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Menschliche Gesellschaften sind bunt, sie bestehen aus einer Vielzahl von Kulturen und Randkulturen. Überall dort, wo Menschen sich zusammentun, entsteht so etwas wie eine eigene Kultur. Diese Kulturen können sich in allen Schichten der Gesellschaft bilden, in jedem Fall handelt es sich dabei auch um Grenzbildungen.
Bei der Forschung in Randgruppen versucht Roland Girtler, direkten Kontakt zu den betreffenden Menschen aufzunehmen. Er verfasste „10 Gebote der Feldforschung“ als Wegweiser zur Erforschung menschlich kulturellen Lebens. Im Zentrum stehen dabei die „teilnehmende Beobachtung“ und das „ero-epische Gespräch“[204] (nachfragen und reden lassen). Beide Methoden sind miteinander verwoben. Sie binden den Forscher nicht an einen vorgefassten Forschungsplan, sondern stellen eine enge Beziehung zum Handeln des Menschen mit all seinen Ritualen und Symbolen her. Detaillierte Vorbereitung auf das Lebensumfeld und ein wertschätzender Kontakt führen so zu dichten Ergebnissen.
Der Autor entwickelte vier Typen von Randkulturen, die freilich nur „ideale“ Typen darstellen, da sie sich in Wirklichkeit meist überschneiden. Dabei handelt es sich um Randkulturen des Schutzes und des Überlebens, Randkulturen der Revolution und der Rebellion, Randkulturen des illegalen oder verpönten Geschäftes und um Randkulturen der gemeinsamen Herkunft.
Randkulturen dieses Typus bieten den Menschen – z. B. Sandlern, Gefangenen, Drogensüchtigen – Schutz und Rückzug an. Zu dieser Randkultur gehört auch das klassische „fahrende Volk“, das durch eine gemeinsame Sprache, das Rotwelsch, verbunden ist. Das Wort Rotwelsch leitet sich von „rot“ für gefährlich oder verdächtig ab und vom althochdeutschen „waliska“, das so viel heißt wie „anders sprechen“.
Roland Girtler ist bei seinen Erforschungen von Wiener Sandlern und Stadtstreichern auf dieses Rotwelsch gestoßen. Bei der Befragung eines Sandlers, wie er den Nachmittag verbringen wolle, antwortete dieser, er wolle jemandem die „Rippe eindrücken“, d. h. er wolle Menschen um Geld bitten. Im „Liber Vagatorum“, dem Buch der Vaganten, das um 1500 in der Nähe von Nürnberg erschienen ist, steht das Wort „ripar“, das so viel heißt wie „Seckel“, also „Geldtasche“. Mit der heute gängigen Gaunersprache der Sandler ist also eine ins Mittelalter zurückreichende Kultur verbunden.
Einige Beispiele aus dem Rotwelsch:
„Stranzenstat sein“ – kein Quartier haben
„Hackenstat sein“ – keine Arbeit haben
„In die Hackn gehen“ – auf den Strich gegen oder: Einbruch begehen
„Flepn“ – Ausweis
„Schmalz“ – Strafe
Unter Randkulturen der Revolution und Rebellion versteht man Gruppen, deren Mitglieder sich gegen bestehende Systeme auflehnen, entweder weil sie diese zu ändern versuchen oder weil sie sich auf altes Recht berufen. Zu ersteren gehören jugendliche politische Gruppen, die mit Gewalt gegen Herrschaftsinstrumente vorgehen, und zu letzteren die Bauernburschen in den Alpen, die es als Wilderer nicht zulassen wollen, dass man ihnen das alte Recht der Jagd verwehrt.
In der Gestalt des Wilderers[205] erwuchs im Gebirge eine ehrenvolle Heldenfigur, die bis in die heutige Zeit mystifiziert und romantisiert wird. Mit den früheren Wildschützen, den „Helden der kleinen Leute“, ist eine tausendjährige Geschichte verbunden. Nach altem Recht hatte jeder Bauer das Recht zur Jagd. Dieses Recht wurde dem Bauern schon sehr früh genommen. Die Bauernburschen sahen sich jedoch weiter berechtigt, den staatlichen Jagdherrn Wild wegzuschießen. Dadurch kam es zu Kämpfen zwischen Jägern und Wilderern.
Den alten Rebellen und Piraten ähneln die modernen Hacker („Surfen im Internet“). Unter einem „Hacker“ ist eine Person zu verstehen, die durch allerlei Kniffe versucht, gleich einem Schmuggler oder Freibeuter, ungesehen und unbelangt in fremde Häfen, also fremde Computersysteme einzudringen. Zu den Rebellen unter den Hackern zählen jene Leute, die sich im „Chaos Computer Club“ zusammengetan haben. Charakteristisch für diesen Club ist, dass er in einer gesetzlosen Zone eine Art von „Ehrenkodex“ entwickelt hat.
Unsere modernen Gaunerkulturen haben ihre Wurzeln im Mittelalter, in einer Zeit, in der in Armut lebende Menschen sich zusammengetan haben, um Wohlhabende um ihr Geld durch Raub, Betrug, Bettelei oder andere „Bubenstücke“ zu erleichtern. Es waren und sind auch heute noch Angehörige missachteter Volksgruppen, die den Weg illegalen Handelns suchen.
Auch die Kultur der Prostitution ordnet sich hier ein, denn für Frauen aus benachteiligten und verarmten sozialen Gruppen bietet sich der Weg der Prostitution an, um auf wenig angesehene Weise schnelles und viel Geld zu erwerben. In der Kultur der Prostitution bestimmen Rituale, Symbole und spezifische Regeln die Beziehungen zwischen Dirnen, Zuhältern und Kunden. Für das Selbstverständnis der Dirne ist vor allem das Bewusstsein wichtig, eine für die Allgemeinheit nicht unwichtige Aufgabe zu erfüllen, wenn sie ihre Dienste anbietet.
Kriminelle Gangs und Straßenbanden traten vor allem in jenen Zeiten auf, in denen man mit verbotenen Geschäften – wie Prostitution, Drogen- und Waffenschmuggel und Glücksspiel – große Gewinne machen konnte. Gangs setzen sich für gewöhnlich aus Leuten zusammen, die abseits der guten Gesellschaft im Elend oder in Armut aufwuchsen. Die Gangs, wie sie seit der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts in den USA entstanden, haben ihren Ursprung in den Vierteln der Einwanderer, in den Elendsvierteln und in den Armenquartieren der großen Städte. Auch im Wien des ausgehenden 20. Jahrhunderts, als die Stadt voll von Zuwanderern und in Armut lebenden Menschen war, entstanden Banden dieser Art.
Bei Randkulturen gemeinsamer Herkunft handelt es sich um Gruppen, deren Mitglieder durch Zugehörigkeit zu einer Sprach- oder Kulturgemeinschaft miteinander verbunden und aneinander gebunden sind. Dazu gehören Gruppen von Romas, Juden, Griechen, Italienern, Armeniern und ähnliche ethnische Gruppierungen. Als Vertriebene, Flüchtlinge oder Emigranten suchen sie zueinander Kontakt, um in Würde zu überleben, wie zum Beispiel die „Landler“ in Rumänien.
Die „Landler“ wurden unter Maria Theresia aus Österreich nach Siebenbürgen in Rumänien verbannt, da sie sich als Protestanten geweigert hatten, katholisch zu werden. Deren Nachfahren haben ihre Kultur bis heute bewahrt. Sie bilden eine eigene Randkultur, da sie sich als Protestanten kulturell vollständig von der sie umgebenden orthodoxen rumänischen Gesellschaft abheben. Derartige Randkulturen entwickeln zumeist Strategien, um in einer ihnen „feindlichen“ Welt wirkungsvoll zu bestehen.
Die „Landler“ sind mit den bereits lange Zeit vor ihnen in Siebenbürgen sesshaft gewordenen Sachsen eine enge Symbiose eingegangen. Sie haben dennoch ihre eigene Identität, ihr Selbstverständnis als „Landler“ bewahrt. Arbeitsfleiß entspricht der protestantischen Kultur der „Landler“, mit ihm verbinden sich auch Strategien des wirkungsvollen Überlebens in einer fremden Umwelt. Die „Landler“ in Siebenbürgen haben eine spannende bäuerliche Kultur bewahrt, die jedoch von der heutigen Generation immer weniger gepflegt wird.
[203] Kurzfassung von Ilona Holzbauer und Melanie Lanterdinger
[204] 7. Gebot der „10 Gebote der Feldforschung": Du sollst die Muße zum „ero-epischen (freien) Gespräch“ aufbringen. Das heißt, die Menschen dürfen nicht als bloße Datenlieferanten gesehen werden. Mit ihnen ist so zu sprechen, dass sie sich geachtet fühlen. Man muss sich selbst als Mensch einbringen und darf sich nicht aufzwingen. Erst so lassen sich gute Gesprächs- und Beobachtungsprotokolle erstellen. In: [Girtler 2001].
[205] Vgl. dazu [Schindler 2003].