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Motivation und Management im Brauch. Für einen reformierten Ansatz der Brauchanalyse (Manfred Seifert) – Langtext

Beobachtet man das aktuelle Brauchgeschehen in seinen vielgestaltigen Facetten, dann erhält man mühelos einen Eindruck, von welch entscheidender Bedeutung die Brauchkenntnisse und Einstellungsmuster sowohl der Beteiligten als auch der Betroffenen für die konkrete Ausführung einer Brauchaktion sind. Wenn außerdem der Einfluss der beteiligten Personen auf die Brauchausführung ernst genommen wird, lassen sich in aller Regel auch Absprachen und Vereinbarungen sowie unterschiedliche Auffassungen und auch Brauchkenntnisse registrieren. Solche Unterschiedlichkeiten aber bedingen, dass die Gruppenaktion, die schließlich tatsächlich realisiert wird, erst schrittweise entwickelt wird. Zudem treten bei gewissen Brauchformen organisatorische Vorbereitungen hinzu, die im Vorfeld mit einem weiteren Personenkreis von Helfern, Geschäftsleuten, Ordnungsorganen etc. zu treffen sind. Insofern spielen im Umfeld der Brauchausübung Planungsvorgänge und Verständigungsprozesse eine große Rolle – eben die Bereiche „Motivation“ und „Management“.

Besonders auf öffentliche Wirkung angelegte Brauchvollzüge weisen üblicherweise einen relativ hohen Organisationsaufwand im Vorfeld auf. Wie bei der Brauchpraxis des Weisertweckenfahrens beispielhaft gezeigt werden kann, müssen nicht nur rechtliche Aspekte mit der Kommune und der Polizei geregelt werden, sondern auch das Inventar dieses Brauches – der Wecken selbst, das Transportgefährt, die Musikanten, dazu allerhand Requisiten für die begleitenden Inszenierungen – ist in einer längeren Vorbereitungsphase zu ordern und anschließend gestalterisch zu arrangieren. Bei Gruppenaktionen sind daneben nicht zuletzt Absprachen über Termine, Arbeitseinsätze, Brauchvollzüge etc. im Vorfeld und bei der Aktion selbst zu treffen.

In der neueren Brauchforschung bilden die sozialen Aspekte sowie die Bedeutung, die das Brauchhandeln für seine Akteure und die Betroffenen hat, zentrale Perspektiven.[1540] Bräuche werden gerade in der komplexen modernen Lebenswelt als Identifikationsangebote verstanden und genutzt.[1541] Die handelnden und beteiligten Subjekte rücken somit in den Mittelpunkt. Man versucht, von deren Standpunkten her das Brauchgeschehen zu erforschen. Die Brauchträger, die in früheren Brauchaufzeichnungen gerne lediglich als passive Erfüllungsgehilfen eines von der Sitte geforderten Brauchgeschehens betrachtet und demzufolge auch zusammen mit den Brauchrequisiten als Teil der Staffage registriert wurden, sind inzwischen als ernst zu nehmende Einflussgröße auf die Brauchhandlung erkannt. Denn in Wahrheit funktioniert Brauch nicht, indem er sich anlassgebunden jeweils unter Zuhilfenahme von Statisten nach inhärenter Dynamik erfüllt, sondern indem einzelne Akteure als Motoren eines Brauchvollzuges in Erscheinung treten, sich mit weiteren Akteuren verständigen, dabei ihre persönlichen Kenntnisse und Ansichten einbringen und somit den Brauchvollzug entscheidend mitprägen.

Entsprechend diesen allgemeinen forschungsstrategischen Überlegungen widmet sich die folgende Darstellung weniger der registrierbaren Aktion als dem Ergebnis der Brauchhandelns, sondern vielmehr den Vorbereitungen, Planungen und Diskussionen dieser Aktion. Ein derartiger Betrachtungsansatz ist namentlich in der früheren Brauchliteratur leider viel zu wenig berücksichtigt worden. Um dies in einem Bild aus der Kochkultur auszudrücken: Die Brauchbeschreibungen ähneln immer noch eher Rezeptsammlungen und weniger Berichten der realen Kochpraxis. In der Regel werden Bräuche als das beobachtbare Resultat vorgestellt; es erscheint die Durchführung selbst in ihren regelkonformen Komponenten, selten aber die Vorbereitung mit ihren Strategien, Fragestellungen und Orientierungen der Teilnehmer sowie die daraus folgenden Abweichungen.[1542] Damit soll nicht unterstellt werden, dass sämtliche Brauchgeschehnisse einen entsprechenden Vorlauf benötigen und dass dabei inhaltliche wie organisatorische Herausforderungen größerer Klärungen bedürfen. Doch andererseits gilt es durchaus zu verdeutlichen, dass Brauchveranstaltungen sich nicht ohne Vereinbarungen und Vorkehrungen vollziehen – und dies heute wohl weniger denn je. Denn gegenwärtige Brauchvollzüge scheinen in stärkerem Maße als in früheren Zeiten einen derart prozesshaften Charakter anzunehmen, der die Brauchausübung als Verhandlungsgegenstand und Verständigungssache charakterisiert. Dies hat mehrere Gründe.

Gesellschaftliche Rahmenbedingungen der Gegenwart

In der Gegenwart bestehen u. a. folgende Gründe für ein die Brauchpraxis begleitendes Organisations- und Diskussionsgeschehen. Ein Hintergrund ist in den veränderten Lebenswelten zu suchen, in denen brauchtümliches Verhalten weitgehend keine prägende Rolle mehr spielt.[1543] Bräuche kommen nur bei bestimmten Anlässen und bei Bedarf in den Blick als eine frei wählbare Möglichkeit der Akzentsetzung und Inszenierung. Da die Entscheidung für eine bestimmte Brauchhandlung keinen irgendwie gesellschaftlich gebotenen Charakter mehr besitzt, kann auch nicht mit entsprechend detaillierten persönlichen Vorkenntnissen und abgeklärten Einstellungen dazu gerechnet werden. Für solche Vorbedingungen fehlt in der Durchschnittsbevölkerung die intensivere persönliche Aufmerksamkeit dem Brauchgeschehen gegenüber, das nicht mehr zum normalen Handlungsrepertoire der Moderne gezählt wird, sondern heute eher dem Freizeit- und Hobbysektor zugeordnet ist. Weithin kommt man – selbst mit öffentlichen Brauchvollzügen – nicht mehr häufig in Kontakt. Gerade traditionsorientierte Brauchvollzüge sind hiervon besonders betroffen. Eine bewusste Wahrnehmung und intensive Auseinandersetzung mit derartigen Brauchformen findet üblicherweise entweder selten oder aber in folkloristisch gewendeter bzw. retrospektiver Interpretation statt. Es überwiegen die oberflächliche Registrierung, die Bewertung als binnenexotisches Schauspiel und die distanzierte Einstufung als dem eigenen Leben fremd gewordene Handlungsform.

Neben einer fehlenden Vertrautheit mit Brauchformen und deren Prinzipien fördert ein zweiter Aspekt die Anreicherung des prozesshaften Entwicklungsganges vor der Brauchrealisierung. Besonders wenn bei der Anwendung traditioneller Brauchformen entsprechende Techniken und Requisiten aus dem bäuerlich-handwerklichen Lebensbereich nachgefragt werden, bedürfen die Brauchausübenden heute in aller Regel einiger Vermittler, die die gewünschten Gerätschaften zur Verfügung stellen können und wollen sowie die technischen Kenntnisse ihrer Benutzung besitzen. Bei der Weisertweckenfahrt sind solche Vermittler für das Pferdegespann samt Wagen sowie für den Brotwecken erforderlich. Wie sich dabei zeigt, hat in der Moderne die Zahl der verfügbaren Vermittler deutlich abgenommen: So verfügen die wenigen noch aktiven bäuerlichen Betriebe nur noch in einigen Fällen über alte Pferdefuhrwerke etc., die genauen technischen Kenntnisse zu ihrer Verwendung sind vielfach nicht mehr vorhanden. Seit einiger Zeit sind allerdings Pferdehalter wieder häufiger anzutreffen. Ebenso rar werden in letzter Zeit die kleingewerblichen Bäckereibetriebe, die diese Art von Sonderauftrag bislang ausgeführt haben.

Eine dritte Ursache sind zwei gesellschaftliche Phänomene der Moderne, die einen erhöhten Planungs- und Selbstvergewisserungsaufwand nötig machen. Zum einen ist dies die Pluralisierung der Lebenswelten. Sie fördert in Gestalt einer Individualisierung aus den jeweiligen örtlichen Sozialverbänden heraus den Abbau eines übergreifenden gesellschaftlich-kulturellen Horizontes im kleinen Rahmen einer Kommune ebenso wie im größeren Rahmen. Die Trennung zwischen Wohn- und Arbeitsplatz, die damit verbundene Entbindung aus den örtlichen Bezügen sowie der automobile Lebensstil – um nur diese Faktoren zu nennen – haben eine weitgehende Lockerung der persönlichen Verbindungen der kommunalen Bewohner untereinander zur Folge. Die abnehmende Kenntnis über die Person des nachbarschaftlichen Gegenübers sowie die Vielfalt des Kultur- und Freizeitangebotes in Verbindung mit der problemlosen Überwindung größerer Wegstrecken mithilfe des Kraftfahrzeugs etc. ermöglichen eine zunehmende Distanznahme zu den Mitmenschen in der Wohnumgebung. Stattdessen bilden sich überörtliche Freundeskreise und Neigungsgruppen.

Zum anderen verlangt die zunehmende Verrechtlichung moderner Alltagsvollzüge – in Kombination mit dem wachsenden Unverständnis bzw. überzeugter Ablehnung bei den vom Brauchereignis Betroffenen/Gästen/Zuschauern eine adäquate rechtliche Absicherung. Hierzu ist in der Regel eine spezielle anlassgebundene Haftpflichtversicherung ebenso erforderlich wie die behördliche Genehmigung der Brauchausführung. Damit erhöhen sich der Organisationsaufwand und die Notwendigkeit einer gewissenhaften Vorbereitung des Brauchvollzuges weiter.

Diese Gesichtspunkte mögen genügen, um die spezifische Situation der Brauchpraxis in unserer Gegenwart zu umreißen und damit jene generell höhere Bedeutung von Planungs- und Verständigungsschritten im Umfeld gerade von traditionsorientierten und öffentlichkeitswirksamen Bräuchen aufzuzeigen.

Gründe für die Wahl des Beispiels Weisertweckenfahrt

Um jene Verhandlungs- und Verständigungsmomente der Brauchausübung im Folgenden an einigen konkreten Beispielen zu verdeutlichen, wähle ich hierzu den Brauch der Weisertweckenfahrt. Erstens hat dies damit zu tun, weil sich hier ein besonders qualitätvoller persönlicher Zugang ermöglichte, der die genaue Erhebung der für mein Forschungsinteresse wichtigen Daten zuließ, ohne dabei die vorgefundene Situation merklich zu beeinflussen bzw. zu stören. Dieser vorteilhafte Umstand ergab sich, als bei einem meiner Bekannten der erste Sohn geboren wurde und dessen Freundeskreis die Würdigung dieses Ereignisses mit einer Weisertweckenfahrt plante. Die Initiatoren traten an mich heran, da sie einen Kontaktmann benötigten, der wichtige technisch-organisatorische Informationen für die Planung ihres Unterfangens von diesem Bekannten erlangen konnte, ohne dass dieser im Zuge solcher Vorerkundigungen auf das Vorhaben aufmerksam gemacht worden wäre. Meine Aufgabe war demzufolge, die Terminplanungen des jungen Elternpaares an den ins Auge gefassten Wochenenden zu erkunden, die örtlichen und häuslichen Gegebenheiten näher zu sondieren usw. Einmal in das Vorhaben involviert, konnte ich umstandslos das Brauchgeschehen samt seinen Absprachen und Vorbereitungen von den ersten Planungen an begleiten – in teilnehmender Beobachtung und in Gesprächen mit den Brauchausführenden und einigen Betroffenen.[1544]

Zweitens ist mir die Brauchausführung von Jugend an aus eigenem Erleben bekannt. Dieses Wissen war mir neben der Kenntnis einschlägiger Fachliteratur eine nötige Voraussetzung, um die beobachteten Vorbereitungen und schließlich die Durchführung kritisch begleiten und beurteilen zu können. Bei der Wahl meiner teilnehmenden Rolle war es mir allerdings ein klares Anliegen, möglichst wenig Einfluss auf die Entscheidungsprozesse zu nehmen. Dies ließ sich so auch realisieren.

Drittens eignete sich aus der Sicht des gewählten Forschungsansatzes dieses Brauchgeschehen neben dem persönlichen Zugang wegen seiner strukturellen Beschaffenheiten.[1545] Denn das Weisertweckenfahren gehört zu einem Brauchtypus, der relativ komplex gebaut ist: eine phasenmäßig gegliederte Gruppenaktion mit deutlichem Organisationsaufwand, mit einer Reihe von Requisiten und hohem Inszenierungsgrad; noch dazu ein Geschehen, das auf öffentliche Wirksamkeit bedacht ist und hierzu über weite Strecken auch im öffentlichen Verkehrsraum abläuft. Zum anderen wird dieser Brauch in aller Regel von den Akteuren nicht in dichter Regelmäßigkeit vollzogen – etwa wie Jahreslaufbräuche – sondern je nach Bedarf hin und wieder. Insofern ist bei den Teilnehmern insgesamt mit einer höheren Unvertrautheit und größerem Beratungsbedarf zu rechnen. Des Weiteren lässt sich für die beobachteten Landkreise Rosenheim und Traunstein in den vergangenen ca. 25 Jahren eine sichtliche Popularisierung dieser Brauchform beobachten. Diese aktuelle Attraktivitätssteigerung ist vor allem deshalb bemerkenswert, da sich diese Brauchform wegen ihres privaten Anlasses und dessen Unwägbarkeiten nicht in ein standardisiertes Repertoire von Vereins- und Verbandsaktivitäten einpassen lässt. Die seit Mitte der 1970er-Jahre durchgeführten Weisertweckenfahrten wurden zwar zu einem guten Teil von Vereinen (Feuerwehr, Trachtenverein etc.) getragen, doch zur knappen Hälfte von nicht organisierten Freundeskreisen, Nachbarschaften etc. ausgeführt. Hierüber wird auch ein uneinheitliches Publikum der Akteure erkennbar. Korrespondierend hierzu weist schließlich diese Brauchform eine merkliche Variationsbreite in den konkreten Ausführungsweisen auf. Darin werden eine relativ hohe Flexibilität des Brauchmusters und ein lebendig-kreativer Umgang damit fassbar. Gleichzeitig deuten diese Spielräume auf nötige Absprachen und Entscheidungsfindungen hin, die je nach kulturellem Milieu und Interessenlage der Brauchausübenden ausfallen können.

Die Variationsbreite des Brauchgeschehenes

Das Grundmuster des Brauches, wie es im Kurztext zu diesem Langtext auf Seite 4 („Praktische Brauchanalyse: das Weisertweckenfahren“) geschildert wird und dergestalt seit den ersten Brauchaufzeichnungen aus dieser Region ab den 1920er-Jahren belegt ist, erfährt über diese Variationen charakteristische Erweiterungen und zum Teil stilistische Veränderungen. Deshalb ließ gerade die Brauchform des Weisertweckenfahrens ergiebige Aufschlüsse zum Einfluss der Akteure auf das Brauchgeschehen und dem dadurch erhöhten Kommunikations- und Organisationsbedarf erwarten.

So zeigt sich die Lebendigkeit des Brauches in einer Reihe von interessanten Variantenbildungen.[1546] Der Wecken selbst variiert nicht nur in der Art des Teiges (klassisch ein reiner Semmelteig, dann auch süßer Hefeteig, zuweilen mit Rosinen) und seiner Gestaltung (klassisch die Weckenform, neuerdings auch Zopfform und – bislang singulär – die Brezenform), sondern auch in seiner Länge: Während in den 1920er-Jahren Weckenlängen von drei bis vier Meter gängig waren, stiegen die Maße bis zur Gegenwart beständig an auf bis zu 13 Meter Länge. Aber auch kurze Wecken von 1,2 Meter sind anzutreffen. Weitgehend unabhängig davon werden die unterschiedlichsten Transportmöglichkeiten genutzt. Regelhaft scheint hierbei seit den 1960er-Jahren lediglich der Ausschluss der zeittypischen Alltagsgefährte (PKW, Motorrad, moderne Traktoren) zugunsten von inzwischen zu binnenexotischen Besonderheiten gewordenen Pferdefuhrwerken mit traditionellen Holzwägen (so genannten „Leiterwägen“ etc.), Oldtimer-Bulldogs mit älteren landwirtschaftlichen Anhängern, bei kürzeren Wecken auch Schubkarren, traditionelle hölzerne Handwägen oder Fahrräder, schließlich generell – wenn auch selten – das gemeinsame Tragen des Weckens auf einem Brett. Der Wecken wird in jedem Falle auf einem seiner Länge entsprechenden Brett befestigt, das üblicherweise mit Papiergirlanden, Tannengrün etc. geschmückt wird und auf dem jeweiligen Gefährt fixiert ist. Als weiterer Schmuck am Gefährt tritt seit den 1950er-Jahren fallweise eine über dem Wecken gespannte Wäscheleine mit verschiedenen Babyutensilien hinzu. Schon 1938 verweist ein dem damaligen Ochsengespann folgender Kinderwagen auf den Anlass.

Diese auf den Kindersegen anspielenden Requisiten eröffnen eine breite Palette von weiterem Zubehör und nun auch dramaturgisch-inszenatorischen Handlungen. Die Thematisierung des neugeborenen Erdenbürgers fortführend, kann ein Teilnehmer mit auffällig gestalteter Windelkasse Geld sammeln oder ein als „Amtsarzt“ verkleideter Akteur den Zug mit seinen Utensilien (besonders Arztkoffer, Spritze, Bandagen) begleiten und während des Anmarschweges die übrigen Akteure „verarzten“, um schließlich am Zielort die Identität des Stammhalters medizinisch zu überprüfen. In einigen Gemeinden südlich von Rosenheim, wo dieser Brauch seit den 1920er-Jahren bis heute ausschließlich zur Faschingszeit ausgeführt wird, begleiten auch ein Pate und eine Patin auf einem Gäuwagerl[1547] die Gesellschaft. Des Weiteren sei lediglich noch ein vielfach genutztes Thema für theatralische Zurichtungen angesprochen: Es ist die Überwindung der Wegstrecke, die oftmals mit Maßband, Stäben, Latten etc. umständlich vermessen wird. Neben dem hierfür verwendeten Instrumentarium ist dabei besonders die quirlige Aktion des „Vermessungstrupps“ maßgeblich. In diesem Zusammenhang sucht man fortwährend den Kontakt und die Kommunikation mit Passanten und Anwohnern. Auch probiert man, den motorisierten Straßenverkehr zu beeinträchtigen und Wegezoll zu erheben. Zwischenstopps bei Geschäften und insbesondere bei Gastwirtschaften an der Wegstrecke gehören ebenfalls zu diesem Repertoire.

Schließlich kann am Zielort die Übergabe des Weckens an das Elternpaar in verschiedener Weise ausgestaltet sein. Die Variationen beziehen sich insbesondere auf den Anschnitt bzw. Anbiss des Weckens. Sie reichen vom Anschneiden des Weckens mit einer alten Holzfäller- Wiegensäge über die Forderungen, dass das Elternpaar den Wecken gemeinsam anbeißen muss und sich dazu unter Umständen niederzuknien habe, bis hin zur Übergabe von Salz gemeinsam mit dem Brot des Weisertweckens. Seit den 1950er-Jahren hat sich mehr und mehr durchgesetzt, den Wecken abschließend über die Balkontüre oder Fenster in den ersten Stock des Hauses hineinzuheben. Diese insgesamt zu inszenatorischer Opulenz und gestalterischem Pleonasmus tendierenden Ausführungspraktiken sind in der Vielzahl der Fälle grundiert mit musikalischer Begleitung (die vom solistischen Zieharmonikaspieler bis hin zur vollständigen Musikkapelle reichen kann) und mit einem einheitlichen Kleidungsstil der Brauchträger (hier begegnen in der Regel Vereinstrachten und Vereinsuniformen).

Einige bemerkenswerte Varianten beziehen sich auf die klassische Geschlechtsspezifik der Brauchausübung, die als Akteure bis in die 1980er-Jahre nur Männer kennt. Hier entwickelten sich im Laufe der Zeit mehrere Abweichungen von diesem traditionellen Muster, die zur Gegenwart hin ihren emanzipatorischen Gestus immer stärker aufscheinen lassen. Waren Frauen lange Zeit allenfalls an der Dekoration des Weckens und des Gefährtes beteiligt und auf der Wegstrecke allenfalls als passiv mitziehende Begleiterinnen geduldet, so haben sich über einzelne Zwischenstufen schließlich seit den 1980er-Jahren auch von Frauen eigenständig organisierte und durchgeführte Weisertweckenfahrten entwickelt. Diese bislang vereinzelten Aktionen solch reiner Frauenpartien geben sich gestalterisch durchwegs bescheidener, d. h. vor allem kleiner dimensioniert und ohne jene den ganzen Straßenraum umgreifende Dramaturgie der männlich dominierten Züge. Der Anlass dieser von Frauen organisierten Brauchaktionen ist außerdem in einigen wenigen Fällen die Geburt eines Mädchens. Damit aber wird die komplette Alternative zum traditionell männlich orientierten Brauchschema erreicht.[1548]

Gerade vor dem Hintergrund solcher Dynamiken und der hier nur in ihren Hauptzügen skizzierten Variationsbreite erscheinen nun Aushandlungs- und Planungsprozesse vor und während der Brauchrealisation unabdingbar. Einige ausgewählte Aspekte daraus sollen nun am Beispiel des konkret untersuchten Falles präsentiert werden.

Ausgewählte Aspekte der konkreten Brauchpraxis

Die Vorbereitungsphase der empirisch begleiteten Weisertweckenfahrt umfasste ca. fünf Monate. Nach der Geburt des Sohnes im November 1999 bildete sich rund sechs Wochen später eine kleine Planungsgruppe. Diese kam auf Initiative von Herrn Huber[1549] zustande, der Mitglied in dem vom Kindsvater geleiteten Traditionsverein ist. Huber war auch neben dem Mitglied Meier der zentrale Akteur in der vorerst vierköpfigen Planungsgruppe. Als Ausführungstermin wurde der Monat Mai wegen der wärmeren Witterung ins Auge gefasst. Das grobe Vorstellungsbild, das sich bei dem ersten Gespräch der Planer erschloss, entsprach im Wesentlichen dem referierten Grundschema des Brauchablaufes (vgl. Kurztext, Seite 4 „Praktische Brauchanalyse: das Weisertweckenfahren“). Auffällig war vom ersten Gespräch an, dass nur ein geringer Teil der Ausführenden auf einen konkreten Erfahrungshintergrund aus früheren Teilnahmen an Weisertweckenfahrten zurückblicken konnte. Im engeren Planungskreis besaßen zwei Personen einschlägige Erfahrungen, unter den späteren insgesamt 14 Teilnehmern kamen lediglich vier weitere Personen hinzu.

Herr Huber – der Ideengeber für die geplante Aktion – hatte selbst noch nie an einem solchen Ereignis teilgenommen, obwohl er aus einer alteingesessenen Familie seines Heimatortes im Inntal stammt, wo er nach wie vor auch wohnt. Herr Huber ist jedoch sehr traditionsbewusst, besitzt großes heimatkundliches Interesse und sammelt entsprechende Literatur über seinen Heimatort sowie dessen nähere Umgebung. Er plädiert deshalb dafür, sich in Fragen der konkreten Gestaltung und Ausführung des Weisertweckenfahrens an den Brauchbeschreibungen zu orientieren, die eine alte Heimatbeilage der örtlichen Zeitung „Oberaudorfer Anzeiger“ aus den 1920er-Jahren in fortlaufender Serie gab. Dort fanden sich allerdings kaum verwertbare Hinweise.[1550] Die Mitglieder der Planungsgruppe besaßen Grundkenntnisse zum Brauchablauf allerdings aus zwei anderen Quellen: Erstens zogen sie bei ihrem persönlichen Umfeld Informationen ein. Zweitens hatte die regionale Tageszeitung in den vergangenen 20 Jahren in der Regel jährlich mehrfach Kurzberichte mit Foto über ausgeführte Weisertweckenfahrten veröffentlicht. Beide Quellen zusammen leisteten Orientierung, legten in ihren unterschiedlichen Auskünften jedoch auch die Basis für Diskussionen und individuell für Irritationen.

Bei den ersten Gesprächen wurden auch rechtliche Aspekte und die Kostenfrage behandelt. Zudem vereinbarte man Strategien zur Suche nach einem Weckengefährt und einem Pferdehalter, denn die Priorität war von Anfang an auf ein Pferdefuhrwerk gelegt. Dieser Wunsch erfüllte sich tatsächlich auch, obwohl der Weg dorthin beschwerlich war und durch deutliche Rückschläge gekennzeichnet wurde. So sprang noch 14 Tage vor dem Ausführungstermin, der schließlich auf Samstag, den 6. Mai festgelegt worden war, der zunächst verpflichtete Pferdehalter ab. Auch die Suche nach einem geeigneten Wagen zog sich über drei Monate hin, bis sich schließlich der Landwirt in direkter Nachbarschaft zum Haus des Bekannten bereiterklärte, seinen im Wirtschaftsteil seines Hofes eingemotteten hölzernen Leiterwagen[1551] für diesen Zweck bereitzustellen. Der junge Bauer bot auch an, dass die Vorbereitungsarbeiten zur Weisertweckenfahrt im Hofraum seines Anwesens ausgeführt werden können. Diese benachbarte Landwirtschaft erwies sich schließlich als die ideale Ausgangsbasis für alle Vorbereitungen.

Zu Mitte März waren dann bereits die grundsätzlichen Voraussetzungen zur Durchführung (Gefährt, Fahrtroute, Polizei) geklärt, so dass nun die näheren Details vereinbart werden konnten. Jetzt wurde der Durchführungstermin im Mai festgelegt, der Pferdebesitzer ausgewählt, die Art und Länge des Weisertweckens vereinbart. Außerdem beschloss man die Sondierung von Bäckereien für die Anfertigung des Weisertweckens. Den Vorschlag eines Vereinsmitgliedes, über dem Wagen auch eine Wäscheleine zu spannen und Kinderkleidung daran aufzuhängen, griff man zunächst interessiert auf, ließ ihn dann jedoch fallen. Die Gründe hierfür waren weitere Kosten für Kindergewand und zusätzliche Umstände beim Anbringen von Stangen für die Wäscheleine etc. Ob der Verein oder aber jeder Teilnehmer anteilig die Unkosten der Aktion, die sich schließlich auf 519,50 DM (= ca. 261 €) beliefen, übernehmen werde, war zu diesem Zeitpunkt noch offen. Doch wie die Diskussion dazu zeigte, waren die Initiatoren aus idealistischem Bestreben und sichtlicher Freude an der Sache an der Durchführung interessiert und deshalb auch bereit, selbst entsprechende Finanzmittel zur Verfügung zu stellen.

Den letzten Punkt der Beratung bildete die Frage, welcher Personenkreis zur aktiven Teilnahme an der Weisertweckenfahrt aufzufordern sei. Grundsätzlich waren zwei Personengruppen relevant: einerseits die Vereinsmitglieder und andererseits die Verwandten und Freunde der Eltern. An dieser Stelle wurde nun vollends klar, dass die lange gehegte Geheimhaltung des Vorhabens gegenüber den Eltern des Stammhalters nun aufzugeben war. Denn jetzt benötigte man die direkte Unterstützung in Form einer Liste der in Frage kommenden Bekannten der Eltern und musste ihnen dazu das wahre Vorhaben offenbaren. Da unter dem Freundeskreis der Eltern aus früheren Studienzeiten mit einer Anzahl von Personen zu rechnen war, die weder aus Altbayern stammen noch nach dem Studium in dieser Region sesshaft wurden, stellte sich die grundsätzliche Frage, inwieweit dieser Personenkreis miteinbezogen oder eine klare regionale Auswahl getroffen werden solle. Man kam jedoch schnell und übereinstimmend zu der Meinung, dass die Beteiligung am Weisertweckenfahren allen offen stehen solle.

Anders jedoch waren die Entscheidungen zum Lebensalter und zum Geschlecht der Teilnehmer, was intensiv diskutiert worden war. Hier wurde schließlich vereinbart, dass nur erwachsene Männer aktiv teilnehmen dürfen. Man wollte damit vermeiden, dass die Fahrt den Anstrich eines Familienausfluges oder Kindergartenfestes annimmt. Zudem erschienen in bezug auf Kinder und Jugendliche die Gefahren im direkten Umgang mit dem Fuhrwerk und beim Agieren auf der Straße zu groß. Da als Durchführungsmuster des Weisertweckenfahrens die rein männlich besetzte Gruppe junger Erwachsener bekannt war, bei der Frauen traditionell nicht beteiligt sind, entschied man sich nach längerer Aussprache ebenfalls für diese Form. Dabei waren anfangs die Meinungen keineswegs fest gefügt, Herr Huber plädierte durchaus für die gleichwertige Beteiligung der Frauen. Die Argumentation, wonach eine Beteiligung der Frauen nichts mehr mit einer traditionellen Brauchausführung des Weisertweckenfahrens zu tun habe, setzte sich jedoch schließlich durch. Im Folgenden lud der Planungsstab insgesamt ca. 90 Personen zur aktiven Teilnahme ein. Mit einer sicheren Beteiligung von etwa 13 bis 20 Leuten konnte gerechnet werden, darunter von mindestens sechs Personen, die über den Brauch aus eigener Erfahrung in groben Zügen Bescheid wussten. Tatsächlich nahmen an der Weisertweckenfahrt dann 14 Personen aktiv teil.

Neben dem hohen Planungsaufwand als solchem und den notwendigen Meinungsbildungen im Planungsstab ergaben sich auch in zwei Punkten Turbulenzen, die die Nerven der Planer bis zum Ausführungstag beanspruchten. Denn u. a. zwei wichtige Vereinbarungen wurden von den externen Partnern nicht eingehalten. Solch externe Partner waren vor allem für die Anfertigung des Weckens, für das Pferdefuhrwerk und für die Pferde notwendig. Stellvertretend möchte ich lediglich auf die Auswahl einer geeigneten Bäckerei eingehen, wo sich für den Planungsstab überraschend Schwierigkeiten einstellten. Denn die zunächst vorgesehenen drei Bäckereien im Wohnort des Bekannten schieden aus verschiedenen Gründen aus. Eine hatte vor kurzem wegen Alters der Besitzer geschlossen, die andere verlangte einen deutlich überhöhten Preis für den Weisertwecken (200–300 DM = ca. 100–150 €) und die dritte bestand ähnlich wie die erste als kleiner Familienbetrieb, dessen älteres Besitzer-Ehepaar sich die Belastung eines solchen Auftrages gerade parallel zum Samstagsgeschäft nicht mehr auftun wollte, obwohl es vierzehn Tage zuvor zugesagt hatte. Somit wich man in eine andere Gemeinde aus. Der Bäcker im ca. sechs Kilometer entfernten Ort kannte den Brauch des Weisertweckens und erwies sich als sehr umgänglich. Zudem bot er einen Preis von 95 DM = ca. 43 €), also erfolgte die Bestellung bei ihm.

Diese Situation illustriert eine gängige Entwicklung der Gegenwart. Denn nicht nur im Bäckerhandwerk zeichnet sich seit Jahren eine zunehmende Konzentration auf wenige Großbetriebe mit Filialnetzen ab. Am Beispiel des für den Weisertwecken zuerst kontaktierten Ortes lässt sich diese Tendenz augenscheinlich verdeutlichen. Dort löst sich die bis vor kurzem existierende Struktur des Bäckereihandwerks in Form mehrerer eigenständiger Familienbetriebe mit kleingewerblicher Betriebsform zugunsten weniger Anbieter auf, die entweder nur mit einer Filiale vor Ort vertreten sind oder selbst zu einer entsprechenden Betriebsgröße ausgebaut haben. Sowohl die Angebotsvielfalt als auch die Bereitschaft, einen für den örtlichen Brauchvollzug benötigten Sonderauftrag zu maßvollen Konditionen anzunehmen, schwinden daher. Als Resultat dieser Ausdünnung potentieller Vermittler und Dienstleister gerade für traditionsorientierte Brauchrequisiten bildet sich eine kleine Schar von Spezialisten heraus, die überörtlich nachgefragt werden und damit auch für ortsbezogene Brauchausübungen einen überörtlichen Kommunikationsraum etablieren. Entsprechend steigen die Kontakte zu fremden Personen ebenso an wie die heute gängigen Formen der Kommunikation mit Telefon, Telefax usw. in der Planungsphase zunehmen.

Ungenügende Brauchkenntnisse, die mitunter zu Unsicherheiten und Irritationen führten, waren nicht nur bei den Planern und den aktiven Teilnehmern zu beobachten, sondern auch bei weiteren mit der Brauchaktion in Kontakt kommenden Personenkreisen. So waren beim Zug der Weisertweckengruppe durch die Siedlung die unterschiedlichsten Reaktionen der anliegenden Hausbewohner sowie der passierenden Fußgänger, Radfahrer und Autofahrer zu verzeichnen. Sie lassen sich in drei Verhaltenstypen gliedern, die etwa gleich häufig anzutreffen waren. Es gab zum einen freudige und aufgeschlossene Reaktionen: die Weisertweckenfahrer wurden in den Garten gebeten, mit alkoholischen Getränken versorgt, mit Geld beschenkt und näher nach dem Ziel der Fahrt befragt. Zum anderen ergaben sich leicht irritierte Reaktionen und schüchterne Kontaktnahmen, die in aller Regel auf der Unkenntnis des Brauches beruhten, wie aus den Wortwechseln und stichprobenartigen Nachbefragungen deutlich hervorging. Aufgrund dessen bestand Skepsis oder Verlegenheit im Umgang mit der Gruppe der Weisertweckenfahrer. Insgesamt zeigte sich diese Personengruppe allerdings amüsiert und der Aktion gegenüber grundsätzlich positiv eingestellt, wenn auch sichtlich distanziert im konkreten Verhalten. Zum dritten zeigten einige Personen ein klar ablehnendes Verhalten. Neben starker Unsicherheit ist in diesen Fällen auch eine bewusste Ablehnung solcher brauchtümlichen Aktionen bzw. ein klarer Unwille zur Kommunikation sehr wahrscheinlich. So traten Hausbewohner, die sichtlich zuhause waren, auch nach mehrmaligen Aufforderungen nicht vor die Türe, oder es wendeten in zwei Fällen Autofahrer, als sie den Weisertweckenzug sahen, eilig ihren Pkw und flüchteten förmlich.

Auch der von Anbeginn formulierte Wunsch der Planer, auf der Fahrtstrecke Station an einer Gastwirtschaft machen zu können, erfüllte sich aufgrund der Unvertrautheit des hier ansässigen Gastwirtes mit dem Brauchgeschehen nicht in der beabsichtigten Weise. Im Ortsteil, in dem die Eltern des Stammhalters wohnen, existiert nur eine Wirtschaft, die von einem Italiener geführt wird. Diese Gaststätte präsentiert sich als kleines Wirtshaus für normale Ansprüche, in dem sich ein Stammtisch versammelt und überwiegend Männerrunden anzutreffen sind. Für die Weisertweckenfahrt stellte sie insofern ein passendes Ziel dar. Im Vorgespräch mit dem italienischen Wirt wurde allerdings schnell deutlich, dass dieser den Brauch nicht kennt und auch das Anliegen nicht wirklich versteht. Die idealistische Vorstellung, wonach die Schar der Weisertweckenfahrer beim Dorfwirt einige Maß Freibier aus Anteilnahme an dem freudigen Ereignis entgegennehmen kann, bewahrheitete sich in diesem Falle nicht. Am Tag der Weisertweckenfahrt verlief der Zwischenstopp bei dieser Wirtschaft entsprechend: Es dauerte einige Zeit, bis der Wirt sichtlich in Unkenntnis der gesamten Aktion erst eine, dann eine zweite Maß Bier auf den Vorplatz brachte, die er sich natürlich bezahlen ließ. Insgesamt blieb dieser Halt als relativ unmotivierte Episode in Erinnerung, da sich der Wirt sichtlich nicht von dem Ereignis stimmungsmäßig beeinflussen ließ und das Ganze dadurch weithin das Flair einer Tankstellenpause gewann.

Die Eltern des Stammhalters hatten zwar vom Brauch des Weisertweckenfahrens schon des Öfteren gehört und sie besaßen auch eine diffuse Vorstellung davon. Konkret miterlebt oder teilgenommen hatten sie jedoch noch nie. Deshalb erteilten die Planer nähere Informationen zum Brauchablauf am Zielort und zu den damit einhergehenden Verhaltensanforderungen an das Elternpaar. Mit diesen Instruktionen ausgestattet, verlief der letzte Teil der Weisertweckenfahrt in der gewünschten Weise. Im Anschluss hatten die geehrten Eltern des Stammhalters für eine ausgiebige Brotzeit und reichlich Getränke gesorgt.

Über die Frage der Beteiligung von Frauen an der Weisertweckenfahrt bestand von Anfang an im Planungsstab eine Diskussion, die zunächst zugunsten einer rein männlichen Aktion entschieden wurde. Mit der Hinzunahme von zwei Marketenderinnen wurde dieses Prinzip jedoch anschließend durchbrochen. Nachdem im Vorfeld von Frauen der beteiligten Vereinsmitglieder oder anderen Eingeladenen keine Kritik an den Planungsstab herangetragen wurde, wurden während des Tages der Weisertweckenfahrt durchaus Einwände und Unverständnis an dieser Entscheidung laut. Besonders die Gruppe derjenigen Frauen, die mit ihren Ehemännern seit dem Vormittag am Schmücken des Wagens beteiligt war, stand dem Ausschluss kritisch bis verständnislos gegenüber und äußerte sich auch entsprechend gegenüber dem Planungsstab, der allerdings keine Änderung des geplanten Ausführungsrahmens mehr vornahm. Zunächst war ja vorgesehen, dass sich die Frauen während der Fahrt bereits zum Haus meines Verwandten begeben und dort mit den weiteren Anwesenden dann die Weisertweckenfahrer empfangen. Aus verständlichen Gründen erschien den Frauen jedoch die Beobachtung des Weisertweckenzuges auf seiner Fahrtroute interessanter, und so begleiteten sie die Gruppe in gewisser Distanz, ohne sich in die Aktionen einzumischen. Insgesamt wurde an diesem Tag für alle Beteiligten die grundsätzliche Problematik dieser traditionsorientierten Entscheidung in der heutigen Zeit spürbar. Es kam zwar zu keinen größeren Auseinandersetzungen deswegen, doch wurde deutlich, dass die Frauen diese Entscheidung keineswegs vollauf akzeptierten.

Im Kontrast zu bestimmten Unsicherheiten und Irritationen bei der Handhabung des brauchtümlichen Vollzuges zumal in seinen traditionellen Komponenten ließ sich ein ebenso sicherer wie engagierter Umgang mit der technischen Moderne beobachten, der im Übrigen auf seine Vereinbarkeit mit der Brauchaktivität nicht weiter hinterfragt wurde. In diesem Zusammenhang darauf hinzuweisen, dass natürlich alle Teilnehmer mit dem PKW anreisten und der benachbarte Bauer dafür extra einen Wiesenstreifen zur Verfügung gestellt hatte, damit der etwa 25 Automobile umfassende Fuhrpark überhaupt Platz finden konnte, scheint ebenso trivial wie die Tatsache, dass ein Gast des Wirtshauses an der Fahrtroute seinen Schwager im Nachbardorf per Handy zu dem sehenswerten Ereignis einlud. Fotoapparate und Videokameras kamen ebenso selbstverständlich zum Einsatz. Zu diesen Dokumentationsgeräten griffen auch einige der Weisertweckenfahrer, als man am Ziel angelangt war und das Übergabezeremoniell an die Eltern des Stammhalters stattfand. Zwei Phänomene sind darüber hinaus besonders hervorhebenswert:

Zum einen fügte es sich zufällig, dass zur Zeit der Weisertweckenfahrt an dem Abschnitt der Staatsstraße, der innerhalb der Fahrtroute lag, die Polizei zur Geschwindigkeitsmessung ein Radargerät installiert hatte. Als dies von den Weisertweckenfahrern bemerkt wurde, löste diese Situation allgemeine Heiterkeit aus. Schließlich kamen drei Teilnehmer auf die Idee, die Polizeibeamten zu bitten, ob sie nicht bei der Vorbeifahrt des Pferdegespannes das Radargerät auslösen könnten, um ein Foto wie bei Geschwindigkeitsüberschreitungen zu erhalten. Die Polizeibeamten waren der Sache gegenüber aufgeschlossen, wussten allerdings über den Handauslösemechanismus an ihrem Radargerät nicht Bescheid. Hier konnte jedoch ein Teilnehmer abhelfen, der – obwohl selbst kein Polizist – in dieser Frage sachkundig war. So entstanden zwei vom Radargerät geblitzte Fotos, die von einem der Beamten nach der Entwicklung auch tatsächlich zugeschickt wurden. Weil diesem Foto der spektakuläre Anstrich noch fehlte, setzte sich einer der Teilnehmer später an seinen Computer, scannte das Foto ein und fügte in den vorgesehenen Bildausschnitt analog zu den erkennbaren Zahlenreihen die Angaben für eine deutliche Geschwindigkeitsübertretung ein. In dieser Bearbeitung kreist seither das Radarfoto von dieser Weisertweckenfahrt gleich einer Trophäe bei den Teilnehmern und ihrer Bekanntschaft umher.

Zum anderen entstand kurz nach der erfolgreichen Durchführung der Weisertweckenfahrt noch am selben Tag bei der geselligen Brotzeit die Idee, wie zu solchen Anlässen vielfach praktiziert, für die Heimatzeitung einen kurzen Bericht mit Foto zu verfassen. Nach kurzer Diskussion unter etwa fünf Teilnehmern war der Beschluss gefasst. Herr Bichler übernahm die Abfassung des Textes, ein weiterer Teilnehmer versprach, seinen Film schnellstmöglich entwickeln zu lassen, und so fanden sich knapp zwei Wochen später zwei Artikel in den lokalen Blättern, die von der regelkonformen und erfolgreichen Brauchübung unter Anführung einiger Details berichteten. In dieser Art erscheinen in dieser Region jährlich Berichte von Weisertweckenfahrten, die alle den geglückten und brauchgemäßen Verlauf verkünden. Von den Mühen der Vorbereitung, von Meinungsverschiedenheiten und von Irritationen erfährt man darin allerdings nichts.

Literatur

[Aurdorfer Heimgarten 1924] Aurdorfer Heimgarten 1 (1924) Nr. 1 und 2 vom 12. April 1924 (als Faksimile-Ausgabe neu herausgegeben vom Historischen Verein Audorf e.V., Oberaudorf 2001).

[BeckU 1986] Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne, Frankfurt a. M. 1986.

[Beer 2003] Beer, Bettina (Hg.): Methoden und Techniken der Feldforschung, Berlin 2003.

[Beitl 1965] Beitl, Klaus: „Der Brotsegnende Heiland“. Beschreibung eines Gründonnerstags- und Wallfahrtsbrauches aus Mariazell. In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 68 (1965) S. 105–150.

[Bimmer 2001] Bimmer, Andreas C.: Brauchforschung. In: Rolf W. Brednich (Hg.): Grundriß der Volkskunde. Einführung in die Forschungsfelder der Europäischen Ethnologie, Berlin 2001 (3. Auflage) S. 445–468.

[Burckhardt-Seebass 1989] Burckhardt-Seebass, Christine: Zwischen McDonald´s und weißem Brautkleid. Brauch und Ritual in einer offenen, säkularisierten Gesellschaft. In: Österreichische Zeitschrift für Volkskunde 92 (1989) S. 97–110.

[Girtler 2001] Girtler, Roland: Methoden der Feldforschung, Wien/Köln/Weimar 2001 (4. Auflage).

[Köstlin 1999a] Köstlin, Konrad: Brauchtum als Erfindung der Gesellschaft. In: Historicum 1999, Nr. 63, S. 9–14.

[Schulze 1997] Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart, Frankfurt a.M./New York 1997.

[Schulze 2003] Schulze, Gerhard: Die beste aller Welten. Wohin bewegt sich die Gesellschaft im 21. Jahrhundert? München/Wien 2003.

[Scharfe 1991a] Scharfe, Martin (Hg.): Brauchforschung, Darmstadt 1991.

[Schmidt-Lauber 2001] Schmidt-Lauber, Brigitta: Das qualitative Interview oder: Die Kunst des Reden-Lassens. In: Silke Göttsch/Albrecht Lehmann (Hg.): Methoden der Volkskunde. Positionen, Quellen, Arbeitsweisen der Europäischen Ethnologie, Berlin 2001 S. 165–186.

[Seifer 2001] Seifert, Manfred: Weisertweckenfahren – ein kritischer Situationsbericht zum Brauchgeschehen der Gegenwart. In: Studientagung zur Kulturarbeit in Niederbayern an der Universität Passau 2001 (= Universität Passau: Nachrichten und Berichte Sonderheft 23), Passau 2002 S. 51–82.

[Wey 1999] Wey, Hans-Willi: „Bei den Jungen geht´s rund ...“ Medienwirksame Fabrikation und Simplifizierung der Geschlechterdifferenz im Mailehenbrauch. In: Christel Köhle-Hezinger/Martin Scharfe/Rolf Wilhelm Brednich (Hg.): Männlich. Weiblich. Zur Bedeutung der Kategorie Geschlecht in der Kultur. 31. Kongreß der Deutschen Gesellschaft für Volkskunde in Marburg 1997, Münster/New York/München/Berlin 1999 S. 301–324.



[1542] Diese verengte Sichtweise überwindende Ansätze werden in der klassischen Brauchforschung allenfalls bei den Brauchkomplexen der Hochzeit sowie den höheren Kirchenfesten Ostern und Weihnachten sichtbar, wo dem zentralen Termin vorangehende Handlungsweisen mit berücksichtigt werden, insofern ihnen gleichfalls Brauchcharakter innewohnt und sie als konstruktive Entwicklungsschritte hin zum Brauchhöhepunkt interpretierbar sind. Dies gilt für die der Hochzeit vorangehende Sorge um die Aussteuer und die Verlobung ebenso wie für jene auf die kirchlichen Hochfeste hinführenden Zeitphasen der Fastenzeit und der Adventszeit. Jenseits hiervon verweise ich lediglich exemplarisch auf [Beitl 1965], worin sich ein eigener Abschnitt zu „Organisation und Vorbereitung“ des Brauches findet. – Im Zuge der Folklorismusdebatte innerhalb der Volkskunde (und darauf aufbauend) sind wichtige Arbeiten zur Brauchforschung im hier gemeinten Sinne entstanden. Ich verweise exemplarisch auf [MoserH 1964] sowie auf zwei Studien von [Schuhladen 1984a]; [Schuhladen 1985].

[1543] Hierzu und zum Folgenden siehe orientierend: [BeckU 1986]; [Schulze 1997]; Ders.: [Schulze 2003].

[1544] Zum methodischen Vorgehen vgl. exemplarisch: [Beer 2003]; [Schmidt-Lauber 2001]; [Girtler 2001].

[1545] Zur eingehenderen Beschäftigung mit dem Brauchkomplex der Weisertweckenfahrt siehe [Seifert 2002].

[1546] Quellengrundlage hierfür sind neben Daten aus meinen empirischen Forschungen und seltenen, oft verzerrenden Erwähnungen in der Brauchliteratur ca. 90 Kurzberichte in der regionalen Tageszeitung des Landkreises Rosenheim „Oberbayerisches Volksblatt“ (Zeitraum 1983–2003).

[1547] wörtlich „Landwagen“ = zweiachsiger leichter Pferdewagen in Kutschenform mit niedrigen Seitenwänden.

[1548] Zur brauchbezogenen Geschlechtsspezifik sowie ihrer medialen Konstruktion, die auch zur starken Berücksichtigung der oben referierten Varianten in der Presse beitrug, vgl. [Wey 1999].

[1549] Sämtliche Personenangaben dieses Beitrages sind anonymisiert.

[1550] [Aurdorfer Heimgarten 1924], Abschnitt „Von der Wiege bis zum Grabe: 1. Geburt“, S. 6.

[1551] Leiterwagen ist die Bezeichnung für einen alten Fuhrwerkstyp, dessen hölzerne Konstruktion Seitenwände aufweist, die in ihrer Form Leitern ähneln.

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