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Village People. Leben im Dorf zwischen Globalisierung und Provinzialität. Theoretische Ansätze und empirische Befunde zur Veränderung ländlicher Lebensräume und Lebenswelten[4609] (Rosemarie Fuchshofer) – Langtext

Was ist ein Dorf? Annäherungen an ein theoretisches Konstrukt

Woran denken wir, wenn wir den Begriff Dorf hören? An eine abgelegene bäuerliche Idylle in den Bergen, ein Heidi-Land? An Karl Heinrich Waggerls und Peter Roseggers Geschichten von der fröhlichen Armut, in der frühere Generationen ihr Leben in der räumlichen Abgeschiedenheit verbracht haben? An Heimatfilme aus den 50er-Jahren, die eine heile Welt dargestellt haben? Oder eher an die von Felix Mitterer geschaffenen Bilder der Vermarktung von Heimat, wie sie in den vier Teilen der Piefke Saga drastisch dargestellt worden sind?

Was ist ein Dorf? Jenseits der Klischees und Mythen. Eine kommunale Verwaltungseinheit, ein sozial-räumliches Koordinatensystem, eine überschaubare Kommunikations- und Interaktionseinheit, eine primäre Sozialisationsinstanz für Heranwachsende, quasi eine soziale Gehschule, ein Soziotop, identitätsstiftender Sozialraum, ein ideologisches und definitorisches Relikt aus der sozialwissenschaftlichen Frühzeit?

Ideales Soziotop oder ideologisches Relikt

Gibt es das Dorf als Lebensraum noch als raumkonstituierende Einheit für seine BewohnerInnen oder hat ihm, ähnlich der Familie, der zugeschriebene Funktionsverlust allmählich aber stetig seine Bedeutung und damit die Legitimationsgrundlage genommen?

Gibt es das Dorf noch als Lebenswelt, als identitätsstiftendes Sinnkonstrukt, als Bedeutungskoordinate für die Einordnung in einen überschaubaren sozialen Verdichtungsraum für die darin Heranwachsenden? Unterscheiden sich die Dörfer, so es sie noch gibt, von anderen Sozialräumen? Worin? Spielt in der raum-zeitlichen Ungebundenheit der Individuen mit ihren virtuellen Möglichkeiten der Omnipräsenz im World Wide Web eine soziale Verortung für die Menschen noch irgendeine spezifische und sozialwissenschaftlich bedeutende eine Rolle? Sind im Internetzeitalter Dinge noch existent und immanent, die „Google“ nicht findet? Wo zwischen Sim-City und Cybers-Dorf lassen sich Faktoren und Indikatoren aufspüren, die die soziale Realität des theoretischen Konstruktes Dorf ausdrücken? Jenseits des Zeitgeistes, jenseits der Ideologie, jenseits der Mythologie. In der erfahrbaren Wirklichkeit der dort lebenden Menschen: der Village People.

Wohnlandschaft oder Lebensraum?

Was bedeutet der räumliche Lebenszusammenhang Dorf für seine BewohnerInnen? Macht es, außer hinsichtlich eines eingeschränkten Infrastrukturangebotes, des Erfordernisses der individuellen räumlichen Mobilität zu Kompensationszwecken heute noch einen Unterschied, ob man in einem Dorf oder einem anderen sozialen Gebilde aufwächst und lebt? Gibt es die viel beschworenen und verbal viel strapazierten Dorfgemeinschaften noch oder sind sie mittlerweile zu individualisierten BewohnerInnen-Interessenverbänden geworden? Hat sich die viel beklagte Schwierigkeit, Neu-Siedler in die sozialen Verbände der autochthonen Bevölkerung einzubinden, erübrigt, weil es die sozialen Geflechte, die das Gemeinschaftsleben in den Dörfern ausgemacht haben, ohnehin nicht mehr gibt, und diese über kurz oder lang nur mehr formale Hüllen ohne essenziellen Inhalt sein werden? Wird, jenseits der sich verändernden funktionalen Bedingungen (Verwaltung, Errichtung und Erhaltung kommunaler Infrastruktur, Versorgung), das soziale Konstrukt Dorf gelebt oder werden Dörfer nur mehr als attraktive intakte Wohnlandschaften mit hohem Regenerationswert genutzt? Eine Fülle an Fragen, die im Rahmen des folgenden Aufsatzes beackert werden soll. Im Folgenden sollen die Koordinaten beschrieben werden, zwischen denen sich das Feld der vorliegenden Abhandlung erstreckt.

Zwischen den Paradigmen – Theoretische Verortung

Welche wissenschaftlichen Denk- und Erkenntnismuster, welche erkenntnistheoretischen und methodologischen Wurzeln werden der vorliegenden Analyse zugrunde gelegt? Eine ausführlich argumentierte wissenschaftstheoretische Einordnung, also Verortung des Denkansatzes, des forschungsleitenden Paradigmas, an dem sich die folgenden Ausführungen orientieren, soll und muss an dieser Stelle unterbleiben.[4610] Mit zum Teil an Glaubenskriege gemahnender Inbrunst wurde über Jahre und Jahrzehnte der Streit zwischen den verschiedenen großen Denkschulen geführt, unblutig, mit fein geschliffener akademischer Klinge, jeweils die Existenzberechtigung der anderen negierend. Die im Folgenden verwendeten konstitutiven Begriffe Lebensraum und Lebenswelt trennen – wissenschaftstheoretisch – Welten. Der Begriff Lebensraum ist dem strukturfunktionalistischen Paradigma zuzuordnen, ein Theorem aus der positivistischen Wissenschaftstheorie. Der Begriff Lebenswelt hingegen stammt aus dem Wirkungsfeld der interpretativen Soziologie, des Symbolischen Interaktionismus und der Ethnomethodologie. Namen wie George H. Mead, Alfred Schütz, Wilhelm Diltey, Peter L. Berger und Thomas Luckmann[4611] werden damit verbunden. In der vorliegenden Arbeit soll versucht werden, diese beiden scheinbar dichotomen Komponenten – die objektive strukturfunktionale und die subjektive, interpretative Bedeutung von Dorf – in einen ganzheitlichen Beschreibungs- und Deutungsansatz zu integrieren.

Lebensraum Dorf

Seit Gerhard Wurzbachers Untersuchung „Das Dorf im Spannungsfeld der industriellen Entwicklung“[4612] sind mehr als 40 Jahre vergangen. Nach dem Krieg ging es vor allem in Deutschland um den Wiederaufbau zerstörter Struktur. Die sich etablierende Disziplin der Raumplanung trennte beim Auf- und Umbau der gesellschaftlichen Rahmenbedingungen fortan fein säuberlich zwischen Wohn- und Gewerbegebieten, zwischen Geschäftszentren und Erholungsräumen. Monofunktionale Räume wurden geschaffen. Leben und Arbeiten fand in der Regel nicht mehr am selben Ort statt.[4613] Aus dieser Entwicklung erwuchs vielen Dörfern ein Funktionsverlust. Mit fortschreitender individueller Mobilität büßte das Dorf seine Rolle als (fast) ausschließlicher sozialer Interaktionsraum weitgehend ein. Erfordernisse der individuellen Lebensgestaltung wurden auf mehrere räumliche Zusammenhänge verteilt: Schulbesuch, Arbeitsplatz, Freizeitgestaltung, Konsum, medizinische Versorgung. Geboren wird man wo anders, man bezieht sein Wissen von anderswo, man verdient anderswo sein Geld, gibt es anderswo aus, auch stirbt man in der Regel nicht mehr dort, wo man gelebt hat. Welche sozial-räumlichen Funktionen – außer der Behausung seiner BewohnerInnen – bleiben also dem Lebensraum Dorf weiterhin erhalten?

Lebenswelt Dorf

Ebenso wichtig wie die Frage nach der objektiven Existenz und dem Bestand von dörflichen Strukturmerkmalen ist für die vorliegende Analyse das subjektive Erleben der individuellen sozialen Qualität Dörflichkeit, der Lebenswelt Dorf. Lebenswelt (bei Husserl und Schütz) oder Alltagswelt (bei Berger/Luckmann) meint das selbstverständlich Vorausgesetzte, die fraglos gegebene Wirklichkeit. „Die Lebenswelt existiert aber nicht nur, sondern muß auch ausgelegt werden. Erst dadurch, daß ich vergangene Ereignisse auslege, finde ich mich in der (Lebens-)Welt zurecht. Menschen greifen bei der Auslegung der Lebenswelt auf unterschiedliche Wissensvorräte (Schütz) zurück.“[4614]

Leben im Dorf ist nicht Leben auf dem oder besser gesagt hinter dem Mond. Dörfer sind keine Inseln. Dörfliche Lebenszusammenhänge sind nicht abgekoppelt von der Entwicklung zur Inter- und Transnationalisierung wirtschaftlicher und sozialer Gegebenheiten von der vordergründigen Nivellierung der Informationsangebote, Konsummuster, Arbeits- und Lebensstile. Aufgespürt und diskutiert werden sollen Existenz und Auswirkung von Globalisierungsindikatoren, die bis in die hintersten Winkel zu wirken scheinen und deren Bedeutung für die Village People. Auf der anderen Seite des Blattes des Trends zur Vereinheitlichung und Nivellierung von Strukturen und Lebensstilen begegnen wir dem Wunsch nach Differenzierung, Authentizität, Originalität, Individualität, Unterscheidbarkeit, nach regionaler Identität und Beheimatung.

Wie es dazu gekommen ist – Entstehung und Vorgehensweise

Triebfeder hinter der vorliegenden Arbeit ist es, auch aus biografischen Zusammenhängen der Autorin, das Spannungsfeld zwischen urbanen und aus ländlich-bäuerlichen Traditionen und Werten grundgelegten Lebensstilen zu beleuchten. Der rapide soziale Wandel (über)fordert die Anpassungsfähigkeit der Menschen, stabile (tradierte) Erfahrungskonstrukte werden in Zweifel gezogen. Die Notwendigkeit, Grundlagen für das sozialwissenschaftliche Anwendungsfeld, Veränderung von Lebensbedingungen in ländlichen Räumen zu finden bzw. zu schaffen, wird in öffentlichen Diskussionen im Zusammenhang mit Regionalentwicklung, Dorferneuerung und Erwachsenenbildung offenbar. Bei Fachtagungen, Workshops und Veranstaltungen tritt der Bedarf an Entscheidungshilfen für die neuen Gestaltungserfordernisse zu Tage, mit denen den Veränderungen begegnet werden kann. Überkommene und bewährte Handlungsmuster haben an Gültigkeit und Effizienz verloren. Es gilt eine Balance zwischen Tradition und Aufbruch zu finden, neue Formen der Dörflichkeit und des sozialen Miteinander auf lokaler und regionaler Ebene. Auf politischer und institutioneller Ebene ist der Diskurs geprägt von Schlagwörtern wie dem Europa der Regionen, der (Wieder)Entdeckung der Bedeutung des Lokalen, der Globalisierungsangst und dem prognostizierten Identitätsverlust, dem Bedarf nach kultureller und sozialer Orientierung in einem überschaubaren Koordinatensystem.

Die vorliegende Analyse ist Ergebnis einer ausführlichen Theoriendiskussion, der Beleuchtung von Schulen und Denkern aus verschiedenen Fachbereichen, die sich dem Thema Land und Leute angenommen haben und einer Reihe von empirischen Befunden aus dem Forschungsfeld. Diese (vorrangig eigenen) empirischen Befunde entstanden in etwa einem Jahrzehnt Arbeit an der regionalwissenschaftlichen Front, stellen zum Teil klassische gebrauchswissenschaftliche anwendungsorientierte Arbeiten[4615] dar. Dem Referenzprojekt „Heidi wohnt hier nicht mehr“[4616] liegt keine Zweckorientierung zu Grunde, wiewohl es ein Interesse an der Umsetzbarkeit und Umsetzung der gewonnenen Erkenntnisse gibt. Diese empirischen Befunde sollen einer vergleichenden Sekundäranalyse, einer Meta-Analyse unterzogen werden.

Zur Theorie der Peripherie

Im Folgenden sollen, den wissenschaftshistorischen Entwicklungslinien folgend, einige Hauptströmungen des Bereiches Landsoziologie skizziert, handelnde, vordenkende Personen und ihre Rollen in der Scientific Community dargestellt, Definitionen und Einordnungen in wissenschaftliche Denkschemata vorgenommen werden. Theorieuninteressierten empfiehlt sich ein Weiterlesen ab dem Kapitel „Das Dorf im Wandel der Zeit“.

Der ländliche Raum und besonders die peripheren Räume, abgeschiedene Gegenden, Grenzregionen genießen in der Soziologie einen Orchideen-, vielleicht auch mehr einen Mauerblümchenstatus. Eine Soziologie der Lebensräume ist vor allem eine Soziologie der urbanen Räume, Stadt- und Planungssoziologie zielt auf die Erfordernisse von Menschen in Ballungsräumen ab. Meist sind es die Agrarsoziologen, die sich der Themen und Problematiken der Provinz annehmen, allerdings in einem mehr wirtschaftlich-technologischen Verständnis. Wer sich mit der Provinz abgibt, kommt in der wissenschaftlichen Gemeinde leicht in den Geruch des Provinziellen. Andere Zünfte wie die Geografie, vor allem die Sozial- und Humangeografie, die Sozial- und Humanökologie und vor allem die Raumplanung haben sich dieses lange Zeit brachliegenden sozialwissenschaftlichen Terrains ländlicher Raum viel stärker angenommen. Vor allem aber unter planerischem, raumentwicklerischem Augenmerk. Ohne den KollegInnen der angrenzenden Disziplinen zu nahe treten zu wollen – die BewohnerInnen kommen in Entwicklungskonzepten oftmals eher als Einflussfaktoren und unter dem Stichwort Partizipationsnotwendigkeit vor. Vielleicht liegt es aber auch an den wissenschaftlichen Diktionen, dass man hinter den Human Ressourcen die Menschen so schwer findet.

Eingrenzung

Zwischen den speziellen Soziologien, die den ländlichen Raum und seine BewohnerInnen zu ihrem Gegenstand haben, lassen sich in der Vergangenheit keine genauen Grenzen ziehen. Je nach Sprachraum oder soziologischer Tradition bzw. den aktuellen Erfordernissen wurde von Land- oder Agrarsoziologie, ländlicher Soziologie oder Landvolklehre, von Dorf- oder Gemeindesoziologie, im angelsächsischen Raum von Rural Sociology[4617] gesprochen, wobei diese Begriffe nicht scharf auseinander gehalten wurden.

Der soziologische Zweig, dem dieses vorliegende Projekt am ehesten zugeordnet werden kann, geht über die klassische Landsoziologie als Siedlungssoziologie hinaus und lässt sich am ehesten nach Ulrich Planck und Joachim Ziche beschreiben: „unter welchen Bedingungen und Umweltverhältnissen die Menschen – gleichgültig ob Landwirte oder Nichtlandwirte, ob Erwerbstätige oder Erholungssuchende – auf dem Lande leben, wie ihre Beziehungen untereinander und zu anderen Bevölkerungsteilen geregelt sind, nach welchen Werten, Normen und Autoritäten sich ihr Handeln richtet, in welchen Gruppen und Organisationen ihr Leben sich abspielt, welche sozialen Probleme auftreten und mit Hilfe welcher sozialer Prozesse diese gelöst werden“.[4618]

Am ehesten kann einem Bedürfnis nach Definition und Einordnung durch die Bezeichnung Soziologie des ländlichen Raumes beigekommen werden. Wobei auch der ländliche Raum nicht als homogene Einheit betrachtet werden darf. Der Notwendigkeit der differenzierten Betrachtung, je nach spezieller Lage und der Funktion des jeweiligen ländlichen Raumes entsprechend, wäre es exakter, von ländlichen Räumen zu sprechen.[4619]

Landsoziologie und -ideologie der sozialwissenschaftlichen Frühzeit

Der Stadt-Land-Gegensatz ist seit dem Anfang der modernen Wissenschaft ein Thema. Am Anfang stand Jean Jacques Rousseaus Zivilisationskritik und Landideologie. Natur war für ihn mehr als nur der Raum der geschlossenen Idylle – „sie war vielmehr das Ziel schlechthin, zu dem der Mensch aus den Verirrungen des zivilisierten Lebens zurückkehren sollte“.[4620]

Romantik und Biedermeier verstärkten den Gegensatz Stadt-Land durch eine Idealisierung der Naturbetrachtung und die Idyllisierung der familiären Häuslichkeit. Fortan war Land bzw. Dorf zu assoziieren mit gut, gesund, natürlich – Stadt mit verdorben, ungesund, widernatürlich. Und diese kulturpessimistischen Aussagen und Klischees vom Phänomen Stadt waren bereits vorhanden, bevor es die industrielle Großstadt in nennenswerter Zahl gab.[4621] Als Hauptvertreter der klassischen Landsoziologie bzw. Landvolklehre können gelten: der Volkskundler, Kulturhistoriker und Bauerntumsideologe Wilhelm Heinrich Riehl (1823–1897), Professor für Staatswissenschaften bzw. Kulturgeschichte und Statistik in München (von 1854–1892)[4622]; die Soziologen Ferdinand Tönnies (1855–1936), selbst Sohn eines Bauern, Max Weber (1864–1920) und Leopold von Wiese (1876–1969) mit seiner Arbeit „Das Dorf als soziales Gebilde“ (München 1928).[4623]

Die Herangehensweise an die Forschungsfrage und die Intention dieser Arbeit am ehesten beeinflusst hat aber eine andere, eher in Vergessenheit geratene und erst wieder in jüngerer Literatur zitierte Arbeit: Gottlieb Schnapper-Arndt (1846–1904) und dessen Werk „Fünf Dorfgemeinden auf dem Hohen Taunus“[4624] (1883 erschienen), eine der frühesten empirischen Forschungsarbeiten, die der klassischen „Marienthalstudie“ von Paul Lazarsfeld, Hans Zeisel und Marie Jahoda um nichts nachsteht. In Anbetracht dessen, dass diese erste gemeindesoziologische Untersuchung 50 Jahre vor den „Arbeitslosen von Marienthal“ (1933) gemacht wurde, sehe ich sie als deren offensichtliches Vorbild und als das eigentliche Original. Die Studie Schnapper-Arndts entstand durch eine methodische Kombination aus teilnehmender Beobachtung, systematischer Befragung und der Verwertung historischer und zeitgenössischer Dokumente.[4625] Gottlieb Schnapper-Arndt war nicht wie damals üblich ein Katheder-, sondern ein Feld-Forscher, er lebte über längere Zeiträume hinweg in den von ihm beschriebenen Dörfern, und der tiefe Einblick in den Alltag und die Lebensweise der Menschen dort bewahrte ihn davor, ein einseitiges Bild von familiärer Idylle und gesundem Landleben zu zeichnen.

Der Ausbildung einer Agrarromantik und der Verherrlichung der ländlichen Lebensweise dienten vielmehr die Schriften Wilhelm Heinrich Riehls, von denen besonders die dreibändige, von 1851 bis 1856 veröffentlichte „Naturgeschichte des Deutschen Volkes als Grundlage einer socialen Politik“ die ländliche Soziologie bis in unser Jahrhundert nachhaltig beeinflusste.

„Als konservativer Gesellschaftswissenschaftler war sein Augenmerk auf das angeblich noch unverdorbene Leben auf dem Lande gerichtet, dem er als negativen Pol die Formlosigkeit, Uniformität und von Dekorporationsprozessen gekennzeichneten Städte gegenüberstellte. Wenngleich viele mit dem Urbanisierungsprozess heraufkommende Probleme gesehen werden müssen, so die enorme Wohnungsnot und die Massen von wandernden, aus ihrer Heimat entwurzelten Menschen, so führte doch die von Riehl übersteigerte Großstadtkritik zur Ausformung einer Agrarromantik, die von der damaligen Lebenswirklichkeit des Bauerntums und der ländlichen Lebensweise weit entfernt sind.“[4626]

Ferdinand Tönnies stellt in seinem Werk – unter dem Eindruck der gesellschaftlichen und sozialen Schwellenprobleme am Übergang von der vorindustriellen zur industriellen Lebensform – die beiden dichotomen und idealtypischen Begriffe Gemeinschaft und Gesellschaft einander gegenüber. Prototypen der (im Schwinden begriffenen) Gemeinschaft sind für ihn Familie und Dorf und die sich daraus ergebende „den ganzen Menschen umfassende, durchdringende und bestimmende soziale Verbundenheit“.[4627] Großstadt als Urbild der Gesellschaft, und dieser werden keine besonders positiven Eigenschaften zugestanden. „So ist die Großstadt und gesellschaftlicher Zustand überhaupt das Verderben und der Tod des Volkes.“[4628] Auch Ferdinand Tönnies, als Sohn eines Marschbauern bei Eiderstedt geboren, scheint, wie viele vor und nach ihm, in seiner Einschätzung der ländlichen Lebensverhältnisse dem zu unterliegen, was plakativ als Heidi-Syndrom bezeichnet werden soll: Einer Verklärung des – vielleicht gar nicht und niemals reell existenten – verlorenen Paradieses der kindlichen Lebenswelt.

Von der strukturfunktionalen Gemeindesoziologie zur neuen Dorfforschung

Die deutschsprachige Dorfsoziologie der 50er- und 60er-Jahre trat vor allem als Gemeindesoziologie in Erscheinung, die Begriffe Dorf und Gemeinde sind in diesem Fall und zu dieser Zeit keineswegs gleichzusetzen. Es geht in der Auseinandersetzung mit der Thematik ländliche Soziologie in diesen Jahren weniger um die Erforschung des komplexen Zusammenhanges des Lebensraumes Dorf, sondern um strukturfunktionalistische Analysen der Gemeinde als System und Verwaltungseinheit. Doch noch während diese Generation an der Demontage des ländlichen Raumes als eigenständige soziologische Kategorie arbeitete und das Wort Dorf aus ihren Handbüchern zu streichen trachtete, begann sich an anderer Stelle bereits seit mehreren Jahren eine Forschungsrichtung zu entwickeln, die sich der Wiederentdeckung des Lebensraumes Dorf verschrieben hatte.

Federführend in dieser neuen Dorfforschung trat das Ludwig-Uhland-Institut für empirische Kulturwissenschaften der Universität Tübingen in Erscheinung, wo weniger traditionelle Volkskunde als vielmehr eine neue Form von Sozialethnologie[4629] betrieben wurde. Namen wie Hans-Georg Wehling, Hermann Bausinger, Bernhard Schäfers, Albert Ilien und Utz Jeggle, Herbert Schwendt, Carola Lipp, Wolfgang Kaschuba und andere verbinden sich mit dieser neuen Schule der ländlichen Sozialforschung. Für die neue Dorfsoziologie galt Land nicht als Restkategorie dessen, was (noch) nicht Stadt ist.[4630] Das Stadt-Land-Kontinuum, jener theoretische Ansatz vom fließenden Übergang des ländlichen Raumes in suburbanes Gebiet, wurde kritisiert und durch empirische Untersuchungen zu widerlegen versucht.[4631] Faktische und als solche empfundene Unterschiede wurden wieder thematisiert, die Gegensätze im Begriffspaar Stadt/Land wieder diskutiert. Zudem wurde die sozialwissenschaftliche Auseinandersetzung mit diesem Thema durch die aufkommende Ökologiediskussion und die Suche nach alternativen Lebensweisen zu Beginn der 80er-Jahre aktualisiert.[4632] Verfasser von Standardwerken wie Herbert Kötter und Hans-Joachim Krekeler setzten noch 1977 ihren Schwerpunkt in der Soziologie der Stadt-Land-Beziehungen auf Seiten von Stadt und schlossen sich der paradoxen Formulierung an, dass „es vielleicht die Städte sind, wo man bestes Material für die ländliche Soziologie finden kann“.[4633] Sie sprechen von der „wohlgemeinten, aber auf die Dauer aussichtslosen ‚Zurück-aufs-Land-Bewegung‘ romantischer Stadtverweigerer“ und von „garden-city-Enthusiasten“.[4634] Aber schon ein Jahr später konstatieren Wehling und Mitautoren Probleme, die durch die Umwandlung der Dörfer in den Einzugsbereichen der Ballungsräume zu „Schlafgemeinden“[4635] für die rapide wachsende Zahl der Stadtflüchtigen entstehen. Nachdem jahre- bzw. fast jahrzehntelang die Probleme der Entleerungsgebiete von den Städten und der städtischen Position aus diskutiert wurden, setzt sich in der anderen Forschungsrichtung ein neuer, problemorientierter Ansatz durch, bei dem es darum geht, „die Probleme des ländlichen Raumes zu erkennen und zu benennen.“[4636]

Es geht bei den Zielen und Inhalten der neuen Dorfforschung weniger um die Strukturbedingungen der Landgemeinde, sondern um die Lebensbedingungen in den Dörfern, das Alltagshandeln der dort lebenden Menschen, ihre Relevanzsysteme und Bedeutungszuschreibungen. Es werden die Fragen aufgeworfen und diskutiert, wie und nach welchen Regeln Leben auf dem Land in einer Dorfgemeinschaft, die sowohl „Not- wie auch Terrorzusammenhang“[4637] sein kann, organisiert ist, ob und inwieweit lokale Besonderheiten und kollektive Bedrohungen das Verhalten der Bewohner beeinflussen können. Die neue Diskussion um das Leben auf dem Lande kommt ohne die Vorstellungsbilder idyllischer Verklärung aus und steht in kritischer Distanz zur „Bauerntumsideologie“ und „Landromantik“ der Gründerzeit, ohne diese aber aus der Auseinandersetzung auszuschließen, aber den „gesellschaftlichen Topos ‚Dorf‘“ neu zu beschreiben, „dessen stilisiertes Bild hartnäckig an vergilbten Motiven vergangener ländlicher Sozietät fixiert bleibt“. Denn „Dorf steht in gewisser Weise auch heute noch als Synonym für Eindimensionalität bäuerlicher Lebens- und Arbeitswelt, für konservative, traditionslastige Einstellungen und Werthaltungen, und für eine isolierende Lebensweise, deren Horizont und Interesse mehr an Natur und ‚Naturwelt‘ orientiert scheinen als am gesellschaftlichen Ganzen.“[4638]

Man bemüht sich darum, einen neuen Zugang zum Lebensraum Land zu schaffen, indem man die glorifizierenden Bilder von der heilen Welt – in der es folglich keine Probleme geben kann – zurechtrückt und setzt dabei auf die Einzelfallstudie, die konkrete Dorfuntersuchung, wo immer sie möglich ist. Denn „nur so kann ein anschauliches, lebensvolles und vor allem der Wirklichkeit angemessenes Bild gewonnen werden“.[4639] Wehling bezeichnet das Stadt-Land-Kontinuum als Versuch, einer definitorischen Bestimmung der nicht (mehr) deutlich abgrenzbaren Sozialgebilde Dorf und Stadt zu entkommen. Eine partielle Ausbreitung der Stadt auf das Land, siedlungsmäßig, wie auch durch ein Übergreifen der spezifisch städtischen Formen des Lebens und Verhaltens, wird nicht geleugnet. Aber von den Äußerlichkeiten der Urbanisierung (Zahl der Kühlschränke, Fernseher, Autos, Angleichung der Kleidung und Konsumgewohnheiten) sollte man nicht unbedingt auf eine Änderung der Denk- und Verhaltensmuster schließen. Durch allzu viel Augenmerk darauf werden „darunter liegende, sehr viel fester sitzende Unterschiede übersehen, geraten die Prägungen in Vergessenheit, deren Muster durch Jahrhunderte tradiert wurden und fester Bestandteil eines spezifisch dörflichen Sozialisationsprozesses sind.“[4640] Bausinger warnt davor, die Urbanität der Dörfer zu überschätzen, die Mehrzweckhalle und das Hallenbad brechen die alten Strukturen nicht auf.

Empirische Datenbasis

Die im Folgenden gezogenen Schlussfolgerungen und Erkenntnisse sind Ergebnis, sozusagen das Destillat eines langjährigen Prozesses der Auseinandersetzung mit der Thematik. Neben den formal gewonnenen wissenschaftlichen Datensätzen fand auch eine Unzahl von informellen Gesprächen und langjährige Selbsterfahrung im Erleben und der Bewertung des Lebens im Dorf unter veränderten Vorzeichen Eingang in diese Arbeit.[4641] Das vorliegende empirische Material bietet die Basis für die Erkenntnisse und Schlussfolgerungen, die gezogen werden. Nach einer zusammenfassenden Analyse des theoretischen und empirischen Materials wird eine Annäherung an eine Theorie mittlerer Reichweite zur Veränderung der ländlichen Lebensräume und Lebenswelten unternommen. Dieser Versuch einer Verallgemeinerung ist natürlich Grenzen unterworfen. Der Geltungsbereich unterliegt zeitlichen und räumlichen Einschränkungen. Aussagen, die getroffen werden, beziehen sich vor allem auf den inneralpinen Raum und das Alpenvorland und die Entwicklung der letzten zwanzig Jahre. Die Analyse und daraus gezogene Schlussfolgerungen können nicht flächendeckend sein. Immer wird es irgendwo ein Dorf geben, auf das keines der entworfenen Szenarien zutrifft. Wiewohl es über die Landes- und Bundesgrenzen hinaus Orte geben wird, in denen das Leben ähnlichen sozialen Gesetzen und Regeln unterworfen ist.

Das Dorf im Wandel der Zeit

Vieles was sich in den letzten Jahren in den Dörfern geändert hat, ist grundsätzlich auf eine gesamtgesellschaftliche Entwicklung zurückzuführen. Ein Wandel der gesellschaftlichen Strukturen, des Wertehorizonts, der formellen und informellen Normen, der alle westlichen Industrieländer, die so genannte zivilisierte Welt betrifft und vor den Ortstafeln der abgelegensten Gemeinden nicht Halt macht. Vor allem in den Dörfern in Randlagen, die lange Zeit abseits des Weltgeschehens lagen, treffen Veränderungen auf verfestigte Traditionen, ein erhebliches Beharrungspotential und deshalb auf mehr sozialen Widerstand. Dorf ist nicht gleich Dorf. Es kommt darauf an, wo ein Dorf liegt, wovon die Menschen dort traditionell gelebt haben, womit sie heute ihren Unterhalt bestreiten. Man kann das Dorf als solches als gefährdet ansehen[4642], ein Verschwinden der Dörfer oder einen durchgängigen Verstädterungsprozess konstatieren.[4643] Die Existenz vieler Dörfer in ihrer dörflichen Eigenheit und ihrem dörflichen Selbstverständnis ist zweifellos gefährdet im Sinne von im Wandel begriffen. Trotzdem zählen im Bundesland Salzburg nach wie vor mehr als 100 der 119 Salzburger Gemeinden zur Kategorie Dorf.[4644] Auch die Stadterhebungen einiger großer zentraler Orte im Bundesland als formale Akte sagen wenig über deren Urbanisierungsgrad, die Veränderung ihrer Binnenstruktur, aus. Manche sind im Grunde ihrer Seele immer noch in gewisser Weise Dörfer geblieben.

Dorftypologien

Wie oben beschrieben, war ein Ziel der Gemeindesoziologie der Nachkriegszeit, die Typologisierung und Kategorisierung von verschiedenen kommunalen Verwaltungseinheiten. Dies war ein Versuch, die Funktionen und Strukturen der Lebensräume zu analysieren und systematische, effiziente Lösungen für die anstehenden Probleme und Aufgaben zu entwerfen. Gegipfelt hat dieses Bestreben in der Auflösung von selbstständigen Gemeinden in Gemeindeverbänden[4645], einer teils massiven Gegenbewegung, die zum Revival der Idee Dorf, zu vielfältigen Aktivitäten in der Dorferneuerung führten. Zum Zweck der Raumordnung und Handhabung der kommunalen Verwaltung ist es aber sinnvoll, Einteilungen vorzunehmen. Dörfer erfüllen verschiedene Aufgaben, haben unterschiedliche Funktionen je nach Lage, Erreichbarkeit, Wirtschaftsstruktur. Eine Unterscheidung in zentrale Orte, suburbane Räume, Grenzland und Peripherie macht durchaus Sinn, macht aber das Dorf als solches nicht aus und reduziert die Funktion der Dörfer. Wie unterscheiden sich also die Dörfer auf funktionaler, struktureller Ebene, was kann überhaupt noch als Dorf bezeichnet werden, was macht ein Dorf aus, wie steht es mit dem Stadt-Land-Kontinuum, werden Dörfer langsam zu Städten, wenn sie die magische Bewohnergrenze von fünf- oder zehntausend EinwohnerInnen erreicht haben? Was also macht ein Dorf auf der objektiven, messbaren Ebene zum Dorf?

Strukturmerkmale

Sinkende oder stagnierende Einwohnerzahl, Abwanderung, das Verschwinden von Infrastruktureinrichtungen auf Grund mangelnder Auslastung und nicht mehr zu tragender sozialer Kosten sind konstituierende Merkmale für strukturschwache Gemeinden. Am anderen Ende der Skala liegen die Dörfer der so genannten Speckgürtel, die mit steigender Entfremdung ihrer BewohnerInnen, Verkehrsproblemen und dem Faktum kämpfen, von vielen GemeindebürgerInnen (ausschließlich) als Rückzugsraum (Wohnlandschaft) genutzt zu werden, und denen für wichtige gemeinnützige Aufgaben (Vereine, Feuerwehren, kirchliche Ämter, kommunalpolitische Funktionen, etc.) auf Grund mangelnder Integration in den Rudimenten der Dorfgemeinschaft die Akteure fehlen. Dieses Phänomen trifft auf viele Flachgauer Gemeinden zu. Im Rahmen von Dorferneuerungs- und anderen Aktivitäten werden zahlreiche Versuche unternommen, in den Umlandgemeinden, die in den letzten Jahren ein Mehrfaches ihrer BewohnerInnenzahl der 60er-Jahre aufweisen, neue Dorfgemeinschaften zu generieren, die Neusiedler in die alten sozialen Konstrukte zu integrieren. Meist mit mäßigem Erfolg.

Mit dem Bedeutungsverlust der Landwirtschaft wie auch des dörflichen Kleingewerbes und seiner stationären Arbeitsorganisation hat sich ein grundlegender Wandel des Arbeits- und Anwesenheitsrhythmus im Dorf ergeben. Waren bis in die 50er-Jahre große Teile der Bevölkerung (auch der männlichen) den ganzen Tag über vor Ort, war ein Mit- oder zumindest ein Nebeneinander von Geschlechtern und Generationen im zeitlichen Ablauf Standard, brachte die steigende Erwerbstätigkeit außerhalb der Landwirtschaft auch das Erfordernis des Arbeitens außerhalb des Wohnortes für viele DorfbewohnerInnen mit sich. Gestiegenes Interesse und die Notwendigkeit zu höherer Bildung, auch ein verbreiterter sozialer Zugang zu den Bildungseinrichtungen, machen ein Pendeln großer Teile der Bevölkerung notwendig, um adäquate Arbeitsplätze zu finden. In Dörfern mit hohem Auspendleranteil trifft man zu den entsprechenden Tageszeiten nur mehr ein sehr eingeschränktes Bevölkerungssegment an (Nichterwerbstätige, Frauen, Kinder unter 10 Jahren, ältere MitbürgerInnen). Für Feuerwehr- oder Katastropheneinsätze, aber auch für die Feier freudiger Ereignisse fehlen die Einsatzkräfte. Die Mehrheit der BewohnerInnen steht aber auch für einen normalen sozialen Tagesablauf im Ort nicht zur Disposition. Es gibt Gemeinden, in denen Begräbnisse bereits am Abend stattfinden. Nach Ladenschluss. Ein Dorf mit Öffnungszeiten. Nur genau umgekehrt. Wenn der Schulbus den Ort verlassen hat und die Gartentürln hinter den PendlerInnen zugefallen sind, können manche Dörfer zusperren.

Szenarien dörflicher Strukturen

Neben infrastruktureller Basisversorgung (wie z. B. Kindergarten, Schule, Einrichtungen zur Altenpflege, medizinische Versorgung, Postamt, Nahversorger, Gendarmerie-Posten, Seelsorger, Erwachsenenbildungs- und Beratungseinrichtungen, Energie- und Wasserver- und Abwasser- und Müllentsorgung, Errichtung und Erhaltung des kommunalen Wegenetzes, Straßenbeleuchtung, die Schaffung von ausreichend Arbeitsplätzen in erreichbarer Nähe) sind es vor allem Konsum-, Kultur- und Freizeiteinrichtungen, die von den BewohnerInnen eines Ortes oder einer Region als unverzichtbarer Bestandteil der dörflichen Lebensqualität angesehen werden. Lokale bzw. regionale Vollversorgung mit Konsum- und Dienstleistungsangeboten wird aber in einzelnen Orten, so sie nicht im Speckgürtel situiert sind, zunehmend schwieriger. Die nachfolgend gezeichneten Szenarien sind, manchmal etwas überzeichnete, doch existente Bilder der Veränderung der dörflichen Infrastruktur und ihrer Gründe.

Nahversorgung

Die sich ständig wiederholende und mehr auf emotionalem denn sachlichem Niveau geführte Nahversorgerdiskussion ist symptomatisch für den ländlichen Strukturwandel. Jeder will den Kramer am Eck erhalten sehen und kauft im Supermarkt auf dem Arbeitsweg ein. Ansprüche an Sortiment und Preisgestaltung steigen, die Wirklichkeit kann dem kaum gerecht werden. Kaufkraftabwanderung ist aber, auch wenn sie in der lokalen Öffentlichkeit eines der meist strapazierten Schlüsselwörter der kommunalen Ist-Analysen darstellt, nicht Ursache, sondern Folge des Strukturverlustes der Dörfer an der Peripherie. Die immobilen Teile der Dorfgemeinschaft werden immer kleiner, der Motorisierungsgrad steigt weiter kontinuierlich. Kaum jemand, der nicht ohnehin untertags den Ort verlässt. Kaum jemand, dem es nicht möglich ist, sich einen Transport in den nächstgelegenen Zentralort zu organisieren. Der viel strapazierte Mythos von der klaffenden Versorgungslücke, wenn der letzte Kramer das Handtuch wirft, hat wenig sachlichen Rückhalt.[4646] Dasselbe gilt für Bäcker, Schuster, Friseur, Metzger, die kleine Tischlerei und den Installateur. Viele der Entschlüsse der kleinen Handwerksbetriebe, ihr Geschäft zuzusperren, sind Folge dessen, was wenig schön, wirtschaftliche Strukturbereinigung heißt. Familienbetriebe am Rande der Existenzmöglichkeit über Jahrzehnte nur mehr aufrechterhalten durch den ausufernden rund um die Uhr-Einsatz der Inhaber und derer Familien, Werkstatt im eigenen Haus, Buchhaltung und Büro am Küchentisch, Tag und Nacht erreichbar. Wer tut sich das heute noch an? Die eigenen Kinder sicher nicht, die haben bereits gesehen, wie sich die Eltern abgearbeitet haben und kaum einmal für wenige Tage den Betrieb verlassen konnten. Weit schwieriger, als Kunden zu finden, ist es für diese Art von Betrieben, Nachfolger zu finden.

Venezianisierung der Ortskerne

Ein weiterer Stehsatz, der reflexartig in der öffentlichen Diskussion um die ländliche Infrastruktur auftaucht, ist die Schwächung der Ortszentren und das Ausfransen der Ortsränder. Die alten Ortskerne, um Kirche, Friedhof, Wirtshaus, Kramer, Schule, Gemeindeamt und Feuerwehrzeugstätte angeordnet, erfahren eine Art Venezianisierung. Eng zusammengebaut, mit dem Auto schwer erreichbar, kaum Angebot an Parkplätzen laufen sie den geänderten Nutzungsgewohnheiten der VerbraucherInnen zuwider. Zuerst wurde das Feuerwehrhaus verlegt. Der Platz war für die neuen, größeren Einsatzfahrzeuge zu klein geworden, und die Lärmentwicklung für die Anwohner nicht tragbar. In die Räume darüber zog dann gleich die Gemeindeverwaltung ein. Dann wurden die Schule und der Kindergarten an den Ortsrand gebaut – vielleicht auch der schreienden Kinder und des Zubringerverkehrs wegen. Der Kirchenwirt wird wochentags tagsüber nur mehr von wenigen Rentnern und Touristen besucht und hat in den letzten Jahren mehrmals den Pächter wechseln müssen, seit der Familienbetrieb nach 300 Jahren keinen Nachfolger mehr aus den eigenen Reihen gefunden hat. Die Metzgerei hat sich durch die – ausgezeichnet sortierte – Fleisch und Wurstabteilung im Supermarkt erübrigt. Zum Schluss war es sowieso nur mehr ein Geschäft, geschlachtet wurde dort schon lange nicht mehr. Es gibt ja kaum mehr Bauern im Ort, die Schlachtvieh verkaufen. Sogar der neue Friedhof und die großzügig angelegte Aufbahrungshalle liegen am Ortsrand. Es war ja auch kein Platz mehr im Ortszentrum. Und der Grund dort war viel günstiger, und nicht einmal die Pfarre kann sich die Immobilienpreise im Ortskern leisten.

Einzig die Kirche hat man im Dorf gelassen. – Aber da geht auch kaum mehr jemand hin. Außer an den hohen Festtagen zur Palmweihe, zur Oster- oder Weihnachtsmette und am Prangtag, wenn die Vereine in voller Montur und voller Mannstärke ausrücken. Den Dorfplatz hat man mit viel Aufwand und auch viel Liebe zu revitalisieren versucht, ein neuer Brunnen, Bänke, eine Skulptur, mit der anfangs zwar nicht alle einverstanden waren und gegen die sogar ein Bürgerbegehren eingeleitet worden war. Aber dann haben sich die Wogen geglättet. Die neuen Laternen gefallen fast allen, die Bepflanzung wird von der Katholischen Frauenbewegung betreut. Leider haben Jugendliche anfangs mehrmals die Pflanzentröge angesp…, und die neue Baumreihe in die Sportplatzstraße, dort wo der Funpark angelegt worden ist, wurde schon mehrmals Opfer von Vandalen. Im Ortszentrum ist jetzt Ruhe, seit das Alkoholverbot auf öffentlichen Plätzen erlassen worden ist, und ein privater Wachdienst am Wochenende dort patrouilliert. Das kostet die Gemeinde natürlich auch wieder einen Haufen Geld, das anderswo fehlt.

Unter Kontrolle – dörfliche Sozialstruktur

Landwirtschaft und Industrie, je nach geografischer Lage und historischer Entwicklung, haben in den Dörfern als konstituierendes Merkmal für die Bevölkerungsdefinition ausgedient. Es gibt keine Bauerndörfer, keine Arbeitersiedlungen mehr. Einzig der Tourismus stellt für manche Orte einen gemeinsamen Definitions-, vielleicht auch einen gewissen Identitätsfaktor dar. Die Bevölkerung hat sich vermischt. Auch wenn es da und dort noch Rudimente zünftischer Ordnung in den Sozialstrukturen gibt – wenn es um die Verteilung von Ämtern und Funktionen, um die Erteilung einer in der Bevölkerung nicht ganz unumstrittenen Bewilligung geht. Doch oben und unten ist viel näher beisammen als früher. Der Trend zur Vermittelschichtung zeichnet auch die Dörfer aus. Da mögen die kleinen Männer noch so sehr die Tagespresse und -politik fesseln, der soziale Fahrstuhl[4647] geht auch in den Dörfern kollektiv eher eine Stufe höher. Was nicht heißt, dass Bedürftigkeit auf dem Land kein Thema ist. Aber Sozial- und Armutsberichte weisen Armutsbedrohung eher als urbanes Phänomen aus, Sozialhilfeempfängerquoten und Inanspruchnahme von anderen öffentlichen finanziellen Substitutionsangeboten sind auf dem Land eher niedriger. Nicht, weil die Leute dort mehr haben. Aber weil zum einen die informellen Stützstrukturen (noch) besser funktionieren, und weil man sich auch nicht die Blöße der Bedürftigkeit geben will. Da zieht man doch lieber weg, dorthin wo einen keiner kennt und nicht herumerzählt wird, dass man im Bezirkshauptort am Arbeitsamt gesehen worden ist. Schon das zweite Mal in diesem Jahr.

Manche Orte erleiden durch den Wegzug der jungen gebildeten Bevölkerungsschicht massive Einbußen in der Bevölkerungszahl und in ihren kommunalen Entwicklungsmöglichkeiten.[4648] Für andere bilden Bildung und Wohlstand ihrer (Neo-)Bürger den Hauptgrund für einen immensen Bevölkerungszuwachs, wie z. B. die Umlandgemeinde um die Landeshauptstadt Salzburg zeigen. Arbeiten in der Stadt, wohnen im Eigenheim auf dem Land, quasi im eigenen Naherholungsgebiet. Soziales Netz, selbst gewählte Kontakte bleiben aber eher weiter in Stadtnähe angesiedelt. Da im Dorf riecht es doch irgendwie noch stark nach Stall. Die rührenden und gut gemeinten Integrationsangebote der Alt-Siedler hat man wahrgenommen, als die Kinder noch in den Kindergarten und in die Volksschule im Ort gegangen sind. Seit der Nachwuchs das Gymnasium in der Stadt besucht, seine Freunde dort hat, und er die dörfliche Lokal-Szene, nicht nur was die Ausgehmöglichkeiten angeht als äußerst miefig und provinziell abtut, haben sich die mühsam aufrechterhaltenen Kontakte zu den Nachbarn auch wieder etwas abgekühlt. Schließlich ist man ja hergezogen, um seine Ruhe zu haben, und nicht, um sich zwei Mal die Woche genötigt zu fühlen, an irgendwelchen Treffen, Vereinsaktivitäten oder Erwachsenenbildungskursen teilzunehmen, nur weil der soziale Erwartungsdruck es einem abverlangt. Man dachte, das hätte man hinter sich, seit man zuhause ausgezogen ist.

Informelle soziale Netze – Exkurs zur Nachbarschaft

Besonders für ZuzüglerInnen stellt es oft eine große Schwierigkeit dar, die informellen sozialen Netze und Strukturen zu durchschauen und einzuordnen. Interaktions- und Kommunikationsstrukturen in den Dörfern sind noch immer durch vielerlei ungeschriebene Gesetze gekennzeichnet, die sich Außenstehenden nicht so leicht erschließen. Dies mag auch ein Akt der kollektiven Notwehr in überlaufenen Umlandgemeinden sein. Vor allem die Grundzüge und Funktion der dörflichen Nachbarschaft stellen für Ungeübte ein Problem dar. Als die Menschen im Dorf noch weitgehend stationär und in dem Bewusstsein lebten, dass man mit seinem Gegenüber am Gartenzaun oder an der Grundgrenze (wohl oder übel) das ganze Leben lang zu tun haben wird, haben sich eigene Gesetze des Umgangs miteinander herausgebildet.

Für die städtischen Ballungsräume und die nichtstädtischen Räume im Einzugsbereich der Städte konstatiert Herbert Schwendt eine „Verdünnung des sozialen, geselligen und kommunikativen Lebens, soweit es den Rahmen der Familie überschreitet“[4649], in der das gesellige Bedürfnis der Menschen anderwärts (als im Raum der näheren sozialen Umgebung) befriedigt wird: in Kreisen stärkerer beruflicher oder sozialer Affinität oder durch das Substitut der Massenkommunikation. Mit anderen Worten, man kann sich in den urbanen Zentren und deren Einzugsgebieten seine Interaktionspartner aussuchen, während man im Dorf – das trifft mehr auf die Frauen zu – darauf angewiesen ist, mit denen auszukommen und in Beziehung zu treten, die sich in der – räumlichen – Nähe befinden. Das Dorf wird als „Verdichtungszone sozialer Beziehungen“ gesehen, als „besonders dichtes Bündel von sozialen Interaktionen“.[4650] Dabei ist es kaum möglich, in die Interaktionen nicht in gewissem Maße eingebunden zu werden. Wobei diese soziale Nähe nicht bindend mit Sympathie und Affinität zu tun haben muss. Nachbarschaft auf dem Lande hatte selten etwas mit Freiwilligkeit zu tun, sie haftet mehr am Haus als an Personen, denn „die nachbarschaftliche Beziehung ist nicht nur eine Beziehung zwischen Einzelpersonen, sondern zwischen Haushalten, genauer gesagt, zwischen Wohnstätten“. Keiner ist gezwungen, nicht einmal aufgefordert, seine Nachbarn zu lieben, aber jeder ist – im Bedarfsfall und besonders in Notsituationen – verpflichtet, ihnen zu helfen. Alle, die einmal in einem Dorf gelebt haben wissen, dass Nachbarschaft in den seltensten Fällen mit ausschließlich positiven Erfahrungen verbunden ist. „Die Soziologen, die sich vorwiegend mit Stadtsoziologie befassen, gehen besonders gerne von der irrigen Annahme aus, daß das Nachbarschaftsverhältnis im Idealfalle auf einer emotionalen Bindung der Partner beruhen müsse, die Nachbarn also Freunde sein müssen. [...] Der Zwang des normierten Miteinanders wird erst dadurch erträglich, daß der einzelne nicht jedem Nachbarn, zu dem er in Beziehung steht, auch persönliche Hingabe entgegenzubringen braucht.“[4651]

Andererseits haben Vorstellungen wie der gläserne Mensch, der durch Mobilfunkortung und GPS, durch Kreditkarten- und Kundenkartennutzung bis in das kleinste Detail seines Alltags der öffentlichen Überwachung preisgegeben wird, für gelernte Dorfbewohner kaum einen Schrecken: Die Nachbarn wissen ohnehin immer, wo man ist und wo man war, die Kassiererin vom Supermarkt kann anhand des Einkaufs abschätzen, ob die Katze Nachwuchs hat, und ob die Kinder während der Woche vom heimischen Herd aus versorgt wurden. Konsum- und Freizeitgewohnheiten sind öffentliches Thema, und wann und von wem man sich die Krampfadern ziehen hat lassen, wird wohl auch kein Geheimnis bleiben. Soziale Anteilnahme, soziale Wärme und soziale Kontrolle liegen sehr eng nebeneinander. Man kann das eine nicht haben, wenn man das andere nicht erträgt.[4652]

Teil einer Gemeinschaft wird man nur, wenn man sich ihr in gewisser Weise preisgibt. Wenn man schon nicht mit dem halben Dorf verwandt ist, so wie früher, so gilt es doch, paraverwandtschaftliche Verhältnisse zu schaffen um dazuzugehören. Dies widerspricht natürlich allen gängigen und propagierten Trends zur Individualität und Selbstbestimmung. Aber die dichten sozialen Netze, das intakte Kommunikationssystem, das Miteinander der Generationen, kurz die soziale Nähe ist der große Pluspunkt für den Lebensraum, das Soziotop Dorf. Landschaftliche Schönheit und gute Luft wiegen viele strukturelle Nachteile des Lebens abseits der Hauptadern des Geschehens auf, sind aber als Kompensationsfaktor allein schlussendlich doch zuwenig.

Macht- und Entscheidungsstrukturen

Früher waren die Rollen klar verteilt, Macht- und Entscheidungsbefugnisse wurden praktisch vererbt, man wusste, wer was zu sagen hatte. Heute haben sich die Rollen verteilt, deren Inhalt verändert. Das Bürgermeisteramt hat viel an Befugnis und Attraktivität verloren. Die Gemeinderäte sind zu (Mangel-)Verwaltungsorganen mutiert, die im Rahmen eines immer undurchschaubareren Netzes aus Bestimmungen und Verordnungen versuchen müssen, praktikable Lösungen für die Ortsentwicklung und Gestaltung zu finden. Das Image der kommunalpolitischen Entscheidungsträger wird auch nicht besser. Politikerschelte liegt an der medialen Tagesordnung. Es wohnen mehr gebildete und engagierte Bürger im Ort, die es mittels Einsprüchen und Bürgerinitiativen nicht leichter machen, sachliche Entscheidungen zu treffen. Jeder unbedachte Satz in einer Gemeinderatssitzung kann mittels lokaler Medien in Windeseile seine – nicht immer hilfreiche – Öffentlichkeit finden. Man kann praktisch kein baufälliges Haus mehr abreißen, keinen Baum mehr fällen, keine Baulücke mehr schließen, keinen Betrieb mehr ansiedeln, bei dem nicht ein Öko-Siegel und ein „dieser Betrieb verursacht Null-Dezibel-Quell-Lärm-Pickerl an der Wand hängen. Kanal- und Straßenbau rücken die Verantwortlichen in die Nähe der Kleinkriminalität, wenn man den in den neuerdings so zahlreich aus dem Boden sprießenden lokalen (Gratis)Zeitungen kolportierten Meldungen Glauben schenken kann. Das reicht bis zu Amtshaftungs- und Amtsmissbrauchsklagen bei baulichen Maßnahmen, die manchen Anrainern zum Nachteil gereichen.[4653] Wer ist unter diesen Umständen noch bereit, den Kopf hinzuhalten und am Stammtisch die eine oder andere verbale „Watschen“ zu fangen?

Es wird, vor allem in den kleineren Pendlergemeinden, immer schwieriger, Handlungs- und Entscheidungsträger zu finden. Trotzdem hält man nach wie vor an der traditionellen Rollenverteilung in der Besetzung der kommunalen Schlüsselpositionen fest. Außer ein paar wenigen Quereinsteigern, die über Bürger- und Namenslisten in verschwindender, kaum einmal entscheidender Mandatsstärke in die Gemeindeparlamente eingezogen sind, bleibt der kommunale Politikstatus quo unangetastet. Bünde und Pfründe bestimmen oftmals nach wie vor die Listenplätze, nur enormer Druck von oben lässt auf dem flachen Land und in den Winkeln die eine oder andere Frau an wählbarer Stelle der etablierten Parteiaufgebote aufscheinen. Oder wenn sich keine Männer mehr finden.[4654] Aber nicht nur die geschlechtspezifisch intendierte mangelnde Nutzung von 50 % der gemeindeinternen Human Ressourcen stellt einen enormen Nachteil dar. Noch zu sehr ist die Gemeindepolitik im traditionellen Muster verhaftet, die politischen Ämter innerhalb der alten lokalen Eliten (Gewerbetreibende, Bauern, Funktionäre von Verbänden etc.) aufzuteilen. Neue autochthone Eliten, hochgebildete soziale Aufsteiger bekommen kaum Chancen, ihre Kapazitäten zum Wohl der Gemeinden nutzbringend einzusetzen.[4655] Um dieses Problem zu lösen, wird man um die Diskussion neuer Organisationsformen in der kommunalen Politik, die bis zum Antasten des Dogmas der lokalen Gemeindevertretungen hin zu paritätisch zusammengesetzten, gewählten Regionalgremien reichen muss, nicht herumkommen.

Entwicklung zwischen Globalisierung und Provinzialität

Globalisierung heißt eines der Schlagwörter der Gegenwart. Die einen sehen sie in den meisten Lebensbereichen bereits vollzogen, andere deuten sie als lauernde Falle, das Verderben schlechthin, und sie wird inklusive der dazugehörenden Verschwörungstheorien für alles Übel verantwortlich gemacht. Die Thesen von Risikoverlierern und Risikogewinnern, der Individualisierung der sozialen Ungleichheit und die Pluralisierung der Lebensstile sind spätestens seit Ulrich Becks „Risikogesellschaft“ integraler Bestandteil der soziologischen Theorie.[4656] Weitreichende soziale Veränderungen machen auch vor den von konservativen Werten und wertkonservativen Kreisen geprägten ländlichen Lebensräumen nicht Halt. Dem Trend zur Globalisierung in den Bereichen Arbeit, Konsum und Freizeit steht allerdings eine retardierende Entwicklung in der individuellen Bewertung und Interpretation gegenüber, einer augenscheinlichen Sinn-Provinzialisierung in manchen Bereichen.

CNN & MTV – Informations- und Stilmonopole

Der Empfang von Rundfunksendern aus aller Welt und das World Wide Web haben zu einer Demokratisierung des Informationszugangs, aber auch zu einer Nivellierung des Informationsangebotes bis in die hintersten Winkel der Provinz geführt. Der Platz ist rar geworden für vom Mainstream unbeeinflusste Entwicklungen. Konsum- und Freizeitmuster, aber auch der Kulturkonsum sind vom Infotainmentmarkt bestimmt. Darüber, was Newswert besitzt, Thema ist oder sein kann, werden in großen nationalen und internationalen Nachrichtenagenturen tagespolitisch flächige Entscheidungen getroffen. Hier generieren sich neue Deutungseliten und die Versuchung, Meinungsmonopole zu schaffen.

Auf der anderen Seite kommt es zu einer augenscheinlichen Segmentierung der Kommunikations-Landschaft, zur Entstehung lokaler Medien, Wochenzeitungen und Rundfunksendern von kaum überregionaler Reichweite und Bedeutung, die unter anderem die Funktion des Dorfklatsches übernehmen. Viele interessiert immer noch mehr, wenn sich in der U12-Mannschaft der Nachbargemeinde der Libero im Kampfeinsatz gegen den drohenden Abstieg den kleinen Zeh gebrochen hat, als wenn in China ein Fahrrad umfällt. Nutzung und Wirkung der schönen neuen Medienwelt wird überschätzt. Auch wenn Neil Postman es vor mehr als 25 Jahren prophezeite, wir haben uns nicht zu Tode amüsiert. Es gibt die User-Generation als neue demografische Schlüsselgruppe und -schicht. World-wide gesehen eine Ammen-Theorie daraus abzuleiten, nach der die neuen Angebote wie Muttermilch von einer Mehrzahl der Sozietäten und ihrer Mitglieder aufgesogen werden, es ein Leben außerhalb/abseits der globalen Networks bald nicht mehr geben würde, scheint zu hoch gegriffen. Auch was Google nicht findet, existiert in den Köpfen und Herzen, in den sozialen Netzwerken der Menschen. Zweifellos birgt das World Wide Web auch und gerade für die ländlichen Regionen enormen Nutzen. Durch das Aufheben von Distanzen werden manche Standortnachteile obsolet. Es kommt darauf an, das, was viele noch als wildes Tier ansehen, zu domestizieren und im eigenen Stall heimisch zu machen. Die Gefahr, dass Formen der direkten Kommunikation in den Dörfern (landläufig ratschen oder schatzen) durch chatten ersetzt werden, besteht derzeit nicht.

Die Demokratisierung des Konsums

Internationale Ladenketten machen es möglich: die McDonaldisierung und Verschleckerung ganzer Regionen. Man kann (muss) die gleichen Dinge zum gleichen Diskont-Preis von Frastanz bis Gramatneusiedel kaufen. Waren- und Einkaufserlebnisse von individuellerem Charakter werden dagegen zu Akten des Statusgewinns, dies gilt für handgemachte Schuhe ebenso wie für den Ab-Hof-Verkauf von Bio-Lebensmitteln. Der (all)gemeine Konsum spielt sich allerdings in gleich geschalteten Dimensionen ab: Die gleichen Geschäfte in den gleichen Ortsrand-Fachmarktzentren, im gleichen Store-Outfit, die ihre gleich lautenden Werbebotschaften über das Land streuen. Bei McDonalds ist es substanzieller Teil der Firmenphilosophie: Ganz egal, wo auf der Welt, alle Filialen sehen gleich aus, alle Produkte sind streng normiert und schmecken gleich. Man findet sich zurecht. Man fühlt sich zuhause. Corporate Identity. Nur dass man früher oder später nicht mehr wissen wird, wo man sich befindet, wenn man das Schild am Ortseingang übersehen hat. Verwechselbar. Einheitsdorf mit Einheitsangebot. Und noch ist noch nicht die letzte unlukrative Ladenfläche an die zwecks Standortvorherrschaft schon in den Startlöchern scharrende Supermarktkette vermietet worden. Auch wenn der Bürgermeister bis jetzt hundert Mal gesagt hat, neben meine Kirche kommt kein Geschäft mit Glasfront in der Shampooflaschen und Katzenstreusackerln unter blitzblauer, orangeroter oder pinkfarbener Geschäftsaufschrift feilgeboten werden. Da ist dann das kommunale Hemd doch näher als der regionale Rock. Gekommen wäre der Drogerie-Diskonter sowieso. Womöglich hätte er sich dann in der Nachbargemeinde angesiedelt. Wieder ein Betrieb weniger in der Gemeinde. Und mindestens zwei Arbeitsplätze im Ort. Schlecht bezahlte, aber immerhin.

Freizeit im Dorf

Konsum ist keine genossenschaftseigene österreichische Supermarktkette mehr. Konsum ist auch nicht Mittel zur Lebenserhaltung, sondern eine Lebenshaltung. Konsum geht über die Beschaffung mehr oder weniger lebensnotwendiger Güter hinaus, ist nicht bloßes Einkaufen, reines Shopping. Konsum ist eine Freizeitbeschäftigung an sich. Nicht nur das was, besonders auch das wie und wo. Die Versorgung mit Gütern aller Art als solche soll als Erlebnis und Event zelebriert werden. Einkaufszentren schreiben sich selbst beinahe die Funktion von Wallfahrtsorten zu. Die Freizeitindustrie ist jung, Freizeitverhalten, das dem propagierten Trend entspricht, ein post-industrielles Phänomen. Trendforschungen und Konzepte dazu füllen viele Meter Regale. Mit einem innerörtlichen Angebot an Einkaufserlebnis, Erlebnisgastronomie und Einrichtungen zur sich rasch wandelnden Freizeitkultur können freilich nur wenige Dörfer dienen. Weder Fastfood-Ketten noch Shoppingcenter wollen sich in der allzu fernen Peripherie ansiedeln. Funpark und Beach-Volleyballplatz, für die murrende Jugend im Ort in den letzten Jahren fast in jeder noch so kleinen Gemeinde aus öffentlichen Geldern errichtet, sind da ein schwacher Trost für Heranwachsende.

Das Dorf als Freizeit-Konsum-Landschaft für die eigene Bewohnerschaft wird in Befragungen als mangelhaft eingestuft: Das Angebot wird am urbanen Raum gemessen. Die Nutzungsgewohnheiten haben sich geändert. Nur ein Teil der Ortsjugend kann vom Angebot der Vereine erfasst werden. Imageprobleme, Bindungsängste und ein als geringer erachteter Spaß-Faktor halten die Jugend von überkommenen und bewährten Geselligkeitsmodellen der Dorfbevölkerung fern. Vor allem für die jüngeren Heranwachsenden im Dorf, die auf das örtliche Angebot angewiesen sind, klafft eine Lücke zwischen Wunsch und Wirklichkeit. Dementsprechend fühlen sich 13- bis 18-Jährige am wenigsten wohl im Herkunftsdorf. Kindheit im Dorf stellt nach der Einschätzung vieler ein Geschenk dar: ein überschaubares räumliches wie soziales Umfeld, Geborgenheit, Sicherheit, Outdoor-Spielmöglichkeiten in Fülle. Abenteuerspielplatz ohne organisierte Animation mit vielfältigen Gestaltungsmöglichkeiten. Dies ändert sich aber, wenn man aus dem Spielplatz hinausgewachsen ist. Ab dem Hauptschulalter bereiten die Jugendlichen den Verantwortlichen in den Gemeinden oft mehr Kopfzerbrechen als Freude.

Der Mythos vom kulturellen Brachland kann, dies gilt nicht nur für den Bereich der Volkskultur in kaum einer Region aufrechterhalten werden. Zweifellos gibt es Einschränkungen im Angebot. Nicht jeden Tag kann man sich aussuchen, welche Veranstaltung man aufsuchen will. Freizeit- und Kulturkonsum auf dem Land hat mit Planung, Kompensation und Mobilität zu tun. Aber auch der Kulturkonsum im städtischen Umfeld spielt sich eher im theoretischen Bereich ab. Viel mehr als um den tatsächlichen Besuch einer Veranstaltung geht es um die Möglichkeit, sie zu besuchen. Als müßig erwiesen haben sich oftmals gut gemeinte Versuche des bildungsbürgerlichen Imports von Kulturereignissen aus dem Zentralraum. Kultur, die im Dorf ankommt, ist Ausdruck sozialen Handelns, hat regionale Akteure und autochthone Wurzeln.

Ferienlandschaften und Freizeitoasen

Viele Dörfer sind für Sport- und Bewegungsfreudige auf Grund ihrer naturräumlichen Gegebenheiten ideale Freizeitlandschaften. Nicht nur für die BewohnerInnen, besonders auch für BesucherInnen. Diese Tatsache stellt in vielen ländlichen Regionen einen eminenten Existenzfaktor dar. Meist akzeptieren die ständigen BewohnerInnen dessen Bedeutung. Doch rückt in der einen oder anderen Gemeinde die Grenze der Belastbarkeit schon in greifbare Nähe. Befragte BürgerInnen wägen zwischen Wohl und Weh des Fremdenverkehrs in den Dörfern ab und sehen dessen Existenz als unbestreitbare Notwendigkeit. Allerdings bedarf es einer gewissen kollektiven Notwehr, die sich dort und da in überzogenen WIR-SIND-WIR-Ansprüchen ausdrückt. Durch den Tourismus wurde bereits von Jahrzehnten die Welt ins Dorf gebracht. Der Dialog der Kulturen blieb meist auf sehr wenige Segmente beschränkt. Das, was man den Fremden oder, wie man inneralpin zu sagen pflegte, den Herrischen an eigener Denk- und Lebensweise in öffentlichen Darstellungen preisgab, war nur eine Folie der Alltagskultur und dürfte ein Akt kollektiver Psychohygiene gewesen sein.[4657]

Während Umweltverträglichkeits-Prüfungen für den touristischen Infrastruktur-Anlagenbau selbstverständlich sind, stellt sich die Frage nach Sozialverträglichkeitsprüfung von Maßnahmen nicht. Massentourismus wirkt extrem gemeinschaftsgefährdend in der aufnehmenden Gesellschaft. In intensiv genutzten Gebieten (und davon gibt es im Bundesland Salzburg viele) tritt ein Monaco-Effekt ein. Die Einheimischen können sich das Leben im eigenen Dorf kaum mehr leisten, müssen Preise, die sich an dem orientieren, was man im Urlaub auszugeben bereit ist, das ganze Jahr über in Kauf nehmen. Zudem bleibt wenig Zeit und Kraft und Spielraum, Gemeinschaft und Geselligkeit ohne (touristischen, verkaufsfördernden) Zweck zu vollziehen. Dadurch gefährdet das System sich selbst. Als wichtiges Entscheidungskriterium für die Wahl des Urlaubsortes gilt neben landschaftlicher Schönheit und Kompetenz der Gastgeber die Freundlichkeit der Bevölkerung. Als zahlender Gast will man willkommen sein. Dem Drängen von Experten und Beratern nach massiven Investitionen in die Erlebnis-Infrastruktur nachzugeben bedeutet zudem, die wichtigste Grundlage, den nicht-erneuerbaren, unverwechselbaren Naturraum zu beeinträchtigen. Hier gilt es abzuwägen. Die Zeiten der kurzfristigen Konzepte, mit denen schnelles Geld zu machen war, sind vorbei. Die Ressourcen sind endendwollend, die landschaftlichen und die sozialen.

Nivellierung der Sprache

Jeder Mensch spricht mehrere Sprachen. Auch wenn er keine Fremdsprachen spricht. Eine Sprache, in der er einst den Großeltern erklärt hat, warum das neue Fahrrad unbedingt 12 und nicht 6 Gänge haben muss. Eine Sprache, in der man den Lehrern sagt, was man glaubt, dass sie hören wollen. Eine Sprache, in der man Kinder beruhigt, Immobilien verkauft, am Stammtisch die Welt erklärt und den Hund zum Spielen animiert. Jede dieser Sprachen hat ein eigenes Vokabular und eine eigene Semantik. Sprache ist Ausdruck der Persönlichkeit und der Zugehörigkeit. In dem Ausmaß, in dem sich Menschen mit einer Gruppe (sozial oder sozial-räumlich) identifizieren, werden sie sich ihrer Sprache bedienen. Dort, wo eine Gruppe nicht über gemeinsames Verständnis, eine Corporate Identity verfügt, wird sie keine (gemeinsame) Sprache (mehr) benötigen.

Das Verschwinden regionaler Sprachen und Idiome geht Hand in Hand mit dem Zurückdrängen bäuerlicher Kulturen, der horizontalen (räumlichen) wie vertikalen (sozialer Aufstieg) Mobilität, der Internationalisierung der Information und der wirtschaftlichen Globalisierung. Ein kausaler Faktor für das Zurückdrängen der Sprachunterschiede liegt sicher auch in der zunehmenden Verschriftlichung der Kommunikation und dem Abnehmen der Face-to-Face-Interaktionen. Das meiste, was wir an gesprochenem Wort wahrnehmen, kommt aus dem Fernsehen, dem Radio oder einer Audio-Konserve und ist in einer Art Umgangs-Einheits-Sprache gestaltet. Sprachliche Nivellierung auf dem kleinsten gemeinsamen Nenner, der allgemeinen Verständlichkeit wegen. Wort-karg. So wie Boulevard-Zeitungen. Anspruch auf sprachliche Eigenheit wird meist nur von regionalen Minderheiten gestellt. Hier wird das Recht auf den Gebrauch der eigenen Ausdrucksweise mit kultureller Identität untermauert. Sprache ist dynamisch, Sprache verändert sich. Mittels Jargons, Slangs und Codesystemen versuchen gesellschaftliche Gruppen, sich ein Binnenverständnis zu geben, sich nach außen abzugrenzen. Das ist nicht nur in Sub- und Jugendkulturen und den verschiedenen sozialen Milieus so, das betreibt z. B. auch die wissenschaftliche Zunft und Kreise, die an der Börse tätig sind.

Mit dem kollektiven Binnenverständnis einer Gruppe steigt auch deren Identifikation mit einer eigenen Sprache. Beispiel dafür ist die Kreation einer eigenen SMS-Sprache, die sich nicht an orthografische oder grammatikalische Regeln hält, nicht selten eigene Wörter und Piktogramme erfindet, aber auch eine Reihe von Dialektwörtern und umgangssprachlichen Floskeln beinhaltet. Regionale Beispiele sind die vielen neu gegründeten Theatergruppen auf dem Land, die sich um eine regionale Sprach-Authentizität bemühen wie auch Musikgruppen (z. B. „Der Berg“ aus Altenmarkt oder die Lungauer „Querschläger“, die mit ihren Texten und der Art ihrer Darbietung zu einem neuen Verständnis von autochthonem Sprachgebrauch beigetragen.[4658] Eine regionale/lokale Sprache kann so lange lebendig bleiben, wie die sie schaffende soziale Gemeinschaft etwas zu sagen hat. Über sich. Von sich. Sonst nicht. Oral Tradition. Aber das ist jetzt ein anderer Dialekt.

Die Sehnsucht nach der heilen Welt

Neben den zahlreichen Indikatoren für eine Globalisierung der Lebensstile und der Gestaltung des individuellen Alltags gibt es auch eine Reihe von Faktoren, die einen gegenteiligen Trend anzeigen. Werbungen bedienen sich immer häufiger der Sujets von unbelasteten, unberührten Landschaften, das Jogurt wird von einer jungen Frau in bäuerlicher Gewandung in einer Zirbenschüssel mit einem Holzlöffel gerührt, Käselaibe in Kellern mit gotischen Gewölben von Hand gebürstet und gewendet, „Österreichs bestes Bier“ entspringt offenbar einer Landschaft, die noch nie ein Mensch betreten hat. Wenn sich die Werbung solcher Bilder bedient, um ihre Botschaften zu transportieren, muss sie einen enormen Bedarf an entsprechenden Assoziationen geortet haben. Natur sells. Geselligkeit sells. Bäuerlichkeit und Dörflichkeit sells.

Auch jenseits der Werbebotschaften kann man einen Trend zur Rustikalisierung urbaner Lebensbereiche orten. Bildungsbürger und Politiker kleiden sich in bäuerliche Gewänder[4659] Trachtenkollektionen tragen Namen lang gedienter Adels- und Herrscherhäuser, ihre internationale Verwandte „Laura Ashley“ bringt mittels Katalog rural-internationales Flair in das Reihenhaus am Stadtrand. Alpenländische, volkstümliche Unterhaltung gilt als Quotenhit. Musik- und Showformate nach dem Vorbild des Ur-Ahnen „Musikantenstadel“ belegen mit hohen Einschaltquoten die Primetime der privaten und der öffentlich-rechtlichen Sender. Der Markt boomt. Am anderen Ende der Skala steht die „echte Volkskultur“, deren von manchen mit pseudoreligiöser Vehemenz betriebene Reinhaltung von artfremden Elementen schlussendlich auch in einer Art Authentizitätsfalle enden kann. Doch das Bedürfnis nach überkommenen, vertrauten Formen der Unterhaltung jenseits von Ö3 und MTV besteht zweifellos nicht nur bei Hardlinern und Insidern. Neue Traditionsvereine werden gegründet, kaum mehr eine ländliche Gemeinde, die nicht über eine eigene Theatergruppe verfügt, Blasmusikkapellen klagen selten über Nachwuchssorgen. Die Menschen haben ein Bedürfnis, den multiplen Wirklichkeiten, mit denen sie sich konfrontiert sehen, etwas Vertrautes, der Homogenisierung des Kulturellen etwas Authentisches oder zumindest das, was sie dafür halten, entgegenzusetzen. Zweifellos besteht die Gefahr, Wir-Gruppen-Gefühle zu überziehen und zur Ausgrenzung des Andersgestaltigen zu nutzen. Isolations-Reflexe, die aus der Orientierungslosigkeit zwischen einem unüberschaubaren Angebot an medialem Entertainment und dem Einheits-Erlebnis-Event-Brei herrühren, stellen für sich keine regionale Identität dar. Auseinandersetzung und Akzeptanz des kulturell Andersgestaltigen ermöglicht tatsächliche individuelle Ver-Ortung und selbst bestimmte Identifikation der Village People mit ihrer räumlichen Umwelt und ihren individuellen Bedeutungszuschreibungen. Hier können Lebensraum- und Lebenswelt-Konzept eine Deckung erfahren.

Inseln im dörflichen Alltag

In der Folge des Wandels der familiären Hausorganisation, dem Verschwinden der großen Mehr-Generationenhaushalte mit zum Teil familienfremden Personen (Dienstboten, Einlieger, Wanderarbeiter, das eine oder andere Pflegekind, unversorgte Verwandte etc.) und dem Rückzug in die Privatheit der Kernfamilie, bildeten sich neue dörfliche Lebenswelten, entstand praktisch eine Segregation oder Fraktionierung der Familien. Das Aufeinander-Angewiesensein, die Interdependenz zwischen Verwandtschaft und Nachbarschaft, zwischen den Generationen im dörflichen Alltag wurde von einem entpersonifizierten Sicherungssystem aus Katastrophen- und Sozialversicherungen, aus familienunterstützenden und -ersetzenden Einrichtungen abgelöst.

Soziale Gruppen existieren wie auf Inseln, die mittels gelegentlicher Fährverbindungen korrespondieren. Der eminente Teil der Dorföffentlichkeit[4660] blieb fest in Männerhand, Vereine, Funktionen, kommunalpolitische Entscheidungsgremien, öffentliches Leben und der Stammtisch. Dies erscheint in manchen Gemeinden paradox, denn die Mehrheit der männlichen Bevölkerung verbringt den Großteil des Tages außerhalb des Dorfes und ist über gemeinderelevante Belange unzureichend informiert. Trotzdem sind die Strukturen, die die Dominanz des männlichen Bevölkerungsanteiles stützen und festigen in den Gemeinden enorm stabil. Weibliche Lebenswelten werden nach wie vor gleichgesetzt mit weichen, beziehungsimmanenten und reproduktiven Faktoren des Alltags. Die (Quoten-)Frau im Gemeinderat hat demzufolge den Sozialausschuss unter sich. Selten Planung und Finanzen. Familie und Sippe, soziales Umfeld und Nachbarschaft und, wenn schon an der Öffentlichkeit, dann auf der sozialen Bühne Karitativität und im Bereich der Bildung und Kreativität, werden (nicht nur von den Männern) als weibliche Handlungsfelder zugebilligt.

Das Leben auf den dörflichen Inseln ist gut organisiert, die Aktivitäten in den Gemeinden sind zahlreich und bunt. Kinder- und Jugendgruppen, Frauengruppen, Seniorengruppen, das klassische und bewährte Angebot an Sportvereinen, Musikkapellen, Feuerwehr, Schützen, Traditionsvereine usw. Die Vielfalt speziell zugeschnittener Zielgruppenangebote birgt eine gewisse Gefahr: dass diese wichtigen sozialen Elemente eine fraktionierende, desintegrative Komponente haben. Freiwillige soziale Beziehungsnetze wurden individualisiert, wenn man so will privatisiert. Mit der Gestaltung der sozialen Beziehungen der Heranwachsenden (und Herauswachsenden) werden zunehmend Professionisten betraut. Für jede dieser Gruppen gibt es eine eigene, betreute Insel. Die (positive) Betonung der Gleichaltrigengruppe (Peergroup) ist der Gefahr des Lebens in Altersgruppen-Ghettos gewichen. Soziale Erfahrungen werden hauptsächlich mit Personen gemacht, deren Lebensumstände und Alltagsbedingungen den eigenen ähneln. Dadurch leiden auch Verständnis und Einsicht für die Gestaltungserfordernisse anderer Generationen. Dadurch wird es notwendig, neue (oder alte) integrative und intergenerative Erlebnismöglichkeiten zu schaffen, bestehende Ansätze zu verstärken und zu vernetzen, um zu einer neuen gemeinsamen Orts-Identität zu finden.[4661]

Schlussfolgerung und Entwicklungsprognose

Das Leben in den Dörfern hat sich verändert. Zweifellos haben die dörflichen Alltagszusammenhänge an Funktion für ihre Bewohner eingebüßt. Die dörfliche Lebenswelt ist nicht mehr der alleinige Erfahrungsrahmen für Heranwachsende wie noch vor einer oder zwei Generationen. Individuelle Mobilität, Informationsgesellschaft und Rückzug in die Kernfamilie haben der sozialen Gehschule Dorf das Bezugsmonopol abgelaufen. Soziale Kontakte finden nicht mehr hauptsächlich oder sogar ausschließlich in der Verwandtschaft oder Nachbarschaft statt. Man ist nicht mehr darauf angewiesen, sein Leben mit denen zu teilen, die sich in unmittelbarer räumlicher Nähe befinden. Es von weniger existenziellem Charakter, Formen des Miteinanders, zumindest der erträglichen Koexistenz zu finden, sich gegen territoriale wie auch soziale Übergriffe abzugrenzen, sich in einem genau umgrenzten und biografisch determinierten sozialen Umfeld zu positionieren. Wenn mir mein soziales und räumliches Umfeld nicht behagt, suche ich mir ein anderes. Bis in die entlegensten Winkel besteht heute die Möglichkeit, seinen Freundes- und Bekanntenkreis aus selbst gewählten Personen zu rekrutieren. Individuelle soziale Netzwerke entstehen weitgehend nach dem Prinzip der Freiwilligkeit, nicht der Notwendigkeit.

Trotzdem sind Dörfer keine Auslaufmodelle. Sie sind nicht eine Vorstufe oder ein Rest dessen, was übrig bleibt, wenn die Nachbargemeinde zur Stadt erhoben wird. Dörfer sind in der Überschaubarkeit ihrer Strukturen ein ideales Feld für die mitverantwortete Gestaltung von Lebensraum. Die viel strapazierte Bürgerbeteiligung darf sich nicht in der Abstimmung über das Pflaster auf dem Dorfplatz beschränken. Die veränderten sozialen Bedürfnisse, aber auch die persönlichen Kapazitäten der dort lebenden Menschen müssen Grundlage für kommunale Entscheidungen sein. Dann werden trotz aller struktureller Schwierigkeiten und bei allen Widersprüchen dörfliche Lebenswelten weiterhin von enormer individueller Bedeutung für eine Vielzahl ihrer BewohnerInnen sein. Manche Leistungen auf funktioneller, verwaltungstechnischer Ebene werden einzelne Dörfer in Hinkunft nicht selbst, vor allem nicht alleine zu erbringen im Stande sein. Es wird zu einer Reduktion der Aufgaben kommen (müssen), Gemeinde-Verbünde werden vonnöten sein.

Unangetastet wird aber die Funktion des Dorfes für seine BewohnerInnen als gestaltbarer Sozialraum sein. Hier liegt die Zukunft der dörflichen Einheit. Leben im Dorf kommt dem Kohrschen menschlichen Maß am ehesten nahe. Entschleunigte Welt, in Echtzeit erlebbar. Dazu dürfen Dörfer nicht im Status einer konservierten Schauwelt erstarren. Sie müssen lebendige Lebensräume und vor allem Sozialisationsräume für die Heranwachsenden sein. Es gilt abzuwägen, was an Rudimenten bäuerlich-traditioneller Lebenswelten, an Versatzstücken suburbaner Lebenswelten in das neue Dorfbild zu integrieren ist. Veränderung ist legitim, ist notwendig. Das Dorf hat sein Monopol als alleiniger Bezugsrahmen, als ausschließliche Heimat für seine BewohnerInnen verloren. Es muss sich dem Vergleich mit anderen, besser ausgestatteten kommunalen Einheiten als ständiger Wohnsitz bewähren. Auch in diesem Zusammenhang werden die Dörfer hinkünftig in Konkurrenz zueinander und zu den Städten treten. Leben im Dorf kann das Gegenteil vom Rückzug in ein neues Biedermeier sein. Die Menschen in den Dörfern haben es in der Hand, ihre soziale und individuelle Identität in einem überschaubaren lokalen Handlungsrahmen zu definieren. Dann sind Dörfer für die Village People Sinn-Provinzen im besten Sinne des Wortes.



[4609] Dieser Text stellt eine publizistische Verkürzung der gleichnamigen Dissertation der Autorin dar.– Fuchshofer, Rosemarie: Village People. Leben im Dorf zwischen Globalisierung und Provinzialität. Theoretische Ansätze und empirische Befunde zur Veränderung ländlicher Lebensräume und Lebenswelten. Dissertation. Salzburg 2004.

[4610] Interessierte seien auf die Lang- und Endfassung der gleichnamigen Dissertation verwiesen.

[4611] vgl. dazu das entsprechende Kapitel: Das interpretative Programm – Symbolischer Interaktionismus und Phänomenologie. In: Treibel, Anette: Einführung in soziologische Theorien der Gegenwart. Opladen 1993, S. 107–131.

[4612] Wurzbacher, Gerhard: Das Dorf im Spannungsfeld industrieller Entwicklung. Untersuchung an den 45 Dörfern und Weilern einer westdeutschen ländlichen Gemeinde. Stuttgart 1961.

[4613] vgl. dazu Herbert Schwendts Konzept der monofunktionalen Räume im Aufsatz: Leben auf dem Lande. Die vier unterschiedlichen Bedeutungen von „Land“ heute. In: Wehling, Hans-Georg (Hg.): Dorfpolitik. Opladen 1978, S. 31–38.

[4614] Treibl, Anette: Einführung in soziologische Theorien der Gegenwart. Opladen 1993, S. 127.

[4615] Auftragsarbeiten waren z. B. die BürgerInnenbefragungen in verschiedenen Gemeinden, die in Zusammenarbeit mit dem SIR (Salzburger Institut für Raumordnung und Wohnen) entstanden und deren Ergebnisse in die REK – Räumlichen Entwicklungskonzepte der Gemeinden – eingeflossen sind.

[4616] „Heidi wohnt hier nicht mehr“ wurde vom Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank finanziert (Projekt Nr. 8347). Diese Tatsache ermöglichte ein Höchstmaß an wissenschaftlicher Freiheit und Beweglichkeit, da keinerlei Erwartungen und/oder Zielsetzungen durch einen Auftraggeber implementiert waren.

[4617] Die Auseinandersetzung mit der angelsächsischen, vor allem der US-amerikanischen Tradition der Rural Sciology unterbleibt an dieser Stelle, da sie von völlig anderen historischen, wirtschaftlichen und sozialen Gegebenheiten ausgeht. Hier sollen nicht Äpfel mit Birnen verglichen werden. Einbezogen wurde in die Analyse die Soziologie des deutschsprachigen Kulturraumes, da hier vergleichbare Voraussetzungen und Verhältnisse für die Entwicklung und Bedeutung des ländlichen Lebensraumes für die BewohnerInnen gegeben sind.

[4618] Plank, Ulrich; Joachim Ziche: Land und Agrarsoziologie. Eine Einführung in die Soziologie des ländlichen Siedlungsraumes und des Agrarbereiches. Stuttgart 1979, S. 11.

[4619] Hans-Georg Wehling in der Einleitung des von ihm herausgegebenen Buches: Dorfpolitik. Opladen 1978, S. 9.

[4620] vgl. Bausinger, Hermann: Dorf und Stadt – ein traditioneller Gegensatz. Erscheinungsformen, Herkunft, sozialökonomischer Hintergrund und Rückwirkungen einer Ideologie. In: Wehling, Hans-Georg (Hg): Dorfpolitik. Opladen 1978, S. 21.

[4621] Schäfers, Bernhard: Die ländliche Welt als Alternative. In: Wehling, Hans-Georg (Hg): Das Ende des Alten Dorfes. Stuttgart 1980, S. 15.

[4622] Plank, Ulrich; Joachim Ziche: Land und Agrarsoziologie. Eine Einführung in die Soziologie des ländlichen Siedlungsraumes und des Agrarbereiches. Stuttgart 1979, S. 480.

[4623] Für eine ausführliche Ahnengalerie siehe Plank, Ulrich; Joachim Ziche: Land und Agrarsoziologie. Eine Einführung in die Soziologie des ländlichen Siedlungsraumes und des Agrarbereiches. Stuttgart 1979, S. 15.

[4624] Schnapper-Arndt, Gottlieb: Hoher Taunus. Eine sozialstatistische Untersuchung in fünf Dorfgemeinden. Bearbeitet zur Neuauflage in den „Klassikern der Umfrage-Forschung“ 1963 von Erich Peter Neumann im Verlag für Demoskopie Allensbach und Bonn. Erste Auflage erschienen 1883 in Leipzig unter dem Titel „Fünf Dorfgemeinden auf dem Hohen Taunus. Eine sozialstatistische Untersuchung über Kleinbauerntum, Hausindustrie und Volksleben.“

[4625] Vorwort zur 3. Auflage von Imogen Schmoller in: Schnapper-Arndt, Gottlieb: Hoher Taunus. Allensbach und Bonn 1975, S. VIII.

[4626] Scheuringer, Brunhilde: Das Dorf im Spannungsfeld sozialen Wandels. In: Dachs, Herbert (Hg): Das gefährdete Dorf. Grundsätzliches zur Dorferneuerung. Erfahrungen am Beispiel Salzburg. Salzburg 1992, S. 20. – Kritische Anmerkungen zum Werk des Volkskundlers Riehl sind außerdem u. a. zu finden in: Schäfers, Bernhard: Die ländliche Welt als Alternative. In: Wehling, Hans-Georg (Hg): Das Ende des Alten Dorfes. Stuttgart 1980, S. 12. – Kaschuba, Wolfgang; Carola Lipp: Leben in zwei Welten. Probleme sozioökonomischen Wandels und generativer Verhaltensmuster. In: Wehling, Hans-Georg (Hg.): Das Ende des Alten Dorfes. Stuttgart 1980, S. 140–151. – Bausinger, Hermann: Dorf und Stadt – ein traditioneller Gegensatz. Erscheinungsformen, Herkunft, sozialökonomischer Hintergrund und Rückwirkungen einer Ideologie. In: Wehling, Hans-Georg (Hg): Dorfpolitik. Opladen 1978, S. 25. – Ulrich Planck und Joachim Ziche räumen zwar ein, dass die Bauerntumsideologie und Romantik die sich entwickelnden deutsche Agrarsoziologie wie ein Schatten begleitet, eine kritische Distanzierung zu Riehls Aussagen findet hier aber nicht statt: Planck, Ulrich; Joachim Ziche: Land und Agrarsoziologie. Eine Einführung in die Soziologie des ländlichen Siedlungsraumes und des Agrarbereiches. Stuttgart 1979, S. 19.

[4627] Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. 6. u. 7. Auflage. Berlin 1926. Zitiert von Gerhard Wurzbacher in: Beobachtungen zum Anwendungsbereich der Tönniesschen Kategorien Gemeinschaft und Gesellschaft. In: KZfSS (Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie). Jg. VII. 1956, S. 443f. – sowie von Brunhilde Scheuringer in: Das Dorf im Spannungsfeld sozialen Wandels. In: Dachs, Herbert (Hg): Das gefährdete Dorf. Grundsätzliches zur Dorferneuerung. Erfahrungen am Beispiel Salzburg. Salzburg 1992, S. 20/21.

[4628] Tönnies, Ferdinand: Gemeinschaft und Gesellschaft. 6. u. 7. Auflage. Berlin 1926, S. 246.

[4629] Pevetz, Werner: Die ländliche Sozialforschung in Österreich 1972–1982. Wien 1984, S. 12.

[4630] Wie dies Bausinger der Raumordnung und den Landesplanern vorwirft. – Bausinger, Hermann: Dorf und Stadt – ein traditioneller Gegensatz. In: Wehling, Hans-Georg (Hg): Dorfpolitik. Opladen 1978, S. 18–38.

[4631] Besonders zu erwähnen ist die diesem Zusammenhang ein Projekt der Deutschen Forschungsgemeinschaft, dass ab 1970 an Ludwig-Uhland-Institut begonnen wurde, sich über mehrere Jahre hinzog, um schließlich von Albert Ilien und Utz Jeggle in ihrem Buch: Leben auf dem Dorf. Opladen 1978 veröffentlicht zu werden, und das zuvor schon in mehreren Aufsätzen dargestellt wurde.

[4632] Schäfers, Bernhard: Die ländliche Welt als Alternative. In: Wehling, Hans-Georg (Hg): Das Ende des alten Dorfes. Stuttgart 1980, S. 11/12.

[4633] Kötter, Herbert; Hans-Joachim Krekeler: Soziologie der Stadt-Land-Beziehungen. In: König, Rene (Hg): Handbuch der empirischen Sozialforschung. Band 10. Stuttgart 1977 (1/1969), S. 21.

[4634] Kötter, Herbert; Hans-Joachim Krekeler: Soziologie der Stadt-Land-Beziehungen. In: König, Rene (Hg): Handbuch der empirischen Sozialforschung. Band 10. Stuttgart 1977 (1/1969), S. 2 und S. 31.

[4635] Vgl. den gleichnamigen Aufsatz von Hans-Georg Wehling und Axel Werner: In: Wehling, Hans-Georg (Hg): Dorfpolitik. Opladen 1978, S. 99–111.

[4636] Wehling, Hans-Georg: Dorfpolitik. Eine Einführung. In: Wehling, Hans-Georg (Hg): Dorfpolitik. Opladen 1978, S. 9.

[4637] Ilien, Albert; Utz Jeggle: Die Dorfgemeinschaft als Not- und Terrorzusammenhang. Ein Beitrag zur Sozialgeschichte des Dorfes und zur Sozialpsychologie seiner Bewohner. In: Wehling, Hans-Georg (Hg): Dorfpolitik. Opladen 1978. (Auszug aus der Studie „Leben auf dem Dorf“ von denselben Autoren. Opladen 1978.)

[4638] Kaschuba, Wolfgang; Carola Lipp: Leben in zwei Welten. Probleme Sozioökonomischen Wandels und generativer Verhaltensmuster. In: Wehling, Hans-Georg (Hg): Das Ende des Alten Dorfes. Stuttgart 1980, S. 140.

[4639] Wehling, Hans-Georg: Dorfpolitik. Eine Einführung. In: Wehling, Hans-Georg (Hg): Dorfpolitik. Opladen 1978, S. 17.

[4640] Wehling, Hans-Georg: Dorfpolitik. Eine Einführung. In: Wehling, Hans-Georg (Hg): Dorfpolitik. Opladen 1978, S. 12.

[4641] Die empirische Datenbasis bilden folgende Arbeiten der Autorin (als verantwortliche oder als Co-Autorin): Asylwerber und ländlicher Raum. Soziale Hilfspotentiale und dörfliche Problemlösungsressourcen zur Integration von Asylwerbern im ländlichen Raum am Beispiel des Salzburger Lungaus. Diplomarbeit. Salzburg 1994. – Erwachsenenbildung und regionale Entwicklung im Lungau. Im Auftrag der Arbeitsgemeinschaft Erwachsenenbildung. Salzburg 1998. (Gemeinsam mit Martin Weichbold; Institut für Kultursoziologie der Universität Salzburg). – Public mediation between young people from immigrant/ethnic minority communities and professionals form the youth policy field. Evaluation der nationalen österreichischen Teilprojekte des tansnationalen EU-Projektes. (Gemeinsam mit Maria Hirnsperger) Hier besonders: Lernbetreuung und freizeitpädagogische Aktionen mit Romakindern in Oberwart/Burgenland. Salzburg 1999. – Heidi wohnt hier nicht mehr. Zur Abwanderung des autochthonen kreativen und innovativen Potentials aus dem Lungau. Zwischenbericht Mai 2001 und Endbericht Mai 2002. Projekt des Jubiläumsfonds der Österreichischen Nationalbank Nr. 8347. (unter Mitarbeit von Kirstin Eckstein und Maria Wullner). – BürgerInnenbefragungen (zum Teil gemeinsam mit Martin Weichbold) in den Gemeinden St. Margarethen, Weißbach/Lofer; St. Martin/Lofer; Goldegg; Dorfgastein; Hallwang; St. Michael/Lungau. – Bedarfserhebung für ein Jugendzentrum Henndorf am Wallersee (1999). Gästebefragung St. Michael (2000). – Lebensraum im Umbau. Ergebnisse und Analysen der BewohnerInnenbefragung zur abgeschlossenen Sanierung der Siedlung Neue Heimat in Bischofshofen. Im Rahmen des Wohnforschungsprojektes „Gesamtheitliche Sanierung zusammenhängender Siedlungsstrukturen“. Gemeinsam mit dem SIR (Salzburger Institut für Raumordnung und Wohnen) und der GSWB (Gemeinnützige Salzburger Wohnbaugesellschaft) (2003). – Sozialwissenschaftliche Begleitung von Dorferneuerungsprojekten: Generationendorf (2003).

[4642] Dachs, Herbert (Hg.): Das gefährdete Dorf. Salzburg 1992.

[4643] Schwendt, Herbert: Das Dorf im Verstädterungsprozess. Die Phasen des sozialen Wandels auf dem Dorf und die ungelösten Probleme des Zusammenlebens. In Wehling, Hans-Georg (Hg.): Dorfpolitik. Opladen 1978, S. 84–98.

[4644] Scheuringer, Brunhilde: Das Dorf im Spannungsfeld sozialen Wandels. In: Dachs, Herbert (Hg.): Das gefährdete Dorf. Salzburg 1992, S. 23.

[4645] Durch die Kommunale Gebietsreform in der BRD wurde die Zahl der selbstständigen Gemeinden von 23.214 auf 6.396 verringert. Quelle: Scheuringer, Brunhilde: Das Dorf im Spannungsfeld sozialen Wandels. In: Dachs, Herbert (Hg.): Das Gefährdete Dorf. Salzburg 1992, S. 23.

[4646] Was nicht bedeutet, dass diese Frage nicht diskutiert und intelligente, adäquate, machbare Konzepte für eine Nahversorgung im ländlichen Raum erstellt werden müssen. Solange aber Beratungsfirmen nach urbanen Denk- und Deutungsmuster Daten liefern, die als Grundlage für eine gegebene Versorgung die Erreichbarkeit des nächsten Nahversorgers in fünf Gehminuten (oder weniger als 300 Metern) als Basiskategorie annehmen, bleibt das gesamte Bundesland mit Ausnahme von Teilen der Landeshauptstadt und einiger Bezirkshauptorte eine erklärte Versorgungswüste. Eine Grundlagenerhebung, die nicht nur auf Ladenflächen und Verkaufszahlen im Quadrat mit der potentiellen Kundschaft und deren angenommener Kaufkraft geteilt durch die Pendlerzahl aus der letzten Volkszählung beruht, würde der Diskussion mehr Vehemenz und Glaubwürdigkeit jenseits des „Krämer-Geistes“ vermitteln.

[4647] Der so genannte „Fahrstuhleffekt“ ist Teil der Individualisierungsthese in Ulrich Becks „Risikogesellschaft“. Die Klassengesellschaft wird insgesamt eine Etage höher gefahren, allen geht es besser. – vgl. dazu Beck, Ulrich: Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt 1986.

[4649] Schwendt, Herbert: Auf dem Lande leben. In: Wehling, Hans-Georg (Hg.): Dorfpolitik. Opladen 1978, S. 35f.

[4650] Wehling, Hans-Georg; Axel Werner: Schlafgemeinde. In: Wehling, Hans-Georg (Hg): Dorfpolitik. Opladen 1978, S. 107.

[4651] Heberle, Rudolf: Das normative Element in der Nachbarschaft. In: Kölner Zeitschrift für Soziologie und Sozialpsychologie. Jg. XI. 1959, S. 191.

[4652] In „Heidi wohnt hier nicht mehr“ habe ich diese Form der sozialen Geborgenheit als „Stallwärme“ bezeichnet.

[4653] Im Computer-Spiel Sim-City gibt es eine Kategorie von Gebäuden und Anlagen, die ANNU heißt. ANNU bedeutet Aber Nicht Neben Uns und steht für Industrieanlagen, Müllverbrennungsanlagen, Hochspannungsleitungen und andere Infrastruktur, derer sich jeder bedient, die aber keiner in seiner unmittelbaren Lebensumgebung haben will. Bestes Beispiel dafür in der Realität sind die Diskussionen um die Errichtung von Handy-Masten oder 30 km/h-Geschwindigkeitsbegrenzungen.

[4654] Dort, wo sich auf Grund mangelnder Attraktivität der Ämter nicht mehr genügend Männer bereit finden, finden Frauen vermehrt Möglichkeiten vor, als Trouble-Shouter fungieren zu dürfen. Zu beobachten ist dieses Phänomen in strukturschwachen Gebieten wie den Grenzregionen im Osten und in der ehemaligen DDR, wo es bereits eine Reihe von Bürgermeisterinnen und Ortsvorsteherinnen gibt.

[4655] Vgl. dazu den Aufsatz der Autorin zu „Heidi wohnt hier nicht mehr“ auf dieser CD-ROM. – Die These, dass in den fest gefügten sozialen Systemen der Landgemeinden (hier speziell im Lungau) den neuen Eliten kaum Gestaltungsraum in den Herkunftsorten eingeräumt wird, hat sich weitgehend bestätigt.

[4656] Beck, Ulrich. Risikogesellschaft. Auf dem Weg in eine andere Moderne. Frankfurt/M. 1986.

[4657] Die viel geschmähten Heimatabende der 60er- und 70er-Jahre können in diesem Licht als Akte der Verweigerung des Ausverkaufs der dörflichen Eigenart und des alltagskulturellen Selbstverständnisses gesehen werden. Verfremdung in der Darstellung, um der Entfremdung zu entkommen.

[4658] Hörbeispiele auf www.querschlaeger.at

[4659] Der Begriff Landhausmode dürfte sich aber nicht auf den Sitz der steirischen Landesregierung beziehen.

[4660] Die Unterscheidung zwischen eminenter und relevanter Dorföffentlichkeit wird von Albert Ilien und Utz Jeggle getroffen. Erstere beinhaltet die Dorfpolitik und kommunale Entscheidungen (männliche Lebenswelt), während die andere auf die so bezeichneten sozialen Ränder, Tagesgeschehen, Einzelschicksale und familiäre Ereignisse spezialisiert bleibt. – vgl. dazu Ilien, Albert; Utz Jeggle: Leben auf dem Dorf. Opladen 1978, S. 178ff.

[4661] Ein Versuch in diese Richtung ist das Projekt Generationendorf der Salzburger Gemeindeentwicklung, bei dem in drei ausgewählten Modellgemeinden auf einer themenzentrierten, überparteilichen und überkonfessionellen temporären Plattform die aktuellen Themen diskutiert und unter Beiziehung von professionellen Kompetenzpartnern gemeinsam Projekte auf Gemeindeebene durchgeführt werden können.

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