Miriam hätte sich in ihrem bescheidenen Leben diesen Aufstieg zu himmlischen Ehren nimmermehr träumen lassen. Nun aber erwuchs sie als jungfräuliche Mutter zur Königin des Himmels und der Erde, zur mütterlichen Fürsprecherin und Patronin aller Lebenden und Verstorbenen. Goethe prägte am Schluß seines gewaltigen „Faust“-Dramas den Satz: „Jungfrau, Mutter, Königin, Göttin, bleibe gnädig!“.
Jahrhunderte lang lautete eines der wichtigsten christlichen Stoßgebete: „Monstra te esse matrem“ – „Erzeige dich als Mutter“. Ihre Mutterrolle wurde in unzähligen Bildwerken betont: Maria nährt das göttliche Kind, sie weist auf ihre Brüste hin und verspritzt ihre Milch als Gnadenbeweis auf auserwählte Heilige, was bis heute unverständige religiöse Eiferer immer wieder zu Protesten und „Bildkorrekturen“ anstachelt. Die protestantischen Maler der Niederländischen Schule säkularisierten diese „Maria lactans“ und stellten an ihrer Stelle einfache junge Mütter aus dem Volk dar. In den katholischen Ländern aber ist Maria die „Himmelmutter“ geblieben. Eines unserer populärsten Marienlieder beginnt mit den Worten: „Segne du, Maria, segne mich, dein Kind! / Daß ich hier den Frieden, dort den Himmel find’!“ – Unter ihren weiten Schutzmantel flüchten sich Personen jeglichen Alters und Standes, um sich nach altem Recht als ihre Kinder legitimieren zu lassen. Ihr vertrauen die Gläubigen, denn Maria hat in ihrem irdischen Leben Freuden und Leiden einer Mutter durchlebt, sie ist ihrem Sohn noch in seiner Todesstunde beigestanden, sie versteht als „Mater dolorosa“ die Sorgen und Nöte der Menschen. Feiertage zu Ehren Mariens durchziehen das katholische Kirchenjahr, das Schott-Meßbuch von 1961 zählt noch sechzehn Marienfeste auf; außerdem ist ihr der Monat Mai und unter den Wochentagen der „Herz-Mariä-Samstag“ gewidmet. Unzählige Wallfahrtsorte und Heiligtümer sind der Großen Mutter der Christenheit geweiht. Zu Weihnachten 1997 wurde das Bild der Gnadenstatue von Mariazell unter dem Titel einer „Magna Mater Austriae“ als Sonderbriefmarke in alle Welt verschickt.
Maria wurde zum Leitbild der Männer und zum Vorbild der Frauen erklärt. Sie und ihre als heilig verehrte Mutter Anna galten seit dem Mittelalter als Idealbilder aller christlichen Mütter. Ihnen nachzueifern war jedoch den wenigsten Frauen möglich. Erstens war ihre durchschnittliche Lebenszeit zu kurz, und zweitens konnte sich eine tiefe Bindung zwischen Mutter und Kind bis weit ins 18. Jahrhundert nur in seltenen Fällen entwickeln. Die zahlreichen Schwangerschaften, das Kindbettfieber und die hohe Kindersterblichkeit waren dafür die wichtigsten Ursachen. Viele Kinder wuchsen in der Obhut von Stiefmüttern oder älterer Verwandter heran, wurden auch schon in jungen Jahren fremden Leuten zur Erziehung und Ausbildung übergeben. Ihre Einstellung zu den Eltern war von der Religion geprägt; Kinder hatten sich nämlich an das vierte Gebot zu halten, das in der Fassung des Katechismus lautet: „Du sollst Vater und Mutter ehren, auf daß du lange lebest und es dir wohl ergehe auf Erden“. Die Aufgabe einer Mutter bestand damals weniger in der Sorge um die leiblichen Kinder als vielmehr in der Leitung des gesamten Hauswesens und in der Fürsorge aller darin lebenden Personen. Sie war in erster Linie Hausmutter. Als solche ist sie bis zur Gegenwart noch im Bauernstand anzutreffen, doch kennt man diesen Mutterbegriff auch aus so unterschiedlichen Bereichen wie aus denen einer Landesmutter, Mutter Oberin, Herbergsmutter oder Puffmutter.
Im Zeitalter der Aufklärung verbesserte sich die Stellung der Mütter wesentlich. Eine vermehrte Hygiene, die Betreuung durch ausgebildete Geburtshelfer und Ärzte sowie die Einschränkung des weit verbreiteten Ammenwesens erhöhten die Überlebenschancen für Mutter und Kind. Als modern galten nun Mütter, die ihre Kinder selber stillten und die sich persönlich um deren Erziehung kümmerten. Als Vorbild aus der Geschichte wurde die Römerin Cornelia, die Mutter der beiden Gracchen, zitiert, denn sie hatte ihre Kinder als ihr wertvollstes Gut bezeichnet und die Söhne nach dem Tod ihres Mannes zum Wohl des römischen Staates erzogen. Seit dem Ende des 18. Jahrhunderts machte sich dazu noch ein Wandel innerhalb der bürgerlichen Gesellschaft positiv bemerkbar.
Als eine Folge der Industriellen Revolution verlagerte sich die Arbeit der Familienväter immer öfter auf Räume außerhalb des Wohnbereiches. Die Ehefrauen konnten sich deswegen auf Haushalt und Kindererziehung konzentrieren und zu Hause eine Privatsphäre aufbauen, in der jedes Mitglied der Familie als Individuum und nicht mehr nur wegen seiner Arbeitskraft geschätzt wurde. Kinder der oberen Gesellschaftsschichten waren fortan keine unfertigen kleinen Erwachsenen, sondern durften ihre Kindheit als eine eigene Periode ihrer Entwicklung erleben. Unter diesen Umständen konnten sich tiefere seelische Bindungen zwischen den Generationen entwickeln, im Jahreslauf gewannen die Familienfeste eine immer größere Bedeutung, und vor allem wurde die Liebe zwischen den Müttern und ihren Kindern kultiviert. In den guten Stuben wohlhabender Bürger hingen von nun an neben den Bildern von Maria und dem Jesuskind auch die Porträts der Ehefrauen mit ihren Sprößlingen. Zu Mutters Namensfest, zu Geburtstagen, Weihnachten und Neujahr gratulierten ihr die Kinder mit artigen Gedichten sowie sorgfältig geschriebenen Glückwunschbriefen und überraschten sie mit kleinen Geschenken. Die Mütter wiederum waren sich ihrer wichtigen Rolle in der Gesellschaft bewußt und wollten sie so gut wie möglich erfüllen. Unzählige populärwissenschaftliche und religiöse Almanache und Taschenbücher wurden zu Rate gezogen, Privatlehrer und Erziehungsinstitute auf ihre Güte geprüft, damit sich die lieben Kleinen gemäß ihren Anlagen und dem späteren Pflichtenkreis entwickeln konnten. Mädchen wurden schon allein durch ausgewähltes Spielzeug wie Puppen und Puppenstuben auf ihre künftige Rolle vorbereitet. Mütter genossen hohes Ansehen, ihre Stellung innerhalb der Familie verlieh ihnen Macht und Einfluß; die Anrede „Mutter“ war ein Ehrentitel der Frauen, allerdings nur dann, wenn sie rechtmäßig verheiratet waren.
Als eine der vielen Lobeshymnen auf die Mütter sei hier das bekannte Gedicht von Friedrich Wilhelm Kaulisch (1827–1881) in seinem vollen Wortlaut wiedergegeben:
„Wenn du noch eine Mutter hast,
so danke Gott und sei zufrieden;
nicht allen auf dem Erdenrund
ist dieses hohe Glück beschieden.
Wenn du noch eine Mutter hast,
so sollst du sie mit Liebe pflegen,
daß sie dereinst ihr müdes Haupt
in Frieden kann zur Ruhe legen.
Denn was du bist, bist du durch sie;
sie ist dein Sein, sie ist dein Werden,
sie ist dein allerhöchstes Gut
und ist dein größter Schatz auf Erden.
Des Vaters Wort ist ernst und streng,
die gute Mutter mildert’s wieder;
des Vaters Segen baut das Haus,
der Fluch der Mutter reißt es nieder.
Sie hat vom ersten Tage an
Für dich gelebt mit bangen Sorgen;
Sie brachte abends dich zur Ruh
Und weckte küssend dich am Morgen.
Und warst du krank, sie pflegte dein,
den sie mit tiefem Schmerz geboren,
und gaben alle dich schon auf –
die Mutter gab dich nicht verloren.
Sie lehrte dich den frommen Spruch,
sie lehrte dich zuerst das Reden,
sie faltete die Hände dein
und lehrte dich zum Vater beten.
Sie lenkte deinen Kindessinn,
sie wachte über deine Jugend;
der Mutter danke es allein,
wenn du noch gehst den Pfad der Tugend.
Wie oft hat nicht die zarte Hand
Auf deinem lock’gen Haupt gelegen!
Wie oft hat nicht ihr frommes Herz
Gefleht für dich um Gottes Segen!
Und hattest du die Lieb verkannt,
gelohnt mit Undank ihre Treue:
die Mutter hat dir stets verziehn,
mit Liebe dich umfaßt aufs neue.
Und hätte selbst das Mutterherz
Für dich gesorget noch so wenig,
das Wen’ge selbst vergiltst du nie,
und wärest du der reichste König!
Die größten Opfer sind gering
für das, was sie für dich gegeben;
und hätte sie vergessen dich,
so schenkte sie dir doch das Leben.
Und hast du keine Mutter mehr,
und kannst du sie nicht mehr beglücken,
so kannst du doch ihr frühes Grab
mit frischen Blumenkränzen schmücken.
Ein Muttergrab, ein heilig Grab,
für dich die ewig heil’ge Stelle!
Oh, wende dich an diesen Ort,
wenn dich umtost des Lebens Welle.“
Das Idealbild der oberen Gesellschaftsklassen strahlte im 19. Jahrhundert auch in die ärmeren Schichten der Bevölkerung aus; ihm nahezukommen wurde den Müttern aus dem Arbeiterstand jedoch sehr schwer gemacht. Zu groß war die Diskrepanz zwischen den bürgerlichen Wunschvorstellungen und den Lebensbedingungen in der rasch wachsenden Arbeiterschaft. Frauen aus dem Proletariat waren durch das geringe Einkommen ihrer Männer finanziell nicht abgesichert, sie mußten oft- schlecht bezahlte Lohnarbeit außer Haus annehmen, um sich und ihre Familie ernähren zu können. Kinder bedeuteten Last, Sorge und Not. Jede neue Schwangerschaft verschlimmerte die Situation. Ledige Mütter hatten es noch schwerer, sodaß sie sich immer wieder zur Abtreibung oder Kindesweglegung gezwungen sahen; eine Geburtenkontrolle war in diesen Kreisen nahezu unbekannt. Daß es den Frauenrechtlerinnen in den letzten Jahrzehnten des 19. Jahrhunderts gelang, einen mehrwöchigen Schutz für junge, schwer arbeitende Mütter und die Bezahlung eines geringen Wochengeldes zu erreichen, galt bereits als großer Erfolg. Es mangelte aber noch jahrzehntelang an einer verläßlichen Kinderbetreuung. Wenn keine gutmütige Nachbarin bereit war, auf die Kleinen aufzupassen, so waren sie sich tagsüber selbst überlassen, und kaum waren sie fähig zu Hilfsdiensten, so mußten auch sie arbeiten, um sich ihr tägliches Brot zu verdienen. In einem solchen Milieu konnten sich kaum jemals zarte Beziehungen zwischen Mutter und Kind entwickeln.
Mit den schrecklichen Ereignissen des Ersten Weltkrieges verschlechterte sich in Europa die wirtschaftliche Situation der Mütter aller Gesellschaftsschichten mit einem Schlag. Unzählige Väter, Ehegatten und Söhne starben. Nun mußten die hinterbliebenen Frauen Männerarbeit leisten, um sich, die Kinder und die Alten durchzubringen. Den Müttern gebührte wegen ihrer mehrfachen Belastung, ihrem Mut und Fleiß größter Dank und höchste Anerkennung, und zwar unabhängig von ihrem gesellschaftlichen Stand. Das war der Zeitpunkt, in dem sich ein Festtag etablieren konnte, der einige Jahre zuvor in den Vereinigten Staaten von Amerika entstanden war – der Muttertag.
Die Entstehung dieses Feiertags geht auf das persönliche Erlebnis einer jungen Amerikanerin zurück. Ann Jarvis, die Tochter einer Frauenrechtlerin und eines Methodistenpredigers in Philadelphia, West Virginia, verlor nach dem frühen Tod des Vaters auch ihre geliebte Mutter, und zwar im Jahr 1905 am zweiten Sonntag des Monats Mai. Mit ihrer Schwester zusammen gedachte Ann am Jahrestag des Todes ganz besonders herzlich ihrer Mutter, stellte Blumen unter ihr Bild und zündete eine Kerze an. Diese private Feier dünkte ihr aber noch zu gering, denn ihre Mutter war allgemein beliebt und geachtet gewesen; sie hatte sich um die Belange von bedürftigen Frauen gekümmert, eine „Mothers’ Work Association“ gegründet und „for better mothers, better homes, better men and women“ gekämpft. Miss Jarvis berief am 12. Mai 1907 ein „Mother’s Day Meeting“ ein und warb für einen allgemeinen Gedenktag für alle Mütter. Ein Jahr darauf wurde in der Methodistenkirche zu Philadelphia am zweiten Sonntag im Mai ein Muttertagsgottesdienst gefeiert. Mit Eifer verbreitete die junge Frau ihren Muttertagsgedanken, und es gelang ihr, auch führende Politiker darauf aufmerksam zu machen. Tatsächlich erklärte Präsident Wilson im Jahr 1914 den zweiten Sonntag im Mai zum jährlichen allgemeinen „Muttertag“. Die Bevölkerung nahm den neuen Feiertag bereitwillig an.
Wenngleich der Muttertag auf die Initiative einer einzelnen Frau zurückgeht, so war er nicht ihre Erfindung allein. Unter den Einwanderern aus Europa lebten manche Bräuche aus der alten Heimat fort, die sich an Sippenfeste während des Frühlings knüpften. Da kamen die Familien zusammen, tauschten Neuigkeiten aus und erfreuten sich an Speise und Trank. Der wichtigste Wegbereiter des neuen amerikanischen Brauches stammt aus Großbritannien und heißt „Mothering Sunday“; mit einer Ehrung der Mütter hat er ursprünglich allerdings nur wenig zu tun. Der britische Brauch ist an den vierten Sonntag der österlichen Fastenzeit gebunden, welcher wegen seines frohen Charakters inmitten der enthaltsamen Wochen „Sonntag Laetare“ heißt. Der Introitus der Sonntagsmesse beginnt mit den Worten: „Freu dich, Jerusalem! Kommt alle zusammen, die ihr es liebt; froh überlaßt euch der Freude, die ihr traurig wart; frohlocken sollet ihr und satt euch trinken an der Tröstung Überfülle, die euch quillt. Wie freute ich mich, da man mir sagte: Wir ziehen zum Hause des Herrn.“ In der Epistel, einer Briefstelle des Apostels Paulus an die Galater, wird das himmlische Jerusalem unser aller Mutter genannt. Das Evangelium erzählt schließlich von der wunderbaren Brotvermehrung am See Genesareth.
Diese drei Textstellen bildeten die Grundlage des „Mothering Sunday“, der sicher schon vor das 17. Jahrhundert zurückgeht. Nach dem alten Kirchenrecht war jeder mündige Christ verpflichtet, wenigstens einmal im Jahr zur österlichen Zeit die Sakramente der Beichte und Kommunion zu empfangen, und zwar wegen der besseren Kontrolle durch die Geistlichen in der jeweiligen Heimatpfarre. Als Termin bot sich der Sonntag „Laetare“ als dazu besonders geeignet an. Alle Leute, die in der Fremde im Dienst standen, bekamen Urlaub, um sich an diesem Tag in der Mutterkirche einfinden zu können. Als Speiseopfer wurden Brote auf den Altar gelegt, gesegnete Brote wurden nach Hause mitgenommen, Kirchgänger, die einen weiten Weg hinter sich hatten, bekamen zu essen und zu trinken. Für diesen Sonntag war das strenge Fastengebot aufgehoben, man durfte auch Fleisch und Eier nach Herzenslust genießen. Wenn die Christenpflicht erfüllt war, besuchten die Auswärtigen ihre Familien. Dienstmädchen hatten mit Erlaubnis ihrer Herrschaft einen Kuchen aus feinem Semmelmehl, den „Simnel Cake“ mit Früchten und Zuckerguß, für ihre Mutter gebacken, sonst konnten die jungen Leute ihren Eltern als Zeichen der Dankbarkeit meistens nur kleine Andenken und Geschenke von geringem Wert mitbringen; wichtig war ihnen allen das Zusammensein. Ein weit verbreiteter Spruch dazu lautet: „On Mothering Sunday above all other / Every child should dine with its mother“. Als später der Sakramentenempfang auch außerhalb der Heimatpfarre möglich wurde, war der Brauch bereits so beliebt, daß er sich nach einem Höhepunkt im 18. Jahrhundert in manchen Gegenden bis ins frühe 20. Jahrhundert halten konnte. In England wurde der „Mothering Sunday“ im Jahr 1914 wiederbelebt und deckte sich schließlich mit dem aus den USA importierten „Mother’s Day“, doch gilt als Termin weiterhin der Sonntag „Laetare“.
Einige europäische Länder übernahmen die Feier des Muttertags schon bald nach dem Ende des Ersten Weltkriegs. In Schweden wurde er zum Beispiel im Jahr 1919 eingeführt, kurz danach in Dänemark, in Deutschland ist er seit 1922 bekannt. Einzelne Persönlichkeiten propagierten ihn, Organisationen wie Volksbildungsvereine, Schulen und Kindergärten halfen ihn vorzubereiten. In Österreich wurde der Muttertag 1924 auf Anregung von Frau Marianne Hainisch, der Mutter des damaligen Bundespräsidenten, und der ihr nahestehenden Frauenorganisationen eingeführt. Nicht in allen Ländern wird er am zweiten Sonntag im Mai gefeiert, aber überall wird er kommerziell ausgeschlachtet. Von Anfang an waren die Blumenhändler an ihm interessiert, dann die Verkäufer von Süßwaren, Bekleidung, Porzellan, Parfums und Schmuck. So sehr sich Ann Jarvis – sie starb 1948 – über die rasche Verbreitung ihres Muttertags in etwa fünfzig Ländern freute, so sehr grämte sie sich auch über die mit ihm verbundene Geschäftemacherei. Für sie war der Gedenktag in erster Linie ein Tag des Dankes an die Mutter und auch an Gott. Daher entstand die Tradition eines Muttertagsgottesdienstes, daher benützte man religiöse Motive als Bilderschmuck der ersten Muttertagskarten.
Beispiele aus drei Ländern sollen den halb sakralen Charakter des Muttertags in seiner Frühzeit aufzeigen: Im Mai 1913 erhielt eine Mrs. Hankey in Akron, Ohio, von ihrem Pastor eine Bildpostkarte, die einen eleganten Strauß weißer Nelken mit der Überschrift „Mother’s Day“ zeigt, mit folgendem Text zugeschickt: „Dear Friend, – Grace Reformed Church will observe Mother’s Day, Sunday, May 11th. We would like you present at both the 9:00 and the 10:30 o’clock services. Dr. J. H. Bomberger of Cleveland and Rev. Henry Reagle of Bangor, Pa., will speak at these services. Come and bring your friends …“
Nächstes Beispiel: Die Erziehungs- und Schulorganisation der Katholiken Österreichs, Wien I. Stephansplatz 6, gab ein „Gedenkblatt für den Tag der Mutter“ heraus – eine färbige Bildpostkarte mit Maria und dem Jesuskind; der Monat Mai ist ja der Muttergottes geweiht. Ein ähnliches Bild aus dem Jahre 1926 ziert einen gefalteten Gebetszettel, dessen linke leere Innenseite Platz für Eintragungen zu einem „geistlichen Blumenstrauß“ bietet; die leibliche Mutter stand also weiterhin im Schatten Marias. – Drittes Beispiel: Die „Ligue Féminine d’ Action Catholique Française“ verteilte kleine Gebetszettel mit einem Bild der hl. Familie und frommen Aussprüchen über opferbereite Mütter als „Souvenir de la Fête des Mères“. In Frankreich ist der dort seit 1929 bekannte Muttertag übrigens nicht der erste Festtag zu Ehren der Mütter. Im Französischen Revolutionskalender, der bis 1806 galt, wurde im Frühling am 10. Tag des Monats Prairial – am 28., 29. oder 30. Mai (abhängig von der Herbst-Tagundnachtgleiche in Paris, nach der sich der Jahresbeginn jeweils richtete) – das Fest „La Tendresse Maternelle“ gefeiert. Der vorangehende Festtag war der väterlichen Liebe gewidmet, die dem Mutterfest folgenden Feiertage den Kindern. In Italien feiert man anstelle des Muttertags einen „Mutter-und-Kinder-Tag“ am 24. Dezember.
Der Muttertag war von Anfang an ein Festtag der Städter. Er wird seit seiner Einführung in Österreich und Deutschland auf gleiche oder ähnliche Weise begangen, was seinen Grund darin hat, daß seine Feier frühzeitig von Organisationen festgelegt wurde. In Deutschland veröffentlichte die „Arbeitsgemeinschaft für Volksgesundung“ im Jahr 1927 für die Kinder folgende 10 Gebote als Behelf zur Gestaltung des Muttertags:
Nimm der Mutter am Sonntag alle Arbeit ab, damit sie einen Feiertag hat.
Stelle frühmorgens Blumen ans Lager oder auf den Tisch.
Schicke ihr, wenn Du fern von ihr weilst, einen Brief, eine Karte, füge eine Aufmerksamkeit bei.
Gehe zum Friedhof, wenn dort Deine Mutter liegt oder eine andere Mutter, die zu Deinem Verwandtenkreis gehört, und wie am Totensonntag düstere Kränze niedergelegt werden, so schmücke das Grab mit den Blüten des Frühlings.
Horche Dich um in der Nachbarschaft, wo eine Mutter Not und Sorge leidet, sage ihr tröstende Worte, drücke ihr die Hand und biete ihr sonst eine Aufmerksamkeit.
Weißt Du eine Mutter im Krankenhaus, im Siechenhaus, im Altersheim, gedenke ihrer. Frage nicht, ob andere dazu verpflichtet sind.
Wenn Du auf der Straße ein altes Mütterchen siehst, gehe zu ihr und erweise ihr eine Freundlichkeit oder schenke ihr eine kleine Gabe, wenn es nötig ist.
Nimm einer Mutter, gleichviel ob jung oder alt, Lasten ab, geleite sie, stürze sie, wenn es nottut.
Wirb jetzt und am Muttertag selbst für den Gedanken, setze ihn in die Tat um und sorge, daß es auch andere tun.
Nimm Dir fest vor, Deine Mutter und alle deutschen Mütter auch in Zukunft stets zu achten, zu ehren und zu unterstützen, immer und alle Tage – wie am Muttertage. Sorge dafür, daß auch andere es tun. Dann wird der Muttertag ein Segen für das deutsche Volk werden!
Nach dem Ersten Weltkrieg war die Geburtenrate drastisch gesunken, sodaß eine allgemeine Aufwertung von Familie und Mutterschaft für den Bestand des Staates notwendig geworden war. Das Lob der Mütter wurde nun auch vermehrt in der Unterhaltungsmusik gesungen: „Mammy, für mich bist du die schönste Frau der Welt!“ hieß es zum Beispiel in einem Schlager des Jahres 1927. Und 1936 entstand das „Lied im Volkston“: „Wenn ich groß bin, liebe Mutter, werd’ ich alles für dich tun, und dann haben deine Hände endlich Zeit, sich auszuruhn.“ Das deutsche Volk ehrte seine Mütter zur Zeit des Dritten Reiches durch weitere, allen sichtbare Auszeichnungen. Gebärfreudige Mütter erhielten das Mutterkreuz in verschiedenen Ausführungen: aus Bronze für vier bis fünf Kinder, aus Silber für sechs bis sieben, aus Gold für acht und mehr Kinder. Die Glückwunschkarten zum Muttertag zeigten demnach kräftige junge Mütter inmitten fröhlich spielender Kinder, wogegen in der Zwischenkriegszeit und dann wieder nach dem Zweiten Weltkrieg auch Mütter mit schlohweißem Haar, oft müde im Lehnstuhl sitzend, abgebildet wurden. Ein Brief in ihrer Hand und die Vase voll Blumen auf dem Tisch durften aber nicht fehlen. Gratulierende Kinder stellen sich seit Jahrzehnten mit dem üblichen Blumenstrauß und einem Kuchen ein, ihre Glückwunschverse sind den Geburts- und Namenstagsgedichten zum Verwechseln ähnlich; die Auswahl der Blumen – Rosen, Nelken, Maiglöckchen, Vergißmeinnicht, Tränendes Herz – folgt der altbekannten Blumensprache. Obgleich die Glückwunschkarten für den Muttertag erst geschaffen werden mußten, sind sowohl ihre Hersteller als auch ihre Empfänger anscheinend mit den aus dem vorigen Jahrhundert [19. Jahrhundert] überlieferten Motiven zufrieden.
Die seit seinem Entstehen beinahe gleichbleibende Gestaltung des Muttertags birgt die Gefahr der Erstarrung in sich, es sind ja auch noch immer dieselben Institutionen (Kindergarten, Schule, Jugendorganisationen, Kirche) und die Geschäftsleute an seiner Vorbereitung beteiligt. Das Fest nützt sich ab. Mütter und Kinder werden in eine Rolle gedrängt, die sie oft gar nicht mehr spielen wollen. Die Schwerpunkte im Leben der Frauen unserer Gesellschaft haben sich in den letzten Jahrzehnten wesentlich verschoben. Vielen berufstätigen Frauen ist es nun möglich, ein von einem Ehemann finanziell unabhängiges Leben zu führen. Heirat und Mutterschaft sind also nicht mehr ihre einzigen Lebensziele. Die Aufzucht der Kleinkinder ist infolge der vorgefertigten Nahrung, der Bekleidungs- und Hygieneartikel weniger mühsam als früher und benötigt nicht mehr die ständige Anwesenheit der Mutter. Eine verantwortungsvolle Geburtenkontrolle kann unerwünschte Schwangerschaften verhindern. Außerdem bringt es die höhere Lebenserwartung mit sich, daß viele Frauen für neue Aufgaben frei werden, sobald ihre Kinder erwachsen sind. Leider gestalten sich die Beziehungen zwischen den Generationen nicht immer harmonisch, und dann stimmt auch das überlieferte Bild vom lieben, treu sorgenden Mütterlein und den ewig dankschuldigen Kindern nicht mehr. Werbefachleute preisen zwar alle Jahre wieder teure Geschenke zum Muttertag an, doch kann kein Luxusartikel eine fehlende Zuneigung ersetzen.
Baker, Margaret: „Folklore and Customs of Rural England“, Country Paperback from David & Charles, Brunel House, Newton Abbot, Devon, 1988.
Duby, Georges – Perrot, Michelle: „Geschichte der Frauen“, Bd. 5 / 20. Jh., Campus-Verlag, Frankfurt–New York, 1995.
„Familie. Ideal und Realität“, Katalog der niederösterreichischen Landesausstellung auf der Riegersburg 1993, Verlag Berger, Horn, 1993.
„Funk & Wagnalls Standard Dictionary of Folklore, Mythology and Legend“, Vol. 2, Funk & Wagnalls Comp., New York, 1950.
König, Angelika und Ingemar: „Der römische Festkalender der Republik“, Reclam 8693, Stuttgart, 1991.
Meier, John: „Muttertag“ (in: Zeitschrift für Volkskunde, 46. Jg. 1936/37, Neue Folge, Bd. 8, de Gruyter & Co., Berlin, 1938).