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Das Verhältnis der Denk-Leistungen des Menschen zu seinem sprachlichen Vermögen ist ein uraltes Problem von Linguistik und Philosophie, in neuerer Zeit auch von Psychologie, Biologie und Neurologie: Eine Grundfrage, auf die zu verschiedenen Zeiten wechselnde Antworten gegeben wurden. Prinzipiell sind zwei idealtypische Lösungen möglich:
Das Denken bedient sich der Sprache als Ausdrucksmittel seiner Resultate und wandelt damit Erkenntnisse in Aussagen um.
2. Das jeweils besondere einzelsprachliche System prägt und bedingt das spezifische Denken, da grammatikalische Strukturen und syntaktische Ausdrucksmuster gedankliche Prozesse anbahnen können.
Gerade die empirischen Arbeiten der Genfer psychologischen Schule eines Jean Piaget haben gezeigt, dass sich das Wechselverhältnis zwischen Sprache und Denken vielleicht am besten nach dem Prinzip der Schaukel modellieren lässt. Der höhere Aufschwung in der einen Bewegungsrichtung löst im Normalfall einen entsprechenden „Höhenflug“ nach der anderen Seite hin aus. Der Problemkomplex ist dadurch jedoch noch keinesfalls ausdiskutiert, viele Fragen bleiben offen.
Der Autor setzt sich unter „Mehr zum Thema“ mit „Sechs Grundfragen der Sprachsoziologie“ (Sprache und Denken; Defizit oder Differenz?; Lesarten von Sprache; Einheitliche Sprache – eine Fiktion?; Reinheitsgebot oder offene Sprachgrenzen?; Europa und die sprachlichen Regionen), „Sprache und Identität“ und mit „Sprache und Nation“ auseinander.
Sprachliches Vermögen und „kommunikative Kompetenz“ beschränken sich nicht auf Rechtschreibung und guten Aufsatzstil, sie machen also nicht an der Schnittstelle von Schule und Leben Halt. Sprache hat mit Prestige, beruflichem Erfolg und sozialem Aufstieg zu tun.
Der Alltag verlangt dem erfolgreichen Umgang mit der Sprache vielfältige Leistungen ab: den angemessenen Einstieg in ein Gespräch, Signale der Aufmerksamkeit, eingehaltene Gebote der Höflichkeit, einen passenden Mittelweg zwischen Weitschweifigkeit und Kürze, das Vermeiden von hochgestochenem Bildungsvokabular in alltäglichen Situationen, aber auch umgekehrt die Bezeichnung präziser Sachverhalte mit unscharfer Umgangssprache.
Der britische Sozialpädagoge Basil Bernstein gilt als Begründer der Sprachbarrieren-Forschung, die gegensätzlich aufgenommen wurde. Seine Grundannahme behauptet, dass Unterschichtkinder mit einem beschränkten Ausdrucksvermögen („restringierter Code“) in die Schule eintreten, das sie gegenüber den gleichaltrigen Mitschülern aus Mittelschichtfamilien („elaborierter Code“) benachteiligt und diskriminiert. Demnach wäre die wichtigste Aufgabe des Sprachunterrichts, die sprachliche Leistung bei den Schülern zu verbessern, um sie dadurch zu beruflichem Erfolg und höherem Sozialprestige zu führen. Dagegen zeigte der amerikanische Soziolinguist William Labov die gleichzeitige Existenz unterschiedlicher spezifischer Gruppensprachen als vergleichbare Kommunikationsverfahren auf.
Johann Wolfgang von Goethe: „Wer fremde Sprachen nicht kennt, weiß nichts von seiner eigenen.“
Friedrich Hebbel: „In der Sprache, die man am schlechtesten spricht, kann man am wenigsten lügen.“
Franz Grillparzer: „Jedem Sprecher fehlt die Sprache, fehlt dem Hörenden das Ohr.“
Redewendungen: der Ursprung der Sprache; die gleiche Sprache sprechen; der Sprache nach stammt er/sie aus …; die Sprache der Blumen; da bleibt mir die Sprache weg; davon wird noch die Sprache sein; diese Zahlen sprechen eine deutliche Sprache; ein Meister der Sprache …
Wenn verschiedene Menschen von der „deutschen Sprache“ sprechen, meinen sie zumeist nicht dasselbe. Als Idealtyp gilt dabei vielen die Hoch- oder Schriftsprache. Die Hochsprache gilt zwar, korrekt angewendet, immer als richtig, aber keineswegs in allen Situationen als angemessen.
Zu unterscheiden davon ist der eigentliche Dialekt, nach Definition eine gesprochene (Regional-)Sprache, die auch in eigenen Formen der Dichtung, besonders in Liedtexten ihren Niederschlag findet. Daneben existieren Sondersprachen und Jargons, die sich im Wortgebrauch, in Phrasen und Redewendungen unterscheiden, etwa der Jugendjargon. Die alten Fachsprachen gewerblicher Berufe sind uns als Sondersprachen inzwischen weitgehend unbekannt. Anders ist die Lage in Berufssparten, bei denen der Kontakt des Herstellers oder Betreuers mit dem Kunden besonders eng und direkt ist (Fleischhauer, Mechaniker).
Das Ideal vom reinen, unverfälschten Deutsch ist ein wiederkehrendes Thema von Umfragen und Symposien. Nach Ansicht des Wiener Sprachwissenschaftlers Paul Kretschmer sind die Grenzen zwischen Erb-, Lehn- und Fremdwörtern fließend, jede lebende Sprache ist daher ein Mischsystem. Zudem haben sprachliche Einflüsse durchwegs triftige Ursachen und transportieren oft emotionale Werte (z. B. Werbebranche).
Sprachliche Identität und Selbstbehauptung stützen das gemeinsame Selbstverständnis, wie zum Beispiel Karl-Markus Gauß in seinem Buch „Die sterbenden Europäer“[436] zeigt. Die Soziolinguistin Ruth Wodak setzte sich in ihrem Großprojekt „Diskurs, Politik, Identität“ mit den neuen Kategorien der medialen Gesellschaft auseinander, in der es weder die „Fremde“ noch die „Heimat“ gibt: „denn dann ist jeder und jede nirgends mehr und überall zu Hause“.[437]
Heute leben in sehr vielen Staaten mehrere (Sprach-)Nationen; dennoch wird vielfach für das staatlich organisierte Gebilde der Begriff „Nation“ verwendet. Mehrsprachigkeit existiert in der Form der Diglossie (Primärdialekt/Hochsprache) und als Bilingualismus (Mehrsprachigkeit). Sprachfragen werden dabei immer wieder zu Nationalitäten- bzw. Minderheitenproblemen.
Unter einer Nationalsprache versteht man in der modernen Soziolinguistik zunächst die Gesamtmenge aller regionalen, sozialen und funktionalen, gesprochenen und geschriebenen Varianten einer historisch-politisch definierten Sprachgemeinschaft. In einer strengen Auslegung meint der Begriff allerdings die Hoch- bzw. Schriftsprache einer historisch-politisch definierten Sprachgemeinschaft, was also Dialekte oder so genannte Soziolekte ausschließt. Historisch gesehen gibt es viele Musterbeispiele für die friedliche Koexistenz mehrerer gleichwertiger Landessprachen (vgl. z. B. die Schweiz). Andererseits hat in Deutschland, Österreich und der Schweiz das Hochdeutsche als sprachlicher Standard zu keiner nationalen Einigung geführt.
Der Sachbereich „Sprache und Nation“ ist durch die jüngste, noch andauernde politische und wirtschaftliche Entwicklung Europas – durch die EU – in ein neues Licht getreten.
Im EU-Europa gewinnt daher der Bereich „Eurolinguistik“ an Bedeutung. Dieser Bereich beschäftigt sich unter anderem mit der fortschreitenden Integration und mit Vorschlägen zu einer die vorgegebenen Sprachgrenzen überschreitenden Sprachplanung und kann wichtig für die sprachpolitische Zukunft Europas sein.
Drei Thesen zu sprachlichen Folgen und Auswirkungen der EU:
Die Rolle des Englischen wird auf allen internationalen Podien weiter zunehmen,
Der Einfluss des Deutschen wird auf dem politischen Parkett zurückgehen; das Bestreben nach sprachlichem Selbstwert wird die Nationalsprachen wieder aufwerten.
Die offenen Grenzen, der freizügige Tourismus und die Osterweiterung werden dem österreichischen Deutsch mehr Prestige geben.