Mit großem Erfolg wurde im Herbst 1997 im Wiener Rabenhof-Theater „Holzers Peepshow“ aufgeführt. Die Geschichte – sie handelt ursprünglich in der Schweiz, war aber ohne Probleme für Österreich adaptierbar – ist schnell erzählt: Eine Bergbauernfamilie bestreitet ihren Unterhalt damit, daß sie gegen Geld einen Touristen-Blick in die gute Stube werfen läßt. Was es dort zu bestaunen gibt, ist „echtes“ Landleben – freilich als „Heidi“-Version jeweils unterschiedlich an japanische, deutsche oder amerikanische Bedürfnisse angepaßt. Zuschauer und Medien reagierten auf den gebotenen grotesken Einblick in den „menschlichen Alpenzoo“ recht einhellig: Von verloren gegangenem „Echtem“, „Originalem“ und „Authentischem“ war in den Reaktionen die Rede, aber auch von gedankenlosem „Verkauf“ des Heimischen an den Tourismus, von alpenländischer „Heile-Welt-Klischee“-Produktion, von zerstörter „Bauern-Identität“ und sprachlos machendem „Bauernsterben“. Kurz: „Holzers Peepshow“ wurde als treffende, deftigheitere Kritik am Tourismus in Österreich und insbesondere an dessen letztem Trend, dem „Erlebnisurlaub“, verstanden.[5132] Zur selben Zeit wurde in Salzburg der gleichfalls Erlebnisse in großer Zahl versprechende „Bauernherbst“ abgehalten. Freilich, nicht „heimatliche“, von Profidarstellern abgespulte Events waren gefragt, und es sollte auch bewußt nichts für Touristen „konstruiert“ werden. Lediglich ohnehin von den Einheimischen durchgeführtes Herbstbrauchtum sollte laut Veranstaltungskalender bei „erdigen und unverfälschten Veranstaltungen“ zum Programm gemacht werden – zu einem Programm, bei dem eben „erdige Kultur und Tradition“ für einen „unverfälscht, erdigen Genuß“ bürgten.
Soviel behauptetes erdig-echt Unverfälschtes auf nur wenigen Programmseiten von „Brot und Bräuchen“ (so jedenfalls „Die Presse“) ruft kritische Volkskundler auf den Plan, werden doch mit Brauch und Authentizität ihre zentralen Forschungsfelder angesprochen. Und im Gegenzug treten Tourismuspraktiker, die recht freimütig alte volkskundlich-heimatpflegerische Wissensbestände zu plündern pflegen, zur selbstsicheren Rechtfertigung an. So geschehen etwa in einer unlängst von den „Salzburger Nachrichten“ veranstalteten Expertenbefragung. Die für den „Bauernherbst“ so nachdrücklich reklamierte „Echtheit“, „Bodenverbundenheit“, und „Tradition“ würden – so ein Tourismusmanager in Entgegnung „wissenschaftlicher Abhandlungen der Volkskunde und Brauchtumspflege“ – nicht durch ihr hohes Alter, sondern in der konkreten Situation der Brauchausübung produziert. Nicht mehr folkloristische Zur-Schau-Stellung sei gefragt, sondern gemeinsames Tun. Dabei bestätige die hohe Zahl der Veranstaltungen, der Aktivisten und Zuschauer die ökonomische und alltagskulturelle Richtigkeit dieses „Erfolgsrezeptes“. Die so direkt angesprochenen Volkskundler reagierten, wenn auch mit anderen Argumenten. Ulrike Kammerhofer-Aggermann etwa hat zwar auch auf Authentizitätssucht und konstruierte Bauernherrlichkeit hingewiesen, doch ihre Kritik zielte vorrangig in eine andere Richtung: Der „Bauernherbst“ sei vor allem kein zukunftsträchtiges Tourismuskonzept. Und zudem würden solche Programme den „Schutzraum Alltagswelt“ und somit insgesamt den „Schutz der Bereisten“ gefährden und die Bauern in eine „Dienstleistungsrolle“ drängen. Diese könnten den ihnen durch solche Veranstaltungen vermittelten, von „außen herangetragenen Fremd- und Leitbildern“ ohnehin nicht entsprechen, und der „Erlebnisbauer“ und der „Bauernherbstwirt“ würden als Konsequenz von fehlender, wirklicher „Authentizität und Privatheit“ bald selbst zu „Erlebnistouristen“ mutieren.
Beide Standpunkte, so unterschiedlich sie auch inhaltlich sein mögen, sind letztlich auf eine sehr spezifische österreichische Tourismusdiskussion zurückzuführen. Daß sie so und nicht anders eingenommen wurden, mag freilich auch an jenen zwei emotionsgeladenen Fragen gelegen haben, die in ihrer Formulierung wenig zufällig – von den „Salzburger Nachrichten“ an den Tourismusexperten und an die Volkskundlerin gestellt wurden: „Was gibt es Schöneres, als bei Festen andere am Leben teilhaben zu lassen? Was gibt es Ärgeres, als sich im Tourismusgeschäft zu prostituieren?“[5133]
Jeremy Boissevain, ein Sozialanthropologe aus Amsterdam, hat kürzlich mit europaweit vergleichendem Blick die Folgen des Tourismus auf die „Gastgeber-Kulturen“ untersucht, und er sah dabei, trotz hierarchischer Beziehung von Gast und Gastgeber und trotz in vielfältiger Weise zu konstatierender „Verwertung“ von autochthoner Kultur, in den Einheimischen nicht nur passive Opfer des Massentourismus. Auch in Gebieten, in denen – wie etwa Österreich – Authentizität und bäuerliche Kultur besonders nachgefragt werde, seien die Einheimischen damit „erfinderisch“ und „geschmeidig“ umgegangen und hätten den Tourismus sogar „kreativ“ bewältigt.[5134] Eine solch nüchterne Bilanz wird hierzulande – man erinnere sich an die oben geschilderten Szenarien – nur bedingt auf Zustimmung stoßen. Es lohnt daher, wenn auch hier inhaltlich verkürzt, die Positionen von Tourismusbefürwortern und Tourismuskritikern näher zu betrachten. Überraschend ist dabei zunächst, daß sowohl in Pro- als auch in Contra-Stimmen „Authentizität“ und „Volkskultur“ im Mittelpunkt stehen. Das mag ihre zentrale Bedeutung im österreichischen Tourismusangebot unterstreichen.[5135]
Tourismusbefürworter überzeugen meist mit ökonomischen Argumenten: Der Fremdenverkehr habe Wohlstand und Beschäftigung in Regionen gebracht, die früher von Abwanderung und Armut geprägt waren. Doch erstaunlich schnell fallen auch „volkskulturelle“ Begründungen: Die in der Gegenwart so lebendige Volkskultur bedürfe teurer Investitionen und sei auf eine Wertschätzung angewiesen, die nur von einem großen Publikum (und damit auch von Touristen) gezeigt werden könne. Und der entsprechende Beweis ist schnell erbracht: Es gebe dort am meisten Volkskultur, wo – wie in Salzburg – der Tourismus stark sei, und zudem suche der Qualitätstourist nicht das Kitschige und Verkommerzialisierte, sondern das Echte, das Volkskulturelle. Die Konsequenz ist wiederum einfach: Der „gute“ Tourismus ist in dieser Lesart der natürliche Erhalter einer „echten Volkskultur“. Trotz alledem, so wird dieser Behauptung hinzugefügt, gebe es Probleme und Fehler. Doch diese könnten durch ein besseres Management, vor allem aber durch eine bewußtere Identität und ein stärkeres Selbstbewußtsein der Einheimischen korrigiert werden.[5136] Tourismuskritiker – in Wahrheit: Kritiker des Massentourismus[5137] – argumentieren nicht selten mit identen Begriffen, aber mit unterschiedlicher Zielrichtung. Der Tourismus kenne keine „nachhaltige Entwicklung“, sondern zerstöre nur Natur und überlieferte Lebensweise und habe zu einer „Verkitschung“ und „Verschandelung“ der Landschaft beigetragen. Dabei habe er eine „Versklavung“ und „Überanpassung“ der einheimischen Bevölkerung gefördert, die als notwendige Konsequenz eben alles – ihr kulturelles Erbe und damit auch die eigenen inneren Werte – vermarktet und verkommerzialisiert habe. Die kulturellen Folgen seien notwendigerweise „Heimatverlust“ und „Identitätslosigkeit“. Volkskundler und Volkskulturpfleger sind meist auf der Seite der Kritiker. Ihre ehemaligen Fachbegriffe „Folklore“ und „volkstümlich“ haben, für den Gebrauch ein wenig in „folkloristisch“ und „volksdümmlich“ abgewandelt, sogar Aufnahme in eine kämpferisch-kritische Alltagssprache gefunden.
Man kann die geschilderten Positionen zusammenfassend auf den Punkt bringen: Während Befürworter den Fremdenverkehr (und die Hochschätzung von Volkskultur) als österreichische „Erfolgsstory“ zu verkaufen trachten, sehen Kritiker im Tourismus nur eine „nationale Leidensgeschichte“. Er wird zwar als ökonomisch notwendig erachtet, bleibt aber doch vor allem ein von außen kommendes, kaum abzuwehrendes und auch nicht wirklich gestaltbares, meist aggressives „Naturereignis“. Tourismuskritik hat hierzulande eine entsprechend lange Tradition – eine Tradition, die gepflegt wurde von so unterschiedlichen Richtungen wie der so genannten kritischen „Anti-Heimat-Literatur“ oder der besorgten, am Lokalen orientierten Heimatkunde.
Anfang der achtziger Jahre war Griechenland wegen der viel gepriesenen Gastfreundschaft eine bereits überbuchte Reisedestination. Der damalige griechische Ministerpräsident Andreas Papandreu reagierte auf diese starke Nachfrage mit verletztem Nationalstolz: Einem modernen und selbstbewußten Staat widerspreche es, daß sich die Landesbewohner wie „ein Volk der Kellner und Zimmermädchen“ benähme oder von Touristen so behandelt würden.[5138] Solche kritischen, meist von den politischen und intellektuellen Eliten artikulierten Einstellungen, sind in Tourismusländern kein Einzelfall. Sie können in der Tat als Beleg dafür genommen werden, daß hierarchisch organisierte beziehungsweise als hierarchisch wahrgenommene Kulturkontakte nicht problemlos sind. In Österreich aber haben nahezu idente Einschätzungen nicht nur eine besonders lange Geschichte, sondern auch eine spezifische Ausrichtung.
Letzten Sommer etwa hat die Journalistin Barbara Coudenhove-Kalergi eine Wirtin vom kärntnerischen Weißensee mit einer Wortspende bekannt gemacht: „Der Kunde ist König, aber wir sind die Kaiser“. Und weiter: „Sie [die Wirtin] hätte weniger prägnant auch sagen können: Wir sorgen gut für unsere Gäste, aber wir lassen uns nicht zu Sklaven des Fremdenverkehrs machen.“[5139] Was zunächst nur Selbstbewußtsein im Gastgeber-Gast-Verhältnis signalisiert, paßt schon durch die Begriffswahl in eine lange Reihe österreichischer Tourismuseinschätzungen. Denn bereits zur Jahrhundertwende wurde beklagt, daß manche Teile Österreichs durch den Tourismus zu einer unterwürfigen „Bedienten-Nation für die Fremden“ verkommen würden; damit aber drohe insbesondere aus dem „freien, stolzen und urwüchsigen Tirolervolke“ ein „Volk von Knechten und Kriechern“[5140] zu werden.
Und in gedanklicher Fortsetzung hat der Schriftsteller Peter Turrini 1986 in einem Aufsatz über „Die touristische Bananenrepublik“ gleichfalls eine wortgewaltige Bilanz der behaupteten nationalen Überanpassung an Tourismusbedürfnisse gezogen: „Die Geschichte des österreichischen Tourismus ist die Geschichte einer Hurerei“.[5141] „Sklaven des Fremdenverkehrs“, unterwürfige „Bedienten-Nation, rückgratlose Überanpassung, „Hurerei“ – diese Stichwörter einer hierzulande traditionellen Tourismuskritik sollten zu denken geben, zumal problemlos weitere hinzuzufügen sind: In der mittlerweile mit Heftigkeit geführten Debatte über den „Ausverkauf Österreichs“ ist längst das historische Vorbild erwähnt worden; im Tourismus habe sich Österreich schon immer – real im Grundstücksgeschäft, kulturell in unterwürfigem Verhalten – „selbst verkauft“.[5142] Damit ist nicht nur die ökonomische Abhängigkeit des Landes vom Tourismus gemeint, sondern gleichzeitig wird auch eine kulturelle Deutung mitgegeben: Zur Jahrhundertwende wurde nämlich dem touristisch gebeugten „Volk von Knechten und Kriechern“ der aufrecht gehende Bauer eines „stolzen Bauernlandes“ entgegengestellt; und ab den sechziger Jahren wurde die behauptete Untertänigkeit mit einem modernisierten Leitbild, nämlich dem einem modernen Staat entsprechenden, selbstbewußten Industriearbeiter konfrontiert.
Tourismus ist nach beiden Richtungen – der ökonomischen wie der kulturellen – negativ konnotiert. Und diese Sichtweise wurde durch einen weiteren Bildgehalt noch weiter verstärkt: Bauer und Arbeiter sind männlich besetzte Gegenbilder, die einen deutlichen Kontrast zur weiblich belegten „Dienstleistungsgesellschaft“ des Tourismus schufen. Wenn daher bis heute ein direkter Zusammenhang von Sexualität und Tourismus – von der „Hurerei“ bei Turrini über die Gleichsetzung von Anpassung an Fremdenverkehrsbedürfnisse mit Prostitution bis hin zu den sich kritisch gerierenden, aber stereotyp-einfältigen Gedichten über Skilehrer und Zimmermädchen – hergestellt wird, dann wird genau diese negativ belegte Bildsprache eingesetzt. Und damit wird Fremdenverkehr zu einem nationalen Trauma hochstilisiert, das für etwas Unehrenhaftes, für etwas Abhängig-Unterwürfiges, für etwas Schwaches und Dienendes steht. Er ist dann aber in Konsequenz nur mehr als eine hierarchische Beziehung zwischen ausländischem Befehlsgeber und einheimischen Untergebenen zu sehen. Letztere bekommen somit eine schlichte Rolle zugewiesen: Sie verkaufen gedankenlos sich selbst (also bildlich ihren Körper), und sie verscherbeln damit real ihre Kultur und Identität als Ware. Der Wiener Philosoph Rudolf Burger hat kürzlich diesen Gedanken weitergeführt: Gegenwärtiges Brauchtum sei nur mehr „synthetisch“ und damit wertlos, es werde daher auch nur mehr von Bürgermeistern in Fremdenverkehrsgemeinden gebraucht.[5143]
Eine Europareise führte im ausgehenden 19. Jahrhundert den amerikanischen Schriftsteller Mark Twain auch in die Schweiz. Er fand dort, was er mit großer Neugierde erwartet hat:
„Nach einer Weile begegneten wir ein paar Schafen, die im Sprühen eines klaren Baches weideten, der von einer dreißig Meter hohen Felswand herabstürzte, und mit einemmal ertönte von einer nahen, aber unsichtbaren Stelle her ein wohlklingendes ‚Huliholdrioh‘, und wir wußten, daß wir zum erstenmal das berühmte Jodeln der Älpler auf freier Wildbahn hörten. Das Jodeln erklang in einem fort und war sehr hübsch und erfrischend anzuhören. Dann erschien der Jodler – ein Hütejunge von sechzehn Jahren –, und in unserer Freude und Dankbarkeit gaben wir ihm einen Franken und baten ihn, noch ein bißchen mehr zu jodeln. Also jodelte er und wir lauschten. Nach einer Weile zogen wir weiter, und er begleitete uns großzügig mit seinem Jodeln, bis wir seinen Blicken entschwunden waren. Nach etwa einer Viertelstunde begegneten wir einem anderen Hütejungen, der jodelte, und gaben ihm einen halben Franken, damit er weiterjodele. Auch er jodelte uns zum Geleit, bis wir nicht mehr zu sehen waren. Von nun an stießen wir alle zehn Minuten auf einen Jodler, wir gaben dem ersten acht Cents, dem zweiten sechs Cents, dem dritten vier Cents, dem vierten einen Penny, zahlten Nummer fünf, sechs und sieben nicht und brachten den Rest des Tages alle übrigen Jodler mit je einem Franken dazu, daß sie von ihrem Jodeln abließen. Es geht ein bißchen zu weit mit dieser Jodelei in den Alpen.“ [5144]
Was für Twain – und in der Folgezeit für zahllose andere – zu weit ging, ist hier gleich mehrfach interessant: Denn der zitierte Vorfall ist für alpine Tourismusregionen ausgesprochen typisch, stellt er doch ein (erstes) Ausbalancieren von touristischer Fremderwartung und einheimischem Angebot dar – ein Offert, das bis heute unberührte Landschaft und unverfälschte Volkskultur etwa in „echtem Brauchtum“ zum Bei- oder neuerdings sogar in der Form so genannter „Erlebnisfolklore“ zum Hauptprogramm macht.[5145] Die von Twain erlebte „Jodelei“ war daher weder für Einheimische noch für Touristen eine sinnlose Handlung, sie war keine verdammenswerte Verkommerzialisierung, und sie stellt auch keinen Verrat an der Heimat oder einen Identitätsverlust dar. Richard Weiss, der Schweizer Volkskundler, hat in diesem Zusammenhang auf die Bereitschaft der alpinen Bevölkerung verwiesen, die ihnen von außen angetragene Hirtenidylle als Selbstbeschreibung zu übernehmen.[5146] Und tatsächlich signalisieren diese Beispiele genau jenen Prozeß, der heutige Volkskultur[5147] mitgeschaffen und der diese als Symbol von Regionalkultur[5148] erst kreiert hat. Die Kritik an so geschaffener Volkskultur ist bereits bei Mark Twain evident, und sie bietet bis in die Gegenwart Stoff für mahnende Bemerkungen. Denn der amerikanische Schriftsteller, der die alpine „Jodelei“ durchschaut zu haben glaubte, sollte kein Einzelschicksal bleiben: Mark Twain ist heutzutage schlicht jedermann, gleich ob als Einheimischer oder als Tourist.
Was in der erwähnten „Jodelei“ aber zudem noch deutlich wird, ist, daß der Tourismus steigert, verändert und manchmal auch zerstört, was ihn ehemals angezogen hat. Er macht aus Dörfern – darauf hat der Tiroler Tourismusexperte Jakob Edlinger[5149] hingewiesen – urban strukturierte Agglomerationen; und – was weit wichtiger ist – er transformiert die Alltagskultur der Bewohner. Dabei mögen die stattgefundenen Veränderungen dramatisch gewesen sein, außergewöhnlich waren sie aber in einem Jahrhundert des rapiden Wandels nicht. Und niemand würde etwa im Zusammenhang mit der Industrialisierung Österreichs auf ein ähnliches, ein nationales Leiden anzeigendes Szenarium zurückgreifen.
Vom „Dodel-Image“ – so stand kürzlich in der „Presse“ zu lesen – wollen die Tiroler Heimat- und Trachtenvereine „wegkommen“. Denn obwohl sie sich selbst als dynamische „Bewahrer von Tracht und Brauchtum“ sehen, sind sie in der Öffentlichkeit auf das Bild des „schenkelklopfenden Schuhplattlers“ fixiert, der „vor Japanern und Deutschen Folklore spielt“. Dabei ist die Ausgangssituation für die Imagekorrektur nicht sehr günstig. Man grenzt sich gegen „Spektakel“ und „Auswüchse“ ab, will auf die „Ursprünge des Brauchtums“ verweisen, ist aber doch weiterhin auf die Durchführung des bei Touristen so beliebten „Tirolerabends“ angewiesen. Freilich dürfe dieser nicht mehr „lustlos“ vorgeführt, sollen die Gäste künftig in die Vorführung eingebunden werden.[5150] Mit dem „Tirolerabend“[5151] ist angesprochen, was hierzulande als „dümmliche Folkloreveranstaltungen“ und als von „Brauchtumsprofis“ durchgeführtes „aufg’mascherltes Remmidemmi“ seit langem heftig kritisiert wird. Denn nicht selten werden solche Veranstaltungen als Zeichen für ein klischeeüberhäuftes „Heimatbild“ genommen, das bei Touristen einen falschen Eindruck – eben ein „Dodel-Image“ – und bei Einheimischen kaum zu bewältigende Identitätskonflikte auslöse. Dem ist inhaltlich zunächst wenig entgegenzuhalten, doch lohnt für eine allfällige Korrektur ein Blick auf die Geschichte des Begriffs „Heimatbild“. Der Wiener Volkskundler Michael Haberlandt etwa hat bereits 1915 von jenem „Heimatbild“ gesprochen, das es gegen „fortschreitende Industrialisierung“ und bauliche Veränderung zu schützen gelte.[5152] Dieser dem Heimtschutz verpflichtete Gedanke bezog sich primär auf eine „bodenständige Baugesinnung“, doch ebenso evident ist, daß mit „Heimatbild“ etwas intellektuell Zusammengesetztes beziehungsweise etwas idealtypisch Konstruiertes gemeint war, das seine Vorlagen aus der bäuerlichen Welt der vorindustriellen Zeit genommen hat. Der Verweis auf das „Heimatbild“ versprach daher zwar „Unverfälschtes“, konnte aber diesen Anspruch in einer Zeit des Wandels real nicht einlösen. Derselbe Zwiespalt zeigt sich in jenem – bald um (Volks)Kultur geweiterten – „Heimatbild“, wie es gerade für heimisches Tourismusangebot ausgesprochen attraktiv wurde: Es offerierte dem Gast in Natur und Kultur hauptsächlich Ursprüngliches und Echtes, konnte aber in der Realität meist doch nur Inszeniertes bieten. Es gibt nur wenig Grund anzunehmen, daß die dargebotenen „Heimatklischees“ von den Touristen ernsthaft geglaubt wurden. Und es ist auch die Annahme nicht wirklich schlüssig, daß die Einheimischen solche „Heimatbilder“ automatisch und ohne Auswahl übernommen hätten. Denn alle wissen – und Mark Twain ist dafür nur eine Gewährsperson –, daß das Gebotene mehr mit touristischem Unterhaltungsprogramm als mit der Realität zu tun hat.
Und wenn nun allerorten – wie auch beim „Salzburger Bauernherbst“ – der touristische Abschied vom „Remmidemmi“ gefeiert und ein direkter erlebbares, echtes und unverfälschtes „Heimatbild“ angeboten wird, dann ist diese Änderung zunächst primär ökonomisch begründet. Mit regionaler Küche und authentisch angebotener Volkskultur kann nämlich eine sonst „tote“ Saison mit einem spezifischen Gästesegment belebt werden, bei dem „Echtheit“ und „unverfälschtes“ Erleben hoch im Kurs steht. Dieser aktuelle Trend fügt sich zwar in eine längere Entwicklung, in der Volkskultur manchmal „in“ oder als „Lederhosenbrauchtum“ eben „out“ war, sie zeigt aber auch mittlerweile sehr differenzierte Authentizitätsbedürfnisse: Bestimmte Touristengruppen – der als Typus oft denunzierte „Billiggast“ nämlich – beharren noch auf einem spezifischen, meist sehr klischeehaft besetzten „Heimatbild“; doch andere und meist kaufkräftigere suchen bereits ein anspruchsvolleres, ein vielleicht auch authentischeres; und die dritte Gruppe, die „sanften Touristen“, beansprucht sogar ein „Heimatbild“, das am wirklichen Alltag der Gastgeber Maß nimmt.
Derartige – jetzt schon pluralisierte – „Heimatbilder“ werden durch gegenwärtig beobachtbare Trends der „Eventisierung“ und der Errichtung von „Erlebnisparks“ noch anspruchsvoller, doch zeigen sich die vielfach notierten Identitätskonflikte in Wahrheit dort, wo Tourismus direkt in den Alltag Einzug hält. Der jetzt so gefeierte und wohl auch unausweichliche Abschied vom „Remmidemmi“ mag daher nicht ganz unproblematisch sein: Es hat bislang auf der Bühne konzentriert, was jetzt als Erlebnis überall stattfinden kann.
In Österreich hat es einmal eine einfache Ausgangssituation gegeben: Auf der einen Seite waren die Reisenden und auf der anderen die Be-Reisten; die einen waren Gast, die anderen Gastgeber. Beide hatten ihre Rollen und hielten diese auch weitestgehend ein. Vor nunmehr fast zwanzig Jahren ist aber ein „Aufstand der Be-Reisten“ prognostiziert worden: Die erfolgreiche „Tourismus-Saga“ wurde zur österreichischen „Apokalypse“.[5153] Mittlerweile hat sich das Szenarium wieder geändert, denn es ist ein schmerzhafter „Aufstand der Bereisenden“ zu notieren – sie bleiben aus. Doch das Wortspiel mit den „Bereisenden“ und den „Bereisten“ ist in Wahrheit längst obsolet geworden. Denn nicht nur Statistiken zeigen, daß diese so gern genutzte Trennung heutzutage aufgehoben ist: Jeder ist Tourist. Und Tourist-Sein[5154] ist zu einer allgemein bekannten Kulturtechnik geworden. Wer heute Gastgeber ist, kann morgen schon selbst Gast sein und vice versa. Das ist in Österreich nicht anders als sonstwo in Europa. Die „Opfer“ des Tourismus sind inzwischen eben auch dessen „Täter“. Und Gast und Gastgeber haben heutzutage zudem gemeinsamen Anteil an aktuellen Trends: Beide sind Teil der „Erlebnisgesellschaft“[5155], und beide werden die gerade in Planung begriffenen „Erlebnisparks“ besuchen.[5156] Wie stark diese Entwicklung bereits vorangeschritten ist, kann auch sprachlich beobachtet werden: So wie Touristen als Fremde begannen, zu Gästen wurden und nunmehr Freunde sein sollen, nahmen auch die Gastgeber als „Gastwirte“ ihren Anfang, verbesserten sich dann zu Hoteliers und können/müssen heutzutage gleichfalls Freunde sein.
Die notierten neuen Gemeinsamkeiten zwischen Tourist und Gastgeber sollten aber gegenwärtige Entwicklungen nicht übersehen lassen. Der weltweit boomende Tourismus hat sich von einem Angebots- zu einem Nachfragemarkt entwickelt. Dies stärkt die Rolle des Gastes deutlich, zumal auch der anspruchslose, dafür aber vielfach kritisierte „Massentourist“, verkörpert in der Figur des „Lieschen Müller“, zunehmend seinen Abschied nimmt. Es ist bereits Allgemeinwissen: Der neue Gast ist kritischer und kompetenter geworden, und er ist auch wesentlich besser informiert als sein Vorgänger. Der Gastgeber kann sich daher nicht mehr auf althergebrachte Verhaltensweisen der Gäste und deren schlichte Programmwünsche verlassen. Er wird – das hat der heurige „Saalbacher Tourismusskandal“ bereits öffentlichkeitswirksam gezeigt – auf religiöse, ethnische, geschlechts- und altersspezifische Wünsche viel schneller eingehen müssen, und er wird insgesamt mit einer touristischen Nachfrage konfrontiert sein, die von den Individualisierungs- und Pluralisierungstendenzen in unserer Gesellschaft herrührt.
Doch diese Entwicklung trifft nicht nur auf Touristen zu, sondern – in ihrem Berufs- und in ihrem Alltagsleben – auch auf die Gastgeber. Denn deren schwächer gewordene Position wird durch gesteigerte private Ansprüche noch komplexer: Sie dürfen – um nur ein Beispiel, das kürzlich in den „Salzburger Nachrichten“[5157] abgehandelt wurde, zu erwähnen – ihre Kinder nicht mehr der „Gastfreundschaftslüge“ aussetzen; als verantwortungsvolle Eltern müssen sie auf die Kinderverträglichkeit ihres Tuns, als sorgsame Gastgeber auch auf die Naturverträglichkeit ihres Betriebes achten. Und sicher werden sich künftig die kulturellen Probleme hier – und nicht in unterschiedlichen „Heimatbildern“ – stellen.
1874 ist ein Buch erschienen, das „Touristen-Lust und Touristen-Leid“ [5158] zum Thema hatte. Eine solche Bilanz ist tatsächlich ständig neu zu erstellen. Die aktuelle läßt jedenfalls zwei Prognosen zu. Die erste ist provokant: Ernst Hanisch[5159] hat auf den modernisierenden Aspekt des Tourismus in Salzburg aufmerksam gemacht, und nüchtern betrachtet könnte damit das „Tourismusland Salzburg“ Vorbote dafür sein, was uns allen droht beziehungsweise winkt: einer allumfassenden Dienstleistungsgesellschaft des 21. Jahrhunderts, der so genannten „24-Stunden-Gesellschaft“. Eine solche Gesellschaft ist – wie der Tourismus zeigt – nicht problemlos, denn sie ist von vielfältigem Sinn-Suchen bestimmt. Das macht den Alltag – für Touristen wie auch für Gastgeber – nur noch schwieriger. Und die zweite Prognose: Tourismusmanager fordern derzeit für jedes Dorf eine erkennbare „Identität“. Denn nur wer eine solche habe, könne auch am Markt bestehen. Anders ausgedrückt: Die „Heimatbild“-Produktion wird weitergehen, und jede Käufergruppe wird ihr konkret gewünschtes – authentisches, kritisches, kitschiges, erlebnisorientiertes – „Heimatbild“ gerade am Urlaubsort verlangen. Denn diese Erwartungshaltung wird – wie der Soziologe Richard Münch meint – von einem generellen Trend unterstützt: Je globaler die Welt wird, desto stärker wird auch der Wunsch nach regionaler Erkennbarkeit und vorgestellter Echtheit des besuchten Lebens.[5160] Diese Entwicklung aber betrifft Einheimische und Touristen gleichermaßen.
[5131] Zeitschrift Salzburger Volkskultur, 22. Jg., April 1998, S. 53–60.
[5132] Wiener Zeitung, 5. 10. 1997; Der Standard, 6. 10.1997; Die Presse, 6. 10. 1997; Salzburger Nachrichten, 17. 10. 1997.
[5133] Vgl. Salzburger Nachrichten, 31. 10. 1997.
[5134] Boissevain, Jeremy: Introduction. In: Ders. (Hg.): Coping with Tourists. European Reactions to Mass Tourism. Oxford 1996, S. 1–26.
[5135] Es sei hier nur an die von der Initiative „Pro Fremdenverkehr“ verteilte Broschüre „Also wegn mir brauchats’s koan Fremdenverkehr“ erinnert.
[5136] Weixelbaumer, Peter: Vermarktung und Tourismus. In: Österreichisches Volksliedwerk (Hg.), Sommerakademie Volkskultur. Dokumentation. Wien 1992, S. 193–194.
[5137] Henning, Christoph: Touristenbeschimpfung. Zur Geschichte des Anti-Tourismus. In: Zeitschrift für Volkskunde 93, 1997, S. 31–41.
[5138] Salzburger Nachrichten, 21. 7. 1995.
[5139] Die Presse, 22. 8. 1997.
[5140] Watin: Ist unser heimischer Dialekt vogelfrei? (Ein Mahnruf an alle echten Tiroler.) In: Der Sammler 3, 1905, S. 22–24.
[5141] Turrini, Peter: Die touristische Bananenrepublik. In: Der Spiegel, 10. 11. 1986.
[5142] Mappes-Niediek, Norbert: Die Piefkes kommen. In: Die Zeit, 16. 8. 1996.
[5143] Burger, Rudolf: Überfälle. Interventionen und Traktate. Wien 1993, S. 57.
[5144] Mark Twain bummelt durch Europa. Aus den Reiseberichten. München 1967. S. 228f.
[5145] Vgl. Johler, Reinhard; Nikitsch, Herbert; Tschofen, Bernhard: Post vom Schönen Österreich. Eine ethnographische Recherche zur Gegenwart (= documenta ethnographica, 1). Wien 1996.
[5146] Weiss, Richard: Volkskunde der Schweiz. Grundriss. Erlenbach-Zürich 1946.
[5147] Vgl. Johler, Reinhard: Begriffserklärungen und doch keine Klarheit: Volkskultur. In: Salzburger Volkskultur, 18. Jg., 1994, S. 11–14.
[5148] Köstlin, Konrad: Reisen, regionale Kultur und die Moderne. Wie die Menschen modern wurden, das Reisen lernten und dabei die Region entdeckten. In: Pöttler, Burkhard und Kammerhofer-Aggermann, Ulrike (Hg.): Tourismus und Regionalkultur. Referate der Österreichischen Volkskundetagung 1992 in Salzburg. Wien 1994, S. 11–24.
[5149] Salzburger Nachrichten, 27. 9. 1997.
[5150] Die Presse, 3. 2. 1998
[5151] Vgl. Bakay, Bunter: Die Verälplerung geht weiter. Tiroler Abend einmal so und einmal anders. In: Tiroler Volkskultur 48, 1996, S. 337–338.
[5152] Haberlandt, Michael: Rezension zu Karl A. Romstorfer: Der land- und forstwirtschaftliche Bau in der Anlage und Ausführung. In: Zeitschrift für österreichische Volkskunde 21–22, 1915–16, S. 130.
[5153] Die Presse, 13. 8. 1992.
[5154] Löfgren, Orvar: Learning to be a Tourist. In: Ethnologia Scandinavica 24, 1994, S. 102–125.
[5155] Schulze, Gerhard: Die Erlebnisgesellschaft. Kultursoziologie der Gegenwart. Frankfurt a. M./New York 1993.
[5156] Die Presse, 2. 1. 1998.
[5157] Salzburger Nachrichten, 1. 7. 1997.
[5158] Rasch, Gustav: Touristen-Lust und Leid in Tirol. Tiroler Reisebuch. Stuttgart 1874.
[5159] Hanisch, Ernst: Wirtschaftswachstum ohne Industrialisierung: Fremdenverkehr und sozialer Wandel in Salzburg 1918–1938. In: Mitteilungen der Gesellschaft für Salzburger Landeskunde, 125. Jg., 1985, S. 817–835.
[5160] Münch, Richard: Das Projekt Europa: Zwischen Nationalstaat, regionaler Autonomie und Weltgesellschaft. Frankfurt a. Main 1993, S. 276ff.