Der Akt des Gebärens ist in unserem Denken nicht nur auf menschliche und tierische Lebewesen beschränkt. Auch Ideen werden geboren, haben einen Anfang, der irgendwo im Dunkeln liegt. Manche werden verworfen, ausgeschieden wie unbefruchtete Eier, andere werden fruchtbar und erblicken nach einer gewissen gedanklichen Reifezeit das Licht der Welt. Für die uns umgebende Dingwelt pflegen wir ebenfalls die Metapher des Lebenslaufs zu verwenden. Auch Sachen haben einen Anfang und ein Ende, werden erdacht, hergestellt, benützt und irgendwann abgelegt, bevor sich ihre materielle Existenz durch Verbrennung oder Verwesung wieder verliert. Vor dem endgültigen Verschwinden landen die abgelegten Dinge jedoch auf dem Müll oder im Museum, je nachdem, welche Bedeutung ihnen nach der jeweiligen aktiven Phase des Gebrauchs zuerkannt wird.
Über das Verhältnis von Menschen und Dingen wurde in den Kulturwissenschaften schon viel nachgedacht.[1458] Ich verwende den Terminus Kulturwissenschaften deshalb, weil er unserer gegenwärtigen Herangehensweise an wissenschaftliche Fragestellungen und Themen besser entspricht. Die Volkskunde hat „den Paradigmenwechsel der Geschichtswissenschaften hin zu einer historischen Kulturwissenschaft, deren zentrales Interesse sich nicht (mehr) allein auf Fakten, sondern auf Bedeutungen richtet“[1459], mitvollzogen. Kulturwissenschaftliches Arbeiten impliziert dabei eine fächerübergreifende Orientierung und einen weit gefassten Kulturbegriff, dessen begriffliche Eingrenzung und Disparatheit zwar umstritten sind, der jedoch gerade aus dieser definitorischen Offenheit ständig innovatives Potential generiert.[1460]
Aus den allein in den ethnologischen und anthropologischen Bereichen inzwischen angeblich einigen Hundert unterschiedlichen Definitionen von Kultur und Denkfiguren zu kulturellem Handeln wähle ich für meine Einführung jene von Friedrich Tenbruck. Er umschreibt Kultur als „alles, was durch menschliches Handeln entsteht und deshalb Bedeutungen enthält. Alle unsere Handlungen und deren Produkte – die materielle Kultur wie die sozialen Erscheinungen und die geistigen und künstlerischen – sind Kulturerscheinungen, weil sie mit Bedeutung behaftet sind, wie umgekehrt alles, was Bedeutung enthält, zur Kultur rechnet“.[1461] „Gesellschaft“, fügt Heidemarie Uhl in ihrem kürzlich erschienenen Beitrag zur so genannten „kulturwissenschaftlichen Wende“ in den Geschichtswissenschaften an, „ist in diesem Sinne nichts anderes als die soziale Funktion von Kultur“. Die Kategorie der „Bedeutung“ werde mit jenen gesellschaftlichen Rahmenbedingungen verschränkt, in denen diese „Bedeutungen“ generiert werden.[1462]
Hans Albrecht Hartmann und Rudolph Haubl sprechen in ihrer Einführung zum Sammelband „Von Dingen und Menschen“ von den materialisierten Erlebnis- und Handlungspotentialen der Dinge und von deren ökologischen, ökonomischen, technischen, kulturellen, gesellschaftlichen, ästhetischen, und psychischen Entwicklungsdimensionen[1463] sowie von einem soziokulturellen System, das Dinge und Menschen gemeinsam bilden.[1464] Diese Gedanken lassen sich trefflich weiterspinnen, wenn man über „aller Anfang“ und „alle Anfänge“ nachdenken will, über jene der Menschen, der Ideen und der Dinge.
Bei der Vorbereitung einer Ausstellung zum Thema Geburt stellen sich zunächst einmal viele Fragen ein: Wie geht man an eine derart komplexe Materie angemessen heran? Kann das Medium Ausstellung dieser Thematik gerecht werden? Wo könnten die museologischen Zugänge zu finden sein? Wovon sprechen wir überhaupt, wenn wir das Wort Geburt verwenden? Von einem physischen Ereignis, einem medizinisch dominierten Vorgang, einer kulturell geprägten Handlung?
Was im Begleitbuch zur Ausstellung „Sex. Vom Wissen und Wünschen“, welche 2001 im Deutschen Hygiene-Museum in Dresden gelaufen ist, über Sex gesagt wird, kann man zum Teil auch auf die Geburt übertragen. „Sexualität“, heißt es hier – und der Befund ist keine Überraschung – „ist kein Naturereignis, sondern konstruiert, kulturell kodiert und gesellschaftlich geregelt, dadurch aber auch ausstell-, erforsch- und archivierbar.“[1465] Dieser Ansatz war auch für unsere Arbeit am Projekt „Aller Anfang“ gültig. Die Ausstellbarkeit des Themas Geburt und der zu archivierende Ertrag der Ausstellung lassen sich nun an ihrem Ende als absolut positiv bilanzieren. Dies verdanken wir unter anderem der Transdisziplinarität des Projektansatzes und der gesellschaftlichen Wahrnehmung und öffentlichen Aufmerksamkeit, die dem Geburtsthema derzeit entgegengebracht wird.
Die Volkskunde beschäftigt, von ihrem Fachverständnis her, das gesellschaftliche und kulturelle Umfeld des Themas Geburt am stärksten, doch zu einem ganzen Bild fügt sich dieses Umfeld erst durch die Einbeziehung des medizinischen, psychologischen und sozialanthropologischen Blicks und seiner historischen Dimensionen. Künstlerische Positionen können zu diesem „ganzen Bild“ ebenfalls einen wertvollen Beitrag leisten, denn in ihnen drücken sich nicht nur persönliche Sichtweisen, sondern auch die jeweiligen zeitgenössischen Wertungen und Werthaltungen aus. Erst die unterschiedlichen disziplinären Zugänge und deren Verknüpfung machen aus der „Kopfgeburt“ einer Geburtsausstellung ein sinnvolles Projekt. Als Geburtshelfer können dabei Menschen und Dinge gleichermaßen hilfreich sein.
Es lohnt sich, auf die wichtigsten Entwicklungslinien volkskundlicher Zugänge zum Thema noch einmal hinzuweisen.[1466] Da finden wir zu Beginn des 20. Jahrhunderts einmal das Konzept der Rituale des Übergangs, der „rites de passage“, das auf den französischen Ethnografen Arnold van Gennep zurückgeht. Dessen theoretischer Ansatz besagt, dass es im Leben des Einzelnen wie der Gesellschaft Grenzsituationen und Übergänge gibt, die durch bestimmte Symbole und Rituale markiert werden, die den lebensgeschichtlichen oder sozialen Wechsel erleichtern sollen.[1467] Die Geburt ist so ein Übergang, eine Grenzüberschreitung in eine neue Ordnung und bot damit der klassischen Brauchforschung ein attraktives Feld. Der soziale Übergang vom Paar zur Familie und die rituelle Aufnahme des Kindesin eine Glaubensgemeinschaft bildeten dabei markante Stationen.
Weitere Ansatzpunkte der Beschäftigung mit Themen wie Fruchtbarkeit, Schwangerschaft, Geburt und Wochenbett lagen auf den Gebieten Volksmedizin sowie Volks- und Aberglauben. Das tradierte Wissen der Hebammen, das mit dem Abkommen der Hausgeburten zu verschwinden drohte, interessierte die Ethnografie gleichermaßen. Soziale Fragestellungen und Geschlechterdifferenzierungen ergriffen im Fach dann in den 70er- und 80er-Jahren des vergangenen Jahrhunderts Platz und veränderten damit auch den wissenschaftlichen Blick auf unser Thema. Doch insgesamt hatte es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts keine besondere Konjunktur, was sich jedoch in den 90er-Jahren auffallend änderte.
Die Anstöße dazu kamen jedoch aus anderen Fächern als der Volkskunde bzw. Europäischen Ethnologie oder empirischen Kulturwissenschaft, und diese hängen – genauso wie die diversen Änderungen der Fachbezeichnung – mit dem Paradigmenwechsel in den Geisteswissenschaften zusammen und gingen mit der programmatischen Aufhebung der Fächergrenzen einher. Wir operieren nun in einem diffusen Bereich von Kulturwissenschaften, in dem alle mehr oder weniger die gleichen Forschungsfelder für sich beanspruchen. Dies hat einerseits die gegenseitige Konkurrenz erhöht, andererseits aber auch die Durchlässigkeit der Disziplinen und die Kooperationsmöglichkeiten.
Diese Entwicklung hat nun Publikationen wie „Rituale der Geburt“ (1998) oder „Geschichte des Ungeborenen“ (2002) hervorgebracht, die die Resultate einer mehrjährigen Zusammenarbeit von Wissenschaftlern und Wissenschaftlerinnen verschiedener Länder und Disziplinen zusammenfassen. Daneben sind Monografien oder Sammelbände von Autorinnen wie Eva Labouvie oder Barbara Duden erschienen, die im ersten Fall eine neue „Kulturgeschichte der Geburt“ vorgelegt hat (2000) und im zweiten „Historisches zum Frauenkörper“ (2002) resümiert, das immer auch mit seiner Reproduktionsfunktion zu tun hat.
Neben diesen beiden bekannten Namen schienen in den letzten paar Jahren eine Reihe weiterer Autorinnen auf, die sich in Büchern und Aufsätzen mit Spezialthemen zu Wort gemeldet haben, wie etwa Marita Metz-Becker und Verena Pawlowsky zur beginnenden Institutionalisierung der Geburtshilfe und damit zur medikalisierten Verwaltung des Frauenkörpers.[1468] Auffallend ist der Anteil an Beiträgen in skandinavischen und nordosteuropäischen ethnografischen Zeitschriften, was vermutlich mit dem höheren Stellenwert des Geburtsthemas im öffentlichen Bewusstsein dieser Länder zusammenhängt.[1469] Interessant sind auch Zugänge von ganz anderen Seiten, wie etwa ein Beitrag über „das mystifizierte Warten auf ein Kind“ in einem Sammelband von Recherchen zu einer Anthropologie des Wartens und der Erfahrung von Zeit an sich.[1470]
Und schließlich kann man nun in der unmittelbaren Gegenwart geradezu von einem Boom an einschlägigen Ausstellungen sprechen,[1471] die unabhängig voneinander entstanden sind, jedoch keineswegs unabhängig von den gegenwärtigen gesellschaftlichen und naturwissenschaftlichen Entwicklungen außerhalb des Kulturbetriebes. Im ORF gibt es eine regelmäßige Sendung mit dem Titel „Thema“, deren Moderator jedes Mal im Abspann mitteilt, dass Thema sagt, was Thema ist. Doch nicht nur der ORF sagt uns, was Thema ist, sondern die Medien insgesamt, im Printformat wie in den digitalen Netzen. Für die Ausstellung „Aller Anfang“ im Österreichischen Museum für Volkskunde (2002) wurde im Vorfeld eine einjährige Printmedienbeobachtung durchgeführt und eine Internetrecherche. Beide haben eine Fülle von Material zutage gefördert und gezeigt, dass kaum ein Tag vergeht, ohne dass der Öffentlichkeit Neues über Reproduktionstechnologien, über Kinderwunsch und Wunschbabies, oder „neue Erkenntnisse über die wichtigsten Stunden des Menschen“[1472] nahe gebracht werden. Umgekehrt zeigen vermehrt neue Publikationen, Ausstellungen und andere Wissenschaftsrepräsentationen in der Öffentlichkeit die entsprechenden Reaktionen der berichtenden Medien.[1473]
Die Fragen um Empfängnis, Schwangerschaft, Geburt und die unmittelbare Zeit danach sind jedenfalls ein heute viele Menschen interessierendes Thema, und damit es nicht bloß eines der Medizin und Biowissenschaften wird, die sich inzwischen zu einem globalen Wirtschaftsfaktor entwickelt haben, sondern eines der Kultur und der Menschenwürde, dazu sind wir in unserem Ausstellungsprojekt unter anderem angetreten.
Die elektronische Weihnachtspost 2001/2002 brachte mir eine animierte Grußkarte zum Fest Epiphanie auf den Bildschirm. Weibliche Heilige Drei Königinnen schwebten von rechts ins Bild, darüber erschien ein Fragesatz („What would have happend if it had been the three Wise Women instead of three Wise Men?“) und nacheinander wurden sechs mögliche Handlungsmuster ins Bild gesetzt zur fiktiven Annahme: „They would have asked directions …“, „arrived on time …“, „helped deliver the baby …“, „cleaned the stable“, „brought practical gifts …“, „and made a casserole“.
Die Satire dieser Botschaft kann erst funktionieren, seit der Geschlechterdiskurs in seiner modernen Form im Gange ist und die populäre Psycho-Literatur die kognitiven und semantischen Voraussetzungen zum Verständnis der einzelnen, durch Text und Bild bzw. entsprechende Piktogramme transportierten Verhaltensmuster geschaffen hat. Vor allem dadurch, dass die Handlungsstereotype bekannt und gängige Praxis sind bzw. waren, werden sie verständlich. Frauen hätten (im Gegensatz zu Männern, wird unterstellt) keine Probleme damit, im unbekannten Terrain nach der Richtung zu fragen, und Frauen pflegten pünktlich zu sein.
Was aber im Zusammenhang mit unserem Thema mehr interessiert, sind die vier Komponenten rund um die Geburt des Jesuskindes, von der hier die Rede ist, ohne dass das Ereignis angesprochen werden müsste. Wären die Besucher Frauen gewesen, wären sie nicht nur rechtzeitig zur Niederkunft da gewesen, sondern sie hätten auch bei der Geburt des Kindes assistiert, nachher bei der Hausarbeit geholfen, hätten praktische Geschenke mitgebracht und für die Wöchnerin eine Speise bereitet. Es werden also etliche jener Elemente angesprochen, die Geburten in traditionellen Gesellschaften zu begleiten pflegten: die Geburtshilfe von Frau zu Frau, die Entlastung der Wöchnerin nach der Geburt, das Reichen der klassischen Wöchnerinnensuppe und das Beschenken von Mutter und Kind.
Gäbe es nicht noch Probleme mit der Archivierung elektronischer Text- und Bildwerke[1474], so ginge diese „Weihnachtskarte“ gewiss in die Sammlungen des Österreichischen Museums für Volkskunde ein. Sie repräsentiert eine Kulturtechnik der Gegenwart, ist ein polyvalentes Zeugnis menschlicher Kommunikation und ihr Inhalt enthält eine Reihe von Fragen, die sich unter vergleichender Zuhilfenahme historischer Sammlungsbestände auf verschiedene Weise interpretieren lassen.
Die digitale Karte entspricht auch Kriterien der populären Kreativität, wenn man diese Klassifizierung für ein modernes Produkt in dieser Form gelten lassen will. Sie ist irgendwo zwischen den Kategorien Bilderzählung, Witz und Kommunikation angesiedelt. Die Gestaltung ist einfach, bedient sich aber des derzeit modernsten und gängigsten Mediums. Die Spuren des Herstellers, der Herstellerin verlieren sich im Zuge der massenhaften Verbreitung, doch es ist ein gewisses Maß an „Volkswissen“ nötig, um die Botschaft entschlüsseln zu können. Mit dem Versenden dieser Weihnachtskarte wird neben der Grußbotschaft eine weitere ästhetische Text-Bild-Botschaft transportiert, die auf klassische Muster zurückgreift.
Die Verbreitung eines derart karikierten Inhalts einer religiös verankerten Botschaft wie der Visite der drei Weisen beim neugeborenen Heiland, ist erst in der gegenwärtigen säkularisierten westlichen Welt denkbar. Mit dem Aufbrechen der Frauen- und Genderforschung in den historischen Fächern und den Kulturwissenschaften kamen auch die männlich dominierten Religionen ins Schussfeld der Kritik. Doch dieser Aspekt soll hier nicht weiter verfolgt werden. Das Interessante an unserer Weihnachtskarte ist einerseits die Verbindung von Religion und Geburt, ein seit der Antike bekanntes Begriffspaar in unterschiedlichen Glaubensvorstellungen und andererseits die Verwendung traditioneller Handlungsmuster rund um die Geburt, deren Kenntnis in unseren Breiten aufgrund der Verschiebung der Hausgeburten zugunsten der Klinikgeburten allerdings im Schwinden begriffen ist.
Die Ergebnisse der Ausstellung „Aller Anfang“ zeigen die Zugänge zum Thema über Religion, Philosophie, Ritual und Kunst, und dazu können wir getrost noch die Genres Literatur, Film, Fotografie, Medienkunst und sogar Musik hinzufügen.[1475] Hier können allerdings bloß einige Streiflichter geworfen und Beispiele aus den Sparten bildende Kunst und Literatur gebracht werden, wobei die Fächergrenzen wieder einmal verschwimmen werden.
Eva Labouvie teilt den Lesern in der Einführung zu ihrer Kulturgeschichte der Geburt mit, dass sie lange über die Wahl des Titelbildes für ihr Buch nachgedacht hat. Es ist „Die Hoffnung I“ von Gustav Klimt, ein bis zum Ende des 19. Jahrhunderts selten in der Geschichte der Kunst dargestelltes Aktbild einer Schwangeren.[1476] Eben solange haben wir nachgedacht und diskutiert über die Wahl unseres Leitbildes für die Ausstellung, das Plakat, das Cover des Kataloges. Unsere Wahl fiel schließlich auf „Bericht aus der Weite“ von Günther Brus,[1477] ein Werk von 1989, dessen Programmatik dem ersten Anschein nach wenig mit dem Thema gemein hat. Doch diese Darstellung einer Kreisform, die Assoziationen zu einer Weltkugel wie einer Gebärmutter gleichermaßen zulässt und des embryoartigen Wesens, das aus ihnen erwächst, macht deutlich, dass es in der Kunst vielfach um existenzielle Fragestellungen und um die Auseinandersetzung mit dem Woher und Wohin menschlichen Lebens geht.
In allen thematischen Bereichen der Ausstellung „Aller Anfang“ ziehen künstlerische Interventionen eine weitere Reflexionsebene ein. Die wissenschaftliche Darstellung wurde somit um ein zusätzliches Stilelement bereichert. Die elementare Kraft und Expressivität des künstlerischen Anspruchs an ein Thema und ein Werk transformiert das Natürliche, das Alltägliche, das tausendfach Geschehene auf eine andere Ebene, gießt menschliches Verhalten gleichsam in eine abstrakte Form. Durch eine solche Abstraktion kann sich wiederum eine gewisse Freiheit des Denkens einstellen, die uns hilft, den Blick zu schärfen.
Das Entstehen eines Kunstwerks kann durchaus mit dem Akt der Geburt verglichen werden, wo biologische und geistige Schöpfung zusammentreffen. Jede Gebärende bringt ein Kind ihrer Zeit auf die Welt und der Künstler, die Künstlerin, ein Werk, das ebenfalls seiner jeweiligen Zeit entspricht. Man denke an Albrecht Dürers Zyklus „Marienleben“, das in einem „Die Wochenstube“ genannten Bild die Geburt Mariens wiedergibt.[1478] Dürer versetzte dabei das biblische Geschehen in seine eigene Lebenszeit, und so bevölkern Annas Wochenstube Frauen in der bürgerlichen Kleidung des Beginns des 16. Jahrhunderts und feiern das Fest der Kindbettzeche wie es zu dieser Zeit üblich war. Wie Dürer seine eigene Zeit portraitierte, so sind auch die modernen Kunstwerke, die gegenwärtig entstehen, „Kinder“ ihrer Zeit und Ausdruck ihrer Befindlichkeit.
In diesem Bewusstsein stellt die Ausstellung „Aller Anfang“ in poetischen Sequenzen und künstlerischen Positionen persönliche Ansichten und Ausdrucksformen von Geburt von verschiedenen Künstlern vor. Elke Hopfe etwa spricht durch Bildtitel und -inhalte wie „Stürzender Säugling“, „Abnabeln“ oder „Liebespaar“ über das nackte, in die Welt hineingeworfene Leben.[1479]
Zwei Fotokünstlerinnen, Annegret Soltau und Judith Samen, beschäftigten sich in ihren Arbeiten explizit mit eigenen Geburtserfahrungen. Annegret Soltau lässt uns in einer Videoarbeit aus dem Beginn der achtziger Jahre an dem verstörenden Prozess der Mutterwerdung und dem daraus resultierenden inneren Chaos teilhaben.[1480] Aus Judith Samens Werken hingegen wurden für den Ausstellungsbereich „Geburt als Neubeginn“ jene Arbeiten ausgewählt, die die innere Verbindung von Mutter und Kind, wenn auch in scheinbar distanzierter Weise, besonders deutlich machen.[1481] In großem Gegensatz zu diesen ernsten Arbeiten stehen Jane Dunkers Fotografien einer schwangeren Nachbarin, deren Fröhlichkeit und unbeschwerter Bewegungsdrang den Besucherinnen einen ganz anderen Eindruck vom Mutterwerden vermitteln, nämlich den eines Selbstbewusstseins, das das soziale Echo der Öffentlichkeit sucht.[1482]
Neben diesen Fotos, Zeichnungen und anderen bildnerischen Arbeiten beinhaltete die Ausstellung auch noch Film-[1483] und Videosequenzen[1484] und eine Reihe von Internetarbeiten[1485], die weitere Facetten des Themas Geburt erfassen. Sie alle jedoch entstanden aus dem komplexen Zusammenwirken verschiedenster Lebenserfahrungen, unterschiedlicher Wissensstände und prägender Ereignisse, die sich zu expressiven künstlerischen Sujets verdichteten. Die Erfahrungen mit der Ausstellung zeigen, dass der Umgang mit diesen Kunstwerken, das Sich-in-ein-Motiv-Versenken, das offene Aufnehmen der elementaren Kraft künstlerischer Arbeiten ihre Wirkung haben und die Besucher und Besucherinnen mit anderen Augen sehen lehren, was – wie ich behaupten möchte – auch weitere Auswirkungen als die sichtbaren zeitigt, nämlich auf das Empfinden, Fühlen und Denken der Menschen, die sich auf diese Kunstwerke einlassen.
Will man das Thema Geburt anhand von Objekten in einem volkskundlichen Museum, dessen Sammlungen größtenteils die populäre Kunst der Vormoderne repräsentieren, zu fassen suchen, so tut man gut daran, den Bereich der religiösen Kunst einer Überprüfung zu unterziehen. Denn die menschliche Geburt wird im Museum und in der populären Bilderwelt allgemein vornehmlich transformiert in und repräsentiert durch die Darstellung der Geburt des Menschensohnes Jesus Christus. Diese wird in vielfältiger Form bildlich veranschaulicht, doch schon aufgrund der Vorstellungen um die Empfängnis dieses außergewöhnlichen Menschenkindes kann diese Darstellung keineswegs in realistischer Weise erfolgen. Da es sich bei der Geburt überdies generell um ein Tabuthema handelt, um ein Ereignis, das gewöhnlich hinter verschlossenen Türen unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet, behilft man sich mit der Darstellung des Davor und des unmittelbaren Danach.[1486]
Drei Frauen sind dazu auserwählt, das Schwangerschaftsmotiv in der sakralen Kunst zu repräsentieren: Maria, deren Mutter Anna und die Base Elisabeth.[1487] Alle drei werden in Bildwerken immer wieder als deutlich schwanger dargestellt. Der Zustand wird entweder bloß durch den gewölbten Leib angedeutet, wie bei den meisten so genannten Frautragbildern, oder aber durch weitere Zeichen und Symbole verdeutlicht, den Strahlenkranz oder das Jesusmonogramm auf dem Leib, oder sogar durch eine Öffnung im Kleid, in der das zu erwartende Kind, meist bereits voll zum Säugling ausgebildet, zu sehen ist. Das bekannteste Beispiel für Maria mit dem IHS ist das Altarbild der Maria zur guten Hoffnung in Ohlsdorf, Oberösterreich, für eine Maria mit gefenstertem Leib die Gnadenstatue von Bogenberg in Bayern.[1488] Von beiden Motiven existieren zahlreiche Nachbildungen.[1489] Durch Devotionalkopien, Andachtsbildgrafik, Krippenfiguren und religiöse Kleinplastiken wurden die Bildmotive vervielfältigt und verbreitet. Selten und daher kostbar sind die so genannten Schreinmadonnen, Skulpturen, deren Leib in Form eines Flügelaltares aufgeklappt werden kann, in denen dann allerdings nicht das Jesuskind, sondern die heilige Dreifaltigkeit im Typus des so genannten Gnadenstuhls sichtbar wird.[1490] Gregor Lechner sieht in diesen Schreinmadonnen durchaus eine Erweiterung des Schwangerschaftsmotivs, in der Maria zur Mater omnium, zur Mutter Kirche, stilisiert wird.[1491]
Eine eigene Gruppe bilden die Darstellungen der Maria Lactans, der stillenden oder nährenden Gottesmutter, die dem Jesuskind ihre Brust darbietet. Gustav Gugitz verzeichnet in seinem Standardwerk über Österreichische Gnadenstätten[1492] eine Reihe von Beispielen dieses Bildtyps, unter anderem in der Jesuitenkirche in Wien[1493], in der Pfarrkirche zum Heiligen Jakob in Purkersdorf, Niederösterreich[1494], in St. Georgen an der Leiss[1495], in Gutenbrunn bei Martinsberg[1496], in der Innsbrucker Kapuzinerkirche[1497], in Feldkirchen in Kärnten[1498], und Sigmundsberg bei Mariazell.[1499] Mehrere Kleinplastiken und ein Ölbild aus den Sammlungen des Österreichischen Museums für Volkskunde veranschaulichen diesen Bildtypus in der Ausstellung.[1500] Kaum ein Bildmotiv ist besser dazu geeignet, die liebende Einfühlung in die Mutterschaft zu versinnbildlichen als das der stillenden Muttergottes.
Gustav Gugitz‘ Verzeichnis der Gnadenstätten und ihres Zuzugs zeigt jedoch, dass es nicht unbedingt eines expliziten Schwangerschaftsmotivs wie jenes der schwangeren oder nährenden Maria bedurft hatte, um die Frauen in ihren spezifischen Sorgen und Nöten zur Muttergottes, aber auch zu anderen Heiligen oder zum Jesuskind selbst pilgern zu lassen. Das nimmt auch nicht Wunder in Zeiten, in denen eine Schwangerschaft außerhalb der Norm, eine schwierige Geburt, die Zeit des Wochenbetts, aber auch Krankheiten der weiblichen Organe mit Lebensgefahren verbunden sein konnten. Man wandte sich an alle höheren Mächte, von denen Hilfe zu erhoffen war. Die Pilgerstätte musste nur einigermaßen erreichbar und durch Gebetserhörungen ausgewiesen sein. Votivbilder und Votivgaben bilden die überlieferten Zeugnisse hierfür, und die religiöse Volkskunstforschung ist dazu angetreten, die entsprechenden Interpretationen zu liefern.[1501]
Neben den Votiven geben auch Mirakelbücher Auskunft über die Arten der Hilfsbedürftigkeit in Zeiten fehlender medizinischer Versorgung. Die Pfarrkirche Maria Geburt in Hietzing im 13. Wiener Gemeindebezirk galt z. B. als Zufluchtsstätte schwangerer Frauen. 1738 verzeichnete man dort 175 Votivbilder, 100 davon wurden anlässlich schwerer Geburten gestiftet. Die Hietzinger Kirche war zu dieser Zeit Wallfahrtsstätte der vornehmen Wiener Gesellschaft.[1502] Gehen wir in andere Bundesländer, so finden wir etwa den Kindlbettaltar in Adlwang in Oberösterreich[1503] wo ein Relief mit den Darstellungen der Geburt Christi und der Heiligen Elisabeth im Kindbett Frauen in Kindsnöten anzog. Aber auch Christkindl bei Steyr[1504] wurde in Anliegen der Geburt aufgesucht oder die Annakapelle in Wartstein bei Mattsee[1505], wo neben der Mutter Anna eine Kopie des Ohlsdorfer Gnadenbildes den Anziehungspunkt bildete. Dem Annakult verdankte auch Straßengel in Kärnten[1506] einen großen Wallfahrtszuzug. Unter den in der Ausstellung gezeigten Votivbildern finden sich auch drei, die auf die Verehrung der Heiligen Notburga zurückgehen, deren Fürsprache viele Frauen ihre neugeborenen Kinder anvertrauten.[1507]
Eine eigene Gruppe bilden jene Kirchen, die man aufsuchte, um totgeborene Kinder wieder zu erwecken, wenn auch nur für die Sekunden eines winzigen Lebenszeichens, um sie so der christlichen Taufe zuführen zu können, ohne die nach herkömmlicher Glaubensvorstellung keine friedliche Ruhe und kein Wiedersehen im Jenseits möglich waren. Hierfür können Maria Trens in Tirol[1508] oder Strasse/Straže bei Oberburg in Kärnten[1509] angeführt werden. Ingo Schneider beschäftigte sich anlässlich der Tagung der Hochschullehrer für Gynäkologie und Geburtshilfe 1987 in Innsbruck unter anderem mit den volkstümlichen Vorstellungen über das Los der ungetauft verstorbenen Kinder und mit der Rolle der Amtskirche in diesem Zusammenhang und nannte eine Reihe weiterer Wallfahrtsorte und Gnadenbilder, die in solcher Angelegenheit aufgesucht wurden.[1510]
Drei letzte Beispiele für Gnadenstätten, die Gustav Gugitz im Zusammenhang mit der Geburt anführt, sind geeignet, eine gedankliche Brücke zur Magie zu schlagen, denn die hier zitierten Praktiken sind eher mit magischen Vorstellungen als mit kirchlich sanktionierter Frömmigkeit in Verbindung zu bringen. Im Stift Rein in der Steiermark sollen Wallfahrer zwischen dem 16. und 18. Jahrhundert einen Schlüssel als Amulett bekommen haben. Dieser soll in Wasser getaucht worden sein, das man anschließend in verschiedenen Nöten, besonders aber auch in Geburtsnöten trank.[1511] Eine in Heiligenleiten bei Pettenbach in Oberösterreich befindliche Johanneskopfschüssel soll in Geburtshäuser ausgeliehen worden sein. Man gab diese Schüssel angeblich den Frauen in den Wehen während der Geburt in das Bett.[1512] In St. Peter in Salzburg befinden sich die Gräber der Heiligen Bischöfe Vitalis, Rupert und Virgil. Zwei lederne bestickte Gürtel des Heiligen Vitalis sollen von Gebärenden verwendet worden sein, um die Geburt zu erleichtern.[1513] Solche Gürtel sind auch von der Heiligen Margaretha, die als Patronin der Gebärenden verehrt wurde, bekannt.[1514] Das Tragen von besonderen Gürteln während der Schwangerschaft und bei Geburten ist vielfach bezeugt[1515] und war auch in außereuropäischen Kulturen üblich.
Auch die Gegenstände profanen Gebrauchs sind häufig durch religiöse oder magische Symbolik charakterisiert. Der Wunsch, das neugeborene, hilflose Kind zu schützen, wird im Dekorationsprogramm der Bettstatt des Säuglings manifest. Die meisten Kinderwiegen der Sammlung des Österreichischen Museums für Volkskunde zeigen daher christliche Zeichen wie das IHS-Monogramm oder Darstellungen der Muttergottes, besonders jener von Mariazell. Das flammende Herz hingegen symbolisiert die göttliche wie die menschliche Liebe, die man gleichermaßen dem Kind angediehen sehen will.
Viele Wiegen tragen daneben auch das Pentagramm als Abwehrzeichen, manchmal sogar in Verbindung mit den religiösen Symbolen, wohl um ganz sicher zu gehen, dass die guten Mächte das Kind schützen mögen, die bösen jedoch gleichzeitig davon abgehalten werden, ihm Schaden zuzufügen. Die meisten Wiegen sind zusätzlich mit üppigem Zierrat versehen, der bloß dem Schmuck- und Repräsentationsbedürfnis der Eltern entsprang. Florale Motive haben bei den bemalten Stücken den Vorrang, bei den geschnitzten Exemplaren sind es eher geometrische Muster, die oft den schlichteren Eindruck vermitteln.
Ganz ohne Schmuck kommt der einzige Gebärstuhl aus, der in die Sammlungen des Österreichischen Museums für Volkskunde schon um 1910 Eingang gefunden hat. Ihm sieht man nicht nur den profanen Zweck, sondern mit einiger Fantasie auch die Qualen und Schmerzen, die Generationen von Frauen auf ihm empfunden haben mögen, an. Es handelt sich um einen schlichten Bretterstuhl mit einer Aussparung am Sitzbrett, den man zusammenklappen konnte, und den Landhebammen zu Entbindungen in die Häuser mitzubringen pflegten.
Traditionelles Hochzeitsbrauchtum ist reich an Anspielungen rund um die aus der ehelichen Verbindung zu erwartenden Kinder. War es doch der einzige oder jedenfalls der Hauptzweck einer christlichen Ehe, den Fortbestand der Familie und des familieneigenen Besitzes durch entsprechenden Nachwuchs sicherzustellen. Man hat die erwünschten Kinder gleichsam in Andeutungen herbeigedeutet. Die in der Ausstellung „Aller Anfang“ gezeigte Hochzeitsdecke ist ein außergewöhnliches Beispiel solcher Deutungsmacht, und als solches äußerst bemerkenswert.[1516] Wie schon erwähnt, sind Schwangerendarstellungen hauptsächlich aus der sakralen Kunst bekannt. Auch die Darstellungen weltlicher Wochenstuben sind im Gegensatz zu den geistlichen Wochenbettbildern der Maria, Anna und Elisabeth selten.[1517] Erst die moderne Kunst zeigt sich am Thema Schwangerschaft und Geburt auch im profanen Umfeld interessiert.
Die beiden im Wiener Volkskundemuseum aufbewahrten Kärntner Hochzeitsdecken stammen aus dem frühen 18. Jahrhundert und zeigen den gefensterten Leib bei Frau und Mann. Einmal sind es florale Sprosse, die den Leibern eingeschrieben sind und bei den weiblichen Figuren ist es teilweise sogar das voll ausgebildete Kind, das entweder erwünscht wird oder vielleicht schon im Werden begriffen ist. Die auch durch die Technik (Kreuzstichstickerei) bedingte naive Manier des figürlichen Ausdrucks hat etwas Abstraktes an sich und erinnert einerseits an archaische Darstellungen, mutet aber andererseits auch wieder ganz modern an.
Zum klassischen Repertoire volkskundlicher Sammlungen zählen diverse Säuglingskleidungsstücke und Taufgarnituren. Für die Präsentation ausgewählt wurden Beispiele aus dem städtisch-bürgerlichen Wien und aus dem alpinen Bereich, die sich an Pracht der Ausstattung gleichen, doch was Material und Dekor anlangt, durchaus verschieden sind. Nicht gezeigt, weil in den Sammlungen nicht präsent und auch sonst kaum aufzutreiben, sind Gegenstücke der vielen unbekannten, unerwähnten, unerwünschten ledigen Kinder der Frauen aus den Unterschichten, deren Taufe, wenn sie überhaupt stattfand, wohl kaum zu einem Festtag geriet.
In so genannten geordneten Verhältnissen war die glückliche Geburt eines gesunden Kindes jedoch ein Anlass für Geschenke an Mutter und Kind. Man besuchte die Wöchnerin und brachte eine kräftigende Suppe in einer entsprechenden Schale mit Deckel, die dann bei der jungen Mutter als Geschenk verblieb. Die Godenschale in der Ausstellung „Aller Anfang“ – die Bezeichnung deutet auf die Patin, die Überbringerin des Geschenks – weist wiederum symbolische Bezüge auf. Der Griff des Deckels ist in Form eines gewickelten Säuglings, der auf einem Polster ruht, gestaltet.[1518]
Der Täufling erhielt im Allgemeinen ein so genanntes Eingebinde, einen silbernen Tauftaler, der in einen Patenbrief gehüllt, also „eingebunden“ war. Die in den Sammlungen erhaltenen Taufmünzen des 19. Jahrhunderts zeigten meist eine weltliche, seltener eine geistliche Taufszene und waren in feiner Filigranarbeit gefasst. Durch die Kleidung der dargestellten Figuren und die Meistermarken auf den Rückseiten der Münzen sind sie meist einigermaßen gut zu datieren. Das beliebteste Taufgeschenk des Jahreswechsels 2001/2002, das so genannte Euro-Startpaket, wird in dieser Hinsicht nachfolgenden Sammler- und Forschergenerationen ebenfalls keine Schwierigkeiten bereiten.
Das in den vorangegangenen Kapiteln skizzierte Objektrepertoire widerspiegelt im Wesentlichen die Orientierung des Interesses der klassischen, sammelnden Volkskunde am Thema Geburt seit dem Ende des 19. Jahrhunderts. Dieser Eindruck bestätigt sich auch bei der Sichtung einschlägiger Publikationen. Fruchtbarkeit, Schwangerschaft, Geburt, Wochenbett und Taufe waren hauptsächlich in zwei Umfeldern zentrale Themen des volkskundlichen Interesses: in jenem der Brauchforschung um den Lebenslaufzyklus, dessen herausragende Ereignisse Geburt – Hochzeit – Tod auf symbolisch-ritueller Ebene besondere Handlungen erfordern, und in jenem der traditionellen Geburtshilfe, wo man das Wissen um den im 20. Jahrhundert scheinbar im Aussterben befindlichen Berufsstand der Hausgeburtshebamme bewahren wollte. Die Praktiken der Volksmedizin und abergläubische Vorstellungen rund um Schwangerschaft und Geburt wurden ebenfalls erhoben, soweit sie Frauensache waren. Frauen wurden in der traditionellen Volkskunde vornehmlich als Hausfrauen, Bäuerinnen und Mütter gesehen, und diesem reproduktiven Rollenbild, das auch weitgehend den tatsächlichen gesellschaftlichen Verhältnissen entsprach, entsprach auch eine Forschung, die mehr auf Beschreibung und Bewahrung, denn auf Erkenntnis und Veränderung gerichtet war.
Susanne Breuss beschäftigte sich in jüngerer Zeit kritisch mit den „volkskundliche[n] Blicke[n] auf den weiblichen Körper“[1519] mit den Fragen zu „Körper und Geschlecht in den Anfängen der Volkskunde“, in denen Frauen weniger in ihrer Individualität und mehr als „Gebärerin und Überlieferungsträgerin, als ein Acker, der bestellt und von dem geerntet wird“[1520] wahrgenommen wurden. Mit den Veränderungen der Wissenschaftsperspektiven in der Volkskunde seit Beginn der 70er-Jahre des vergangenen Jahrhunderts, im Zuge derer sich das Fach in weiterer Folge zu einer Kulturwissenschaft mit breiterem Blickwinkel (allerdings um den Preis des Verlusts einer eindeutigen Fachidentität) entwickelte, veränderte sich auch das Themenspektrum rund um die Geburt. Weitere Impulse kamen von der Frauenforschung ab den 80er-Jahren und dem zunehmenden Interesse, das dem menschlichen Körper als kulturellem „Wesen“ und damit auch den körperlichen Vorgängen vor allem im kulturanthropologischen Kontext entgegengebracht wurde. Ergebnisse neuer medizinischer Entwicklungen brachten ebenfalls neue Fragen und Zugänge aus kulturanthropologischer Perspektive.[1521]
Publikationen wie „Geburtssysteme im Kulturvergleich“,[1522] „Vom Untergang der Geburt im späten 20. Jahrhundert“[1523], „Biologische, historische und psychosoziale Aspekte der Schwangerschaftswahrnehmung“[1524], „Der weibliche Körper zwischen Reproduktionsfunktion und [1525] zeugen von veränderten Wahrnehmungen und gewandeltem Forschungsinteresse. In Büchern und Katalogen wie „aufmüpfig & angepaßt“ verbergen sich ebenfalls Informationen, die dem zeitgenössischen Körperbild der Frau oder historischer Geburtserfahrung neue Facetten abzugewinnen vermögen.[1526] Dem Beruf der Hebammen und den Orten ihrer Tätigkeiten sowie der Rolle der Medizin bei der Geburt in Geschichte und Gegenwart wurden ebenfalls neuere Untersuchungen gewidmet, die den Horizont weiten.[1527] Mit zunehmendem gesellschaftlichen Interesse für die „sanfte“ Geburt, hat der einige Jahrzehnte lang im privaten Bereich unserer Breiten fast abgekommene Beruf der Hebamme wieder Aufwind erfahren, und mit ihm auch die wissenschaftliche Beschäftigung mit diesem Berufsstand.[1528] Schließlich hat man im Jahr 2000 in Berlin-Neukölln dem Gebären und Geborenwerden eine umfassende Ausstellung aus regionaler Perspektive gewidmet.[1529]
Doch das Thema Geburt ist nicht so ohne weiteres als erledigt zu skartieren. Es erweist sich als irgendwie unerschöpflich, wie das Mysterium des neu entstehenden Lebens selbst, auch wenn die Vertreter zeitgenössischer Naturwissenschaften den Anschein erwecken, der Dekonstruktion dieses Mysteriums immer näher zu rücken. Zahlreiche Fragen sind offen, und die alten Fragen müssen neu gestellt werden. Hier hat die Ausstellung „Aller Anfang“ angesetzt und weitere Koordinaten zu Geburtserfahrungen von Frauen, Männern und Kindern gesammelt und interpretiert, um „der kulturellen Natur der Geburt“, wie es Christine Burckhardt-Seebass einmal formuliert hat[1530] auf die Spur zu kommen.
Mit zwei Beispielen aus der Literatur möchte ich schließen, die ich aufmerksamen Kollegen aus den Bereichen Germanistik und Anglistik verdanke. Beim ersten handelt es sich um die ältesten bislang bekannten Frauenmemoiren des deutschen Mittelalters, die um 1450 abgefasst wurden und eine ausführliche Beschreibung einer Geburt enthalten.[1531] Die „Denkwürdigkeiten der Helene Kottannerin“[1532] handeln von der abenteuerlichen Geschichte rund um Ladislaus Postumus, der zwölf Wochen nach seiner Geburt am 22. Februar 1440 zum König von Ungarn gekrönt worden ist. Das Vorwort zum Reprint des Textes beschreibt kurz die historischen Fakten: Die Mutter dieses nach dem Tod des Vaters geborenen Ladislaus, Königin Elisabeth, die 31-jährige Witwe Albrechts II. (1437–1439) sollte aus Staatsräson gegen ihren Willen mit dem 16-jährigen Polenkönig Wladislaus vermählt werden. Zunächst täuschte sie ihre Einwilligung vor, um Zeit zu gewinnen, weil ihr die Ärzte die Geburt eines Sohnes vorausgesagt hatten. Sie beauftragt deshalb ihre Kammerfrau, eben jene Helene Kottannerin, aus dem scharf bewachten Kronengewölbe der Plintenburg (heute Visegrád in Ungarn) die ungarische Königskrone zu entwenden, während sie sich in der Komorner Burg auf ihre Entbindung vorbereitet. In der Nacht vom 21. zum 22. Februar 1440 führt Helene Kottannerin mit Hilfe eines ungarischen Adeligen und seines Dieners den Auftrag aus, bringt die Königskrone zur Königin, die eine Stunde nach dem Eintreffen der Krone wirklich eines Sohnes, des Ladislaus Postumus, entbunden wird, und zwar unter tatkräftiger Beihilfe der Kottannerin.
Der Text ist für unsere Geburtsgeschichte von außerordentlichem Quellenwert, beschreibt er doch wesentliche Phasen des Geburtsgeschehens und der Zeit danach in einer Epoche, aus der es keine vergleichbaren Schriftzeugnisse gibt und noch dazu aus der Feder einer erfahrenen, tatkräftigen und schlagfertigen Frau, über deren Leben man gut unterrichtet ist. Im Folgenden gebe ich jene Textstellen wieder, die sich auf die Geburt beziehen.[1533] Die Ich-Erzählerin ist also jene Helene Kottannerin.
„… Da mich die edel KungInn enphie (empfing), da lag ir gnad an dem pett und wolt nu geruet haben vnd sagt mir, wie es ir des tags ergangen was. Wann (= denn) es waren zwo erber (ehrbar) Frawn von Ofen, zwo witib zu Iren gnaden komen. [...] vnd heten zwo Ammen mit in bracht, die ain was hefAm, das ander was die am, die das kind neren solt mit den prusten, vnd diselb am het ir kind auch mit bracht, das was auch ain Sun, Wann (denn) es mainen die weisen, es sei die milch pesser von der fraun, die ainen Sun bringt denn von ainer tochter. Vnd dieselbigen frawn solten mit iren gnaden geczogen sein gen Prespurgkch vnd solten ir da gephlegen haben in den kindelpeten, Wann (denn) nach der rayttung (Rechnung) solt ir gnad noch ain wochen getragen haben. Ob die raittung gefëllet het oder ob es sust gots willen was, Wann hiet ir gnad desselbigen nachts nicht gepert, So wër ir gnad des morgens auf gesessen fru auf die fart [...] Da ich mit der edeln KungInn also redat, do ward mir ir gnad sagen, wie sie dy fraun von Ofen gepetten hieten in ainer wannen, vnd wie ir nach dem pad gar swër wer worden. Do hueb ich die hul auf vnd wolt Si plasse (bloß) sehen. Do sach ettliche warczaichen, Dar an ich wol erkant, daz es von dem kind gepern nicht verr (weit) was. [...] aber wir heten dennoch ain hefAm bei vns, die hies Margret, dy het Graf Hannsinn von Schawnberg meiner frawn gnaden zu geschikcht, vnd solt gar ain gute sein, als es dann was. [...] Do stuend ir gnad auf vnd gieng vnd begund anzeheben zu der swëren arbeit, do sandt ich nach der vngrischen Hofmaistrinn, die was genant assin (von ung. asszony = Frau) Margit. Die kam zu hant (zur Hand), vnd was ain Junkchfraun da, genant die Fronacherinn, die liesz ich baid bey meiner frawen gnaden Vnd gieng pald nach der Hefam [...] Vnd sprach: ‚Margret, stet pald auf, meiner frawn gnad, die get zu dem kind’. Die fraw, die Antburt mit aus swërm slaf vnd sprach: ‚Heiliges krewcz, well wir heint ain kynd gewynnen, well wir wënich morgen gen Prespurgk farn’. Vnd wolt nicht aufsten, vnd der krieg der dewcht (deucht) mich zelangk (zu lang) vnd eylat wider zu meiner frawn gnaden, daz ir nicht mysselung (damit ihr nichts passiert), Wann (= denn) die zwo, die bei ir waren, die kunden nicht zu solchen sachen (die waren solcher Sachen nicht kundig). Do sprach meiner frawn gnad: ‚wo ist die Margret?’ Da sagat ich iren gnaden die torleich (törichte) antburt der frawen (der Frau). Do sprach ir gnad: ‚get pald hin wider vnd haisst Si komen, es ist nicht schymph dapey’, und gieng pald hyn wider vnd pracht die frawn mit zoren auf. Vnd do sye zu meiner frawn gnaden kam, da wert es nicht ain halbe stund, Daz vns got der almochtig ains Jungen kunigs beriet, [.....] Die hef Am die was kundig vnd sprach: ‚gnedige fraw, Wellt ir mich geweren, wes ich euch pit, So will ich ew sagen, was ich in meiner hant hab.’ Do sprach die edel KungInn: ‚Ja, liebe mueter’. Da sprach die Am: ‚gnedige fraw, ich hab ainen Jungen Kunig in meinen henden.’ Do was die edel KungInn fro, vnd pat ir hend auf zu got Und dankchat got seiner gnaden. Do nu die Kindelpetterinn gelegt ward an ain pett vnd nymant mer bei ir was dann ich allain, Do knyat ich nider und sprach ...“
Nun folgt der Dank über die glückliche Fügung, dass beide Ereignisse, die entwendete Krone und die Geburt des Königs, der sie tragen sollte, innerhalb einer Stunde zusammengekommen waren und dass beides so gut vonstatten gegangen war. Dann folgt die Schilderung des Freudenfests in der Nacht und der Taufe am nächsten Tag.
„... da nu der edel vnd getrew graf Vlrich von Zily des Innen ward, daz im ain Kung vnd ain frunt (Freund) geporen was vnd der do was sein vëterlicher herr, da ward er gar frewdenrich vnd auch die von Krabaten vnd ander grafen vnd herren vnd alles hofgesind. Da lies der edel graf von Zily ain frewden fewr machen vnd furn mit den windliechtern auf dem wasser vnd heten ir freud vnsz vber mittenacht. Des morgens frue da sandt man nach dem Bischoue von Gran, daz er komen solt vnd solt den Jungen Kung zu ainem Kristen helfen machen. Der kam vnd der pharrër von Ofen, genant maister Francz der was auch da. Vnd mein gnedige fraw die begerat an mich, Ich solt auch iren gnaden gevëtrInn werden. Do sprach ich: ‚gnedige fraw, Ich bin ewren gnaden sust alczeit ains gueten schuldig, Ich bit ewr gnad, ir nembt di Margit assin’ Das tet ir gnad. Da man nu den edlen Kung wolt tauffen, do nam man der Jungen KungInn, frawen Elyzabethen den swarczen rokch ab, darInn Si den hohen vnd den teurn fursten Kung Albrechten geklagt het, vnd man legt ir an ainen guldeinen rokch gewant in rater varib (in roter Farbe), vnd die Junkchfraun all musten sich zierlich stellen got zu lob vnd er, der landen vnd lewten erblich ainen kung vnd herren geben het. Do nam der hochwierdig prelat, her Dyonisy, ercz Bischoue zu Gran den Jungen Kunig, vnd half im zu der tauff vnd hueb in aus der tauff, Vnd graf Bertelme von Krabaten vnd der Pharrer von Ofen und Margit assin, die all hueben den edeln kung aus der tauff, der ward genannt Kung Lassla, ...“
Dann berichtet Frau Kottannerin, dass die „edel kindelpetterinn“ keine Ruhe gehabt hätte in ihrem Wochenbett, wegen der vielen Geschäfte, dass man der Amme „vier guldein“ geschenkt habe, und dass sie, die Kottannerin, „ainen Kung von Ungern vnd ainen Kung von Behem vnd ainen Herczogen von Osterreich Vnd ainen Markgrafen von Mërhern“, zu hüten gehabt habe, und auch dass man dem jungen König nach dem Leben getrachtet hätte. Schließlich vermerkt sie noch die Aussegnung der Kindbetterin am 27. März 1440, also 33 Tage nach der Geburt am 22. Februar.
„... Vnd all die weil ir gnad in den kindelpetten lag, kam ich ny aus meinem gebant, weder tag noch nacht. Do nu die zeit kam, Daz nu die edel KungInn solt fur gen nach frawen siten, do nam Si iren Sun an den armb vnd trueg In In die Capellen zu Gomarn. Das geschach in den Oster veirtëgen. [27. März 1440] ...“
Diese abenteuerliche Geschichte hat sich nun in den allerhöchsten Kreisen zugetragen und ist auch nur deshalb überliefert. Doch wir erfahren darin eine Menge an Details, wie sie sich wohl auch bei anderen Geburten in dieser Zeit abgespielt haben. Wir hören von der Meinung, dass die Milch einer Amme, die einen Sohn geboren hat, besser sei als nach einem Mädchen, dass man bereits imstande war, Rechnungen über die Dauer einer Schwangerschaft anzustellen, die bis auf eine Woche genau waren, dass man der Schwangeren unmittelbar vor der Geburt ein Bad in einer Wanne gerichtet habe, dass eine erfahrene Frau an äußeren Zeichen am bloßen Leib erkennen konnte, dass die Geburt bald anheben würde und schließlich, dass die Geburt sicher nicht im Bett stattgefunden hatte, da extra erwähnt wurde, dass man die Kindbetterin erst nach der Geburt in ein Bett gelegt hatte. Wir hören, dass die Taufe gleich am nächsten Tag stattgefunden hat und einige Wochen später die Aussegnung, und wer aller noch, außer der Hebamme, das Kind aus der Taufe gehoben hat.
Nicht nur für Geburtsgeschichten selbst kann Literatur mit Gewinn befragt werden. Kürzlich wurde ich auf eine literaturwissenschaftliche Arbeit des Grazer Anglisten Franz Stanzel aufmerksam, die sich mit den Phänomenen Telegonie und Teratologie beschäftigt.[1534] Die Sache ist auch für Geburts-Forscher höchst anregend, wenn man sich dafür interessiert, wie Mythen, Aberglauben, bewusstes oder unbewusstes kollektives Wissen das Handeln von Menschen beeinflussen können und in welchen Formen diese Mythen unter anderem tradiert werden.
Die Geschichte mit der Teratologie, also der Lehre von den Missbildungen bzw. von dem, was wir aus der Volksüberlieferung unter dem Terminus „Versehen“ kennen, ist vielfach beschrieben worden. Einen berühmten Wiener Fall – aus dem Anfang des 19. Jahrhunderts, der in die Wiener Medizingeschichte eingegangen ist – hat Marion Stadlober-Degwert berichtet.[1535] Eine ledige Magd hatte im Jahr 1827 ein noch nicht ausgereiftes missgebildetes Kind zur Welt gebracht, und sowohl sie selbst – als wohlgemerkt auch Arzt und Pathologe – führten die Fehlbildung auf das „Versehen“ der Frau während der Schwangerschaft zurück. Der Anblick einer Teufelsfigur in der Korneuburger Kirche hätte die Schwangere derart erschreckt, dass sie etwa im sechsten Monat eine „monströse Frucht“ zur Welt gebracht habe, die der beschriebenen hölzernen Teufelsfigur „in vielem ähnlich war“.
Nadia Filippini hat in dem bereits erwähnten Band zur Geschichte des Ungeborenen auf die Mutmaßungen der Mediziner und Philosophen des 16. und 17. Jahrhunderts über diese Phänomene hingewiesen.[1536] Prof. Schlumbohm berichtet im selben Buch, dass auch ein aufgeklärter Professor in Göttingen 15 Jahre vor dem Wiener Fall seinen Zweifel an dem so genannten „Aberglauben“ des Versehens teilweise wieder revidierte, als in seiner Gebärklinik ein Kind mit einem braunen Mal am rechten Unterschenkel geboren wurde, dessen Mutter angegeben hatte, dass das Kind in den Heidelbeeren gemacht worden sei und dass sie bald danach auch furchtbar erschrocken sei, als ein anderer dem Vater des Kindes ein Ohr abgebissen habe.[1537] Weitere Beispiele für ähnliche Geschichten über das Versehen finden sich in der Erzählüberlieferung zuhauf.
Franz Stanzel hat nun aber literarische Zeugnisse gesammelt, für gleichsam den gegenteiligen Effekt, nämlich die Vorstellung, dass, wenn einer der Partner während der Zeugung an jemand anderen denke als den aktuellen Kopulationspartner oder seltener die -partnerin, dann sähe das aus dieser Verbindung hervorgehende Kind dem fernen, aber intensiv vorgestellten Menschen ähnlich bzw. hätte dessen Charakterzüge und nicht jene des tatsächlichen Vaters, der tatsächlichen Mutter. Dieses Phänomen nennt er Telegonie, ein in der Zoologie bzw. Botanik gebräuchlicher Ausdruck hinter dem folgende Hypothese steht: Der Nachwuchs eines Muttertiers erbt manchmal Aussehen und/oder Charakterzüge eines früheren Partners und nicht jene des aktuellen Zeugers.
Stanzel führt zahlreiche Beispiele aus sämtlichen Epochen der Literaturgeschichte für diese übertragene Form der Telegonie an. Von Persina, der dunkelhäutigen Königin von Aethiopien, erzählt etwa Heliodor, dass sie eine weiße Tochter gebar, weil sie während der Zeugung mit ihrem ebenfalls dunkelhäutigen Mann ein Bildnis des nackten weißen Körpers der Andromeda intensiv betrachtet hätte. Diese ambivalente Gabe der „vis imaginativa“ wird, laut Stanzel, im Altertum gemeinhin nur den Frauen zugeschrieben. Die Frauen von Sparta sollen Statuen von Apollo oder Hermes in ihren Schlafzimmern aufgestellt haben, damit die empfangenen Söhne diesen gleichen mögen.
Ein gynäkologisches Handbuch, 1684 erstmals erschienen und bis 1798 mehrfach aufgelegt, gab detaillierte Anweisungen und Ratschläge, was Eltern befolgen müssten, um ein schönes, kluges und gesundes Kind zu bekommen.[1538] Obwohl diese genetischen Fantasien das 19. Jahrhundert nicht überlebten, schien ihr symbolisches und metaphorisches Potential die Schriftsteller weiterhin zu beflügeln. Stanzel führt O’Neill, Schnitzler, Yeats, Wilde, Ibsen, Strindberg, Svevo und andere als Beispiele an. Besonders eindrucksvoll ist die Stelle aus Kazantzaki’s „Alexis Sorbas“, mit der auch der Film beginnt. Die attraktive junge Witwe tritt aus dem Café des griechischen Dorfes auf Kreta und die Männer starren sie an. Die meisten wünschen sie, um des ehelichen Friedens Willen, wieder weg aus dem Dorf. Doch einer der Älteren plädiert mit folgendem Argument für ihren Verbleib: „Gesegnet sei die Witwe, sag ich. Man könnte glauben, sie ist gleichsam die Geliebte (Mätresse) des ganzen Dorfes: Du machst das Licht aus und stellst dir vor, es ist nicht deine Frau, die du in die Arme nimmst, sondern die Witwe. Und, merkt euch, das ist der Grund, warum es in unserem Dorf neuerdings so wunderschöne Kinder gibt.“[1539]
Stanzel rekurriert in seinen Schlussfolgerungen nochmals auf die Verbindung und mentale Verschränkung von Natur und Kunst. Haben das Bildnis der Andromeda und die Statuen von Apollo und Hermes die künstlerische Kraft die Natur zu beeinflussen? Und umgekehrt gefragt: Welche Bürde wurde den Frauen aufgeladen, indem man ihnen allein die Verantwortung für die Geburt missgebildeter Kinder überantwortete. Zwei Seiten unseres vielschichtigen Themas „Kulturgeschichte der Geburt“, das noch lange nicht zu Ende erforscht ist.
[1458] Eine Reihe von Zitaten einschlägiger Publikationen aus den letzten zwanzig Jahren finden sich bei: [Hartmann/Haubl 2000] S. 8.
[1463] [Hartmann/Haubl 2000], S. 9.
[1464] [Hartmann/Haubl 2000], S. 10.
[1465] [Angerer 2001], S. 141.
[1467] Vgl. dazu [Helbling/Ruber 2002], S. 71.
[1469] [Fjell 1997]. [Linde 2001]. [Mikkor 2000].
[1471] „Aller Anfang. Geburt – Birth – Naissance“, Österreichisches Museum für Volkskunde, Wien/A, 10. April bis 6. Oktober 2002; „Abgenabelt: Geburt und Säugling in der Geschichte“, Museum Neuhaus, Biel/CH, 7. März bis 18. Juni 2002; „Inside Out het ongeboren leven in beeld“, Vlaams Centrum voor Volkscultuur, Brussel und het Huis van Alijn, Gent/B, 14. Juli bis 25. August 2002.
[1472] Profil Nr. 18, 33. Jg., 29. April 2002.
[1473] Das Pressedossier für die Ausstellung „Aller Anfang“ enthält 67 Nachweise aus den Bereichen Presse, Rundfunk, TV und Internet, wobei diese Aufstellung sicher nicht vollständig ist.
[1474] [SchindlerM 2001] S. 472.
[1475] In einer Begleitveranstaltung zur Ausstellung am 13. Juni 2002 wurden Lieder um Schwangerschaft und Geburt vorgestellt, die einerseits den gesellschaftlichen Umgang mit diesen Themen und andererseits auch das unmittelbare Empfinden der Betroffenen spiegelten. [HaidG 2003]. Vgl. auch [Veit 2002].
[1476] Vgl. dazu auch das Bild „Roter Akt, schwanger“ von Egon Schiele, beschrieben in: [Heimbach 2002].
[1477] [Rüb/Schindler 2002], S. 210.
[1478] [Rüb/Schindler 2002], S. 222–223.
[1479] [Rüb/Schindler 2002], S. 211.
[1480] [Rüb/Schindler 2002], S. 281
[1481] Vgl. [Heimbach/Samen 2002].
[1482] [Rüb/Schindler 2002], S. 277.
[1483] [Rüb/Schindler 2002], S. 283–285.
[1484] Vgl. [Kathan 2002].
[1485] [Rüb/Schindler 2002], S. 218–219.
[1486] [Zglinicki 1983], S. 142.
[1487] Vgl. dazu [Lechner 1981]
[1488] [Lechner 1981]. S. 175–176. Zu Bogenberg siehe auch [Kriss 1951].
[1489] Die Sammlungen des Österreichischen Museums für Volkskunde bewahren neben religiöser Druckgrafik einen Majolika-Krug und eine Krippenfigur mit dem IHS auf dem schwangeren Leib der Maria.
[1490] Eine dieser mittelalterlichen Darstellungen beherbergt das Diözesanmuseum in Wien. Statue um 1420, aus Schwarzau am Steinfeld, Gnadenstuhl mit Schutzmantelmotiv.
[1491] [Lechner 1981], S. 201–202.
[1493] [Gugitz 1958]. Band 1, S. 47.
[1494] [Gugitz 1958], Band 2, S. 151.
[1495] [Gugitz 1958], Band 2, S. 166.
[1496] [Gugitz 1958], Band 2, S. 39.
[1497] [Gugitz 1958], Band 3, S. 58.
[1498] [Gugitz 1958], Band 4, S. 11.
[1499] [Gugitz 1958], Band 4, S. 257.
[1500] Vgl. [Rüb/Schindler 2002], S. 27 und S. 228.
[1501] Für die in der Ausstellung gezeigten Objekte sind hier unter anderem heranzuziehen: [Kriss-Rettenbeck 1963], [Beitl 1973], [Beitl 1978].
[1502] [Gugitz 1958], Band 1, S. 84.
[1503] [Gugitz 1958], Band 5, S. 2–3.
[1504] [Gugitz 1958], Band 5, S. 16.
[1505] [Gugitz 1958], Band 5, S. 215.
[1506] [Gugitz 1958], Band 4, S. 265.
[1507] Vgl. [Rüb/Schindler 2002], S. 29, 265, 266.
[1508] [Gugitz 1958], Band 3, S. 184.
[1509] [Gugitz 1958], Band 4, S. 262.
[1510] [SchneiderI 1987]. Vgl. hierzu auch: [Bochsler/Gutscher 1998] und [Gélis 1998]
[1511] [Gugitz 1958], Band 4, S. 227.
[1512] [Gugitz 1958], Band 5, S. 41.
[1513] [Gugitz 1958], Band 5, S. 194.
[1514] Dieser Nachweis und weitere Belege für das „Umgürten“ des Leibes bei schwangeren Frauen finden sich bei [Grabner 1997], S. 251. Ähnliches gilt auch für die so genannten Heiligen Längen, die maßgetreu wiedergegebenen Körperlängen von Heiligen in Form von bedruckten Stoff- oder Papierstreifen, von deren Umlegen man sich eine leichtere Geburt erhoffte. Vgl. [Grabner 1997], S. 115 mit Angabe weiterer Literatur und [Beitl 1978], unpag. Bildteil Nr. 20 a–c.
[1515] Kürzlich auch erwähnt in: [Brenko et al. 2001], S. 174–175.
[1516] Vgl. [Rüb/Schindler 2002], Abb. S. 31, Beschreibung S. 238.
[1517] [Zglinicki 1983] Siehe Kapitel VI: Die vollkommene Wochenstube. S. 141–228.
[1518] Vgl. [Rüb/Schindler 2002], Abb. S. 32, Beschreibung S. 293.
[1520] [Breuss 2000], S. 197.
[1521] [Shore 1992].
[1523] [Duden 1989].
[1526] [Vavra 1998]. Darin besonders [Pils 1998] und die Kapitel: Der „geöffnete Körper“, S. 219–225 und „Hebammen und weise Frauen“, S. 227–232.
[1528] Als Beispiele für aktuellere Publikationen zum Hebammenberuf im 20. Jahrhundert aus kulturwissenschaftlicher Perspektive seien angeführt: [Horner 1985]. [Töngi 1998]. [Zürcher 1998]. [Amann 2000].
[1531] Für den Hinweis auf den Text danke ich Univ.-Prof. Dr. Herbert Zeman herzlich.
[1533] [Mollay 1971], S. 18–22. Mit Auslassungen im Text und zugunsten der Verständlichkeit sprachlich leicht verändert.
[1536] [Filippini 2002], S. 116.
[1537] [Schlumbohn 2002], S. 161.
[1538] [Aristotle 1798] Zitiert nach [Stanzel 2000], S. 73.
[1539] Zitiert nach [Stanzel 2000], S. 70.