Wer sich für die Rolle des Hausgemachten in der Gegenwart interessiert, beginnt am besten mit kontrastierenden Recherchen. Zum Beispiel mit einem imaginären Streifzug durch den Supermarkt: einem beliebigen Supermarkt mittlerer Größe und Reichweite, wie er fast überall in Europa stehen könnte. Er hat etwa 7.000 Produkte im Programm, 60 % davon im Food-Bereich, und auch wenn es stimmt, dass die Zahl aufgrund des Preiskampfes der Discounter seit Jahren stagniert (oder sogar zurückgeht), wird das Programm doch nach wie vor eher von Differenzierung bestimmt als von Reduktion. Gilt der Blick einzelnen Produktgruppen, so trifft er etwa auf Marmeladen und Kompotte in Gläsern mit rotkarierten Deckeln und Etiketten, die in ihrer Typografie Handschriftliches suggerieren wollen; er trifft auf Würste, Terrinen und Pasteten, die Hausmacherart signalisieren und nicht mit den entsprechenden verbalen Zusätzen geizen; auf Butter, die von der Herkunft aus einem kleinen handbetriebenen Butterfass erzählt („Fasslbutter“), und auf Käse, der aus der Küche der Alpbäuerin stammen will. Es lassen sich Teigwaren entdecken, die – mehlgestäubt, wie vom Nudelbrett – in dezenten Papierverpackungen präsentiert werden und einen Geschmack „wie hausgemacht“ verkünden; und schließlich Fertiggerichte – tiefgekühlt, in Beuteln und in Konserven –, die als Hüttensnack, Wirtshauskost und Hausmannskost bezeichnet und aufgemacht sind und deren Geschmacksversprechen auf „wie zuhause“, „wie selbstgemacht“ oder „wie bei Oma“ lauten.
Der Besuch in der Ethno-Ecke des Supermarktes – hier sind die Regale seit einigen Jahren gerne mit „Kulinarisches aus aller Welt“ überschrieben – zeigt dann (wie zu ahnen war), dass das Phänomen kein allein deutschsprachiges ist: „alla Mama“, „alla Casalinga“, „d’antan“ lauten die Zusätze – oder zumindest „tipico“ und „nostrano“, „Demestica“.
Beschäftigt man sich dann noch in (zugegeben knapper) Internetrecherche mit den Produktinformationen der Hersteller für den Großhandel und für die Gastronomie, staunt man über die fast durchgängig angewandte „homemade“-Rhetorik ganzer Branchen (wie beispielsweise der traditionsreichen Teigwarenindustrie) nicht weniger als über Fertig- und Halbfertigprodukte, deren „high convenience“ im selben Satz ausgewiesen wird wie ihr hausgemachter Geschmack: die Lieferlisten ganzer Produktlinien aus den an Marken reichen Häusern von Nestlé & Co. strotzen nur so vor Zusätzen à la „wie hausgemacht“ und „wie selbstgemacht“. Je entmaterialisierter das Produkt, hat man den Eindruck, desto lautstarker wird die Hausmacherqualität vorgetragen, und nahrungstechnische Innovationen lassen sich – vielleicht neben den health- und wellness-Argumenten der gegenwärtigen functional food-Welle – am besten immer noch mit ‚Tradition‘ begründen. Konrad Köstlin spricht daher in diesem Zusammenhang von der „Industrialisierung der Tradition“.[2558] Mit Blick auf die Logik spätmoderner Alltage stechen daran vor allem die Paradoxien der Produktnarrative ins Auge: Abstraktes wird durch den Zusatz eines (im weitesten Sinne) ästhetischen Mehrwertes konkret, und was den Konsumentinnen und Konsumenten zunächst undurchsichtig erscheinen mag, versucht durch eindeutige Semantik an Vertrauen zu gewinnen.[2559]
Schon im Titel der Konferenz, für die dieser Beitrag zuerst geschrieben wurde, steckt etwas von solcher Dynamik: „Changing Tastes. Food Culture and the Process of Industrialization“ (Basel 2002). Das klingt auf den ersten Blick nach Fortschritt und Geradlinigkeit – und wenngleich die Richtung, die der Geschmack im Industriezeitalter genommen hat, dabei unbenannt bleibt, suggeriert die Verbindung von Geschmack und prozesshaft aufgefasster Industrialisierung doch ein eindeutiges ‚Ziel‘: unsere modernen Ernährungsgewohnheiten, unsere modernen Geschmäcker. Aber spätestens der Plural sollte uns stutzig machen, und wir wissen natürlich allein aus der Komplexität und Widersprüchlichkeit gegenwärtiger Geschmackswelten, dass die Wege in Wirklichkeit verschlungene sind und vielleicht gerade auf manchen vermeintlichen Nebenwegen mehr Veränderung ist und war als auf den Magistralen der großen Erzählungen von Industrialisierung. Ihre Kreuzungen und Schnittstellen zeigen jedenfalls, dass Widersprüchlichkeit, Rückbezüglichkeit und Zweigesichtigkeit wohl auch in der modernen Geschichte der Geschmäcker weniger die Ausnahme als die Selbstverständlichkeit sind: „Einfach zurück zu Grossmutters Küche“ lautet etwa ein aktueller Trend der Fooddesigner.[2560]
Solchen ‚Gleichzeitigkeiten‘ soll hier – ganz skizzenhaft – einmal nachgegangen werden: und zwar in einem Dreischritt, der zunächst die angedeuteten Paradoxien in einer kleinen Umschau etwas konkreter einzufangen versucht, dann die Beobachtungen in einen historischen Zusammenhang stellt (und in einer Fallstudie vertieft) sowie schließlich nach den kulturanalytischen Ableitungen (ergänzt durch einige Überlegungen zu fachbezogenen Konsequenzen einer Europäischen Ethnologie) fragt.
Folgt man neueren Studien zum Ernährungsverhalten der Mitteleuropäer – so etwa solchen aus Österreich –, dann begegnet man in sich völlig konträren Befunden: „Es wird immer weniger gekocht“[2561], kann man einerseits lesen, andererseits auch „Kochen ist ‚in‘“[2562] – und naturgemäß gibt es für beide Meldungen viele richtige Argumente. Einerseits gehen, so die Studien, die Kochkenntnisse belegbar zurück und steigen sowohl der Fertiggerichteanteil als auch die Zahl der Haushalte, in denen überhaupt nicht mehr gekocht wird[2563], andererseits gab es nie „mehr Hobbyköche als heute“, boomen Kochsendungen, Kochkurse und der Kochbuchmarkt – der deutschsprachige Marktführer wirft pro Jahr annähernd fünfzig Bücher neu auf den Markt, und regelmäßig schaffen es Spezialkochbücher auf die Bestsellerlisten des Segments Sachbuch. Dazu passt das Lamento des kulturkritisch gestimmten Vorkochs der deutschen Bildungselite, Wolfram Siebeck, der zwar meint, dass es „schon in der nächsten Generation niemanden mehr geben [wird], der sich glücklich daran erinnert, wie seine Mutter gekocht hat“[2564] dessen „Die Zeit-Kochwettbewerb“ sich aber des Ansturms kochwütiger Laien nicht mehr erwehren kann und inzwischen einer ausgeklügelten Logistik mit Vor- und Regionalausscheidungen bedarf. Ein Marktforscher hat diese Paradoxie einmal mit dem Satz „Die Pflicht wird zur Kür“ auf den Punkt zu bringen versucht[2565] und damit nicht nur eine Tendenz beschrieben, die aus Ländern mit höherem Anteil an Kantinenessen und Fertiggerichten längst bekannt ist, sondern auch ein wichtiges Merkmal der für die späte Moderne geradezu chiffrehaften Verschiebung von den Selbstverständlichkeiten zu den ästhetischen Erlebnissen des Alltags. Auch das geht nämlich aus den erwähnten Studien hervor: Gerade wenig mit Reproduktionsarbeit und -küche geplagte junge Leute kochen besonders gerne. „Kochen und Backen wird bei den Jugendlichen mehr und mehr zu einem geselligen Ereignis“, heißt es, und unter den weniger Kochbegeisterten steigt angeblich die Freude am Kochen auch, wenn für mehrere Personen gekocht wird.[2566] In Großstädten erfreut sich – so zumindest die eher kurzfristig wirksame mediale Begleitung des Phänomens – das über Internetbörsen vermittelte Gesellschaftsspiel „Running Dinner“ zunehmender Beliebtheit: Kochbegeisterte Paare verabreden sich dabei für gemeinsame Abende mit aufwendigen Speisenfolgen und arbeitsteilig realisierten Gängen.[2567] Ein Spiel, immerhin so beliebt, dass es den Stoff für eine neue, auf Massenpublikum schielende deutsche Kinokomödie abgab (und damit – wer weiß? – dem Spiel auch zu neuer Bekanntheit verhalf).
Die Studien sprechen also zurecht vom (seltenen) Erlebniskochen, räumen aber gleich ein, dass manche Ergebnisse nicht wirklich signifikant sind, weil die „Statistiken noch stark von älteren Haushaltsmitgliedern mit eingespieltem Rollenverhalten überlagert“ seien. Das betrifft vor allem den Widerspruch, der sich zwischen den für das aufwendige Wochenendkochen offensichtlich zunehmend verantwortlichen Männern (die sich ja auch in ungeahnter Zahl in Kochkursen, bei Wettbewerben und in den einschlägigen TV-Sendungen einfinden) und den Klagen um den Verlust der handwerklichen Fertigkeiten ergibt: Auch Siebeck sieht die Mütter in der Verantwortung für den Niedergang der europäischen Kochkunst und spricht damit offensichtlich von einer Generation, in der anders als in der seiner Adeptinnen und Adepten Kochen reine Frauensache war und Männer daher auch nicht für den Niedergang der Reproküche[2568] zu verantworten wären.
Ein anderer vordergründig ebenso widersprüchlicher Befund betrifft die Rolle lokaler Koch- und Geschmackstraditionen unter heutigen sozioökonomischen Bedingungen. So sieht ein österreichisches Gourmet-Journal das „Gulasch in der Globalisierungsfalle“ und will damit zum Ausdruck bringen, dass die Wiener Küche weder gegen das Effizienzstreben moderner Haushalte resistent sei, noch (in ihrer öffentlichen Anwendung) auf gute Bedingungen stoße, weil Pizzaketten und Banken, die EU und andere als Europäisierungsindikatoren ausgemachte Kontrahenten die Wiener Küche unter mächtigen Druck setzten. Dazu käme, dass sie von Hobbyköchen nicht so leicht zu beherrschen sei wie „Spaghetti mit Knoblauch und Öl“ – Dinge, die „auch die Pranke des untalentiertesten Hobbykochs [packt], ohne dass die Gäste nach Alkaselzer rufen“: „Seit die Lohnnebenkosten das Halten einer Köchin für den normalen Mittelstandshaushalt wenig raisonabel gemacht haben, hat die Wiener Küche in den Küchen der Wiener gewaltig an Popularität eingebüßt.“[2569]
Der kulturpessimistischen Klage des Wiener Gastrojournalisten – der Beruf scheint überall in Mitteleuropa mit einem ganz ähnlich argumentierenden Habitus verbunden zu sein – ist der Widerspruch schon eingebaut: Am Ende seines Textes sieht er die Wiener Küche schon „ihre neue Glanzzeit“ feiern. Denn er sieht sie sich „in die letzten Reviere der guten Beisln und Kaffeehäuser sowie die besten Restaurants [zurückziehen]: Hier trifft sie auf Köche, die aus der alten Tradition so viel Kraft schöpfen, dass eine Mahlzeit zu einem reinen Glücksfall wird.“[2570] Mag sein, dass heute weniger gekocht wird und manche Spezialität der Wiener Küche heute nur schwer vermittelbar ist, doch insgesamt wird man auch feststellen müssen, dass nie zuvor so viel von einer Wiener Küche die Rede war und wohl auch selten so viel Vorstellung davon bestanden hat: aus einer einmal schwer zu fassenden Alltagspraxis (obwohl bereits im 19. Jahrhundert mit Exportqualität ausgestattet) ist heute eine Marke geworden – benannt, mit Profil und, vor allem, was wichtig ist, mit einigen Leitsymbolen versehen.
Ähnlich verdankt eine viel besprochene alpenländische Küche ihre Existenz den Veränderungen in Kultur und Gesellschaft.[2571] Vergangenen Generationen musste weder das Kochen in den Bergen erläutert werden, noch hatten sie ein Interesse am Alpenländischen: Den Bewohnerinnen und Bewohnern der Gebirgsregionen wäre ihr eigener Alltag zu unspektakulär erschienen, um mit einem ordnenden Adjektiv versehen zu werden, und dem flachen Land und besonders der Stadt galt die Kost der Gebirgstäler lange Zeit ohnehin nur als roh und unverfeinert. Was in den Bergen gekocht wurde, trug noch nicht das Etikett „alpenländisch“, und wenn es sich trotzdem von den Küchengewohnheiten anderer Regionen unterschied, dann verband sich damit noch lange keine besondere Qualität des Geschmacks.
Wo sich kulturelle Unterschiede zu verändern und zu verwischen drohen, wächst das Bedürfnis, das einmal als typisch und eigen Erkannte festzuhalten und zu „labeln“: alpenländische Küche ist so ein Label, es hilft sich zu orientieren und zu verständigen, weil heute mit dem Kochen in den Bergen spezifische Qualitäten verbunden werden. Und alpenländische Küche ist natürlich ein homogenisierender Singular, der in sich vereint, was zwar gemeinsame Merkmale besitzen mag, aber in Zeit und Raum ebenso vielfach differenziert ist, wie Unterschiede zu den Küchen anderer Regionen vielleicht gar nicht sonderlich ins Gewicht fallen. Aber wenn es auch die alpenländische Küche ebenso wenig gibt wie die italienische oder die chinesische[2572], so haben sich doch – zumal in der Retrospektive – Merkmale herausgebildet, die sich zu einem Gesamtbild fügen und heute gängige Vorstellungen bestimmen. Geprägt vom touristischen und gastronomischen Angebot und seiner medialen Aufbereitung, sind diese Merkmale zunächst auf einer im weitesten Sinne ästhetischen Ebene angesiedelt – schließlich handelt es sich dabei stets um ein ganzes Setting sinnlich erfahrbarer Werte, die einerseits auf Geschmack, Geruch und Aussehen der Speisen selbst und andererseits auf Faktoren wie Präsentation und Ambiente setzen. In solcher ästhetischer Anmutung vermittelt sich Kost aber auch deshalb, weil sich mit all den kleinen Geschichten und Erzählungen, die sich mit Speisen und Rezepten verbinden, auch spezifische Erlebnisse und Erfahrungen – des Natürlichen, des Unverfälschten und des Konkreten etwa – verknüpfen lassen.
Es lohnt sich also, danach zu fragen, unter welchen Bedingungen sich Geschmack und Struktur der Nahrungsgewohnheiten des hier beispielhaft ins Auge gefassten Alpenraums zu einem heute unverwechselbar erscheinenden Format entwickeln konnten. Vorausschicken lässt sich, dass manches Gericht – selbst wenn es mit einer regionale Abzeichenfunktion andeutenden Ortsbezeichnung versehen ist – eine quasi lokal gewordene Variante einstmals weitverbreiteter Kosttypen darstellt. Salopp gesagt: die „Tiroler Knödel“, „Kärntner Kasnudeln“ oder „Pinzgauer Kaspressknödel“ haben es mit den Grenzen nie so genau genommen, und wenngleich bereits die Kochbücher des 19. Jahrhunderts solchermaßen Landestypisches zu registrieren begonnen haben, verdanken sich die allermeisten Herkunftsbezeichnungen mehr dem Regionenmarketing der jüngsten Vergangenheit als einer ungebrochenen Speisetradition.[2573]
Die Nahrungsgewohnheiten haben, wie der Geschmack auch, die realen Lebensverhältnisse überdauert – und dann unter veränderten Bedingungen ihr spezifisches Profil erhalten. Erst auf dem bürgerlichen Mittagstisch oder auch durch die Kontrasterfahrung des Tourismus werden Bauernbrot- und Bauernkrapfen „bäuerlich“ – in der Agrargesellschaft haben sie wohl einfach nur zu den mehr oder weniger selbstverständlichen Speisen gehört, die sich im Rahmen der bäuerlichen Selbstversorgung, primär aus dem rekrutierten, was Feld und Stall hergeben konnten. Wobei allerdings die Autarkiewirtschaft gerne überschätzt (und nostalgisch verklärt) worden ist[2574] denn tatsächlich war gerade der Alpenraum spätestens seit dem Hochmittelalter in ein System europäischer Wirtschaftsbeziehungen integriert, und bereits in der frühen Neuzeit dominierte eine marktorientierte (also auf die Nachfrage der angrenzenden Gebiete und alpennahen Städte abgestimmte) Landwirtschaft mit einer vergleichsweise komplexen Arbeitsteilung zwischen den Regionen. Das hatte nach heutigen Vorstellungen recht widersprüchliche Konsequenzen, die auch schwer ins gängige Bild einer alpenländischen Küche passen wollen, nach dem Käse und Speck, Lamm und Kalb, Gerste und dunkles Brot gleichzeitig auf die bäuerlichen Tische gekommen wären.[2575] So mangelte es etwa in den auf intensive Viehzucht spezialisierten Tälern besonders zur Alpzeit an Milchprodukten, während in den Milchwirtschaftsgegenden der Fleischkonsum noch bis weit ins 20. Jahrhundert herein unvorstellbar gering blieb. In weiten Alpengebieten machten Rinder ohnehin einen verschwindenden Anteil des Viehbestandes aus, weil hier lange die Schafzucht (Wollproduktion) dominierte – und was dabei gemeinhin an Fleisch anfiel, hatte mit der zarten und verfeinerten Lammküche der Gegenwart nichts zu tun. Dementsprechend oft klagen denn auch die Alpenreisenden des 19. Jahrhunderts über das allenthalben servierte „Schöpsene“: Osterlamm und Osterkitz waren nur angenehme Festtagserscheinungen und Nebenprodukte der Zuchterfordernisse. Und auch das Schwein – und mit ihm der vielleicht für typisch alpenländisch gehaltene Geschmack des Geselchten – war längst nicht überall gleichermaßen zu Hause. Solange es an Futterpflanzen für die Mast fehlte, war seine Haltung in den Alpen weitgehend an die Eigenwirtschaft gebunden, und so lag etwa noch zur Mitte des 19. Jahrhunderts in Österreich (bezogen auf seine heutigen Grenzen) die Zahl der gehaltenen Schweine bei einem Bruchteil sowohl der heutigen Zahlen wie auch der damals gehaltenen Schafe und Rinder.
Doch nicht nur in solcher Hinsicht bestimmten die natürlichen Ressourcen in früheren Zeiten die Speisezettel – auch die technischen Möglichkeiten beeinflussten Zubereitungsarten und Speisen. Weite Teile des Alpenraums kannten über Jahrhunderte nur das Kochen auf dem offenen Herdfeuer, in der Pfanne und im Topf, während in holz- und steinärmeren Gebieten der schnell zu heizende – und nur für die Zubereitung bestimmter Speisen taugliche – Lehmofen der Nahrungsbereitung diente. Das Kochen im Ofen blieb in den Alpen die Ausnahme, allenfalls diente er dem Backen bzw. versuchte man, seine Restwärme zu nützen. Die steirische Volkskundlerin und Nahrungsforscherin Anni Gamerith hat vor rund dreißig Jahren als Erste systematisch auf solche Zusammenhänge hingewiesen und vor allem auch einen Erklärungsansatz für das Nachleben „unerklärlicher“ Traditionen mit dem Hinweis geliefert, dass die Speisen ihre Kochtechniken und Feuerstätten überdauern.[2576]
Erst mit der Erfindung des Sparherdes (der gemauerte Herd mit geschlossener Feuerstelle, Bratröhre und Wasserschiff, „Kochmaschine“ nannte man das ausgeklügelte und vielseitige Gerät auch) waren differenzierte Zubereitungsarten möglich geworden. Jetzt ließen sich etwa im „Rohr“ auch Strudel und Mehlspeisen bereiten, ganz zu schweigen vom Vorboten einer verfeinerten Fleischküche, dem „bürgerlichen“ Braten, der nach konstanter Rundumhitze verlangte. Viele der Speisen, die aufwendigeres Hantieren am Herd erforderten und den parallelen Einsatz von mehrerlei Kochgeschirr voraussetzten, waren so erst in den vergangenen zweihundert Jahren möglich geworden. Und länger noch lebte die einfache Herdstelle dort fort, wo man im Rahmen der extensiven Weidewirtschaft nur temporär gewirtschaftet hat: auf den Alpen, aber auch auf den Zwischenstufen der Schweigen und Asten, Vor- oder Maiensäßen.
Hier war es noch wichtiger, mit dem Vorhandenen auszukommen und den Aufwand für Transport und Lagerung der aus dem Tal heraufzuschaffenden Lebensmittel möglichst gering zu halten. Zudem galt es wegen des dicht gedrängten und anstrengenden Arbeitstages, rasch und (zumindest auf den Hochalmen) auch Holz sparend sättigende und kräftige Speisen zu bereiten, für die nach Möglichkeit nicht mehr benötigt werden sollte als eine universell einsetzbare Pfanne. So erklärt sich die Dominanz der Teig- und Breispeisen, die in verschiedenen Konsistenzen und Verfeinerungsgraden gewissermaßen das Rückgrat der alpinen Küchen bildeten. Sie konnten aus verschiedenen Getreiden in Milch oder Wasser gekocht werden, mit Fett versehen oder überhaupt im Schmalz gebacken sein. Auch die diversen Nocken und Krapfen gehören diesem Ernährungssystem an, in dem oft erst wechselnde Zugaben von Geschmacksbringern und verfeinernden Zutaten Unterschiede schufen. Wobei die heutige Vorstellung, dass man in den Alpen in Käse schwelgte, ein ebenso verbreiteter Irrtum ist wie jene, dass Wildkräuter und Beeren eine besondere Rolle gespielt hätten. Und wenn Pilze in weiten Alpengebieten völlig auf den Speisezetteln fehlten, erscheint das nur aus heutiger Sicht paradox: Besitzverhältnisse und „Mentalitäten“ standen dem entgegen, und das Sammeln von Pilzen und Schwämmen ist in den Nord- und Zentralalpen weitgehend erst mit den städtischen Sommerfrischlern populär geworden.
Käse, Gewürze, Beeren und Pilze – wie auch die meisten Gemüsesorten – sind also nicht mehr als gelegentliche geschmackliche Glanzlichter in einem mitunter recht eintönigen Alltag gewesen. Grundnahrungsmittel blieben lange allein die (durch tierische Fette und Eiweiße) ergänzten verschiedenen Getreide. Doch spielte längst nicht überall das Brot eine dominante Rolle, und selbst dort, wo die ofengebackenen Teige die älteren Breispeisen verdrängten, war die Art des Brotkonsums nicht mit heutigen Gewohnheiten und Vorstellungen zu vergleichen: zum geringsten Teil wurde es frisch genossen, sondern in der Regel, der besseren Ergiebigkeit halber, als „Hartbrot“.[2577] Daneben fand etwa das Roggenbrot auch als Suppeneinlage Verwendung, während Weizenbrot – in den österreichischen Alpen, wo vorhanden – die Grundlage für viele Knödelgerichte bildete. Und in den klimatischen Grenzzonen, in denen der Weizen schwer oder nicht mehr gedieh, behaupteten sich lange Gerste und Buchweizen als Hauptfrucht.
Wie abhängig man vom – noch dazu arbeitsintensiven und technisch aufwendigen – Getreidebau gewesen ist, das zeigen die europäischen Hungersnöte, die noch bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts die Alpen nicht nur nicht verschont, sondern ganz besonders hart getroffen haben. Aber gerade diese Notzeiten läuteten auch eine andere Zeit ein, weil sie die Suche nach geeigneten neuen Grundnahrungsmitteln intensivierten. Solche Umstellungen betrafen nicht nur die ökonomischen Strukturen und den Arbeitsalltag, sondern auch die Nahrungskultur und den Geschmack: So konnte etwa der Mais bereits im Laufe des 18. Jahrhunderts in den Alpenländern rasch Fuß fassen, während sich die Kartoffel zunächst nur zögerlich, rasch dann nach der Hungersnot 1771/72 und noch rascher in den Jahren nach 1800 durchsetzte.[2578] Jedenfalls wurden Mais und Kartoffel bald zu den bestimmenden Grundnahrungsmitteln in weiten Teilen der Alpen, besonders aber dort, wo bäuerlicher Kleinbesitz dominierte und schon von daher eine Existenzsicherung durch die Möglichkeiten des frühindustriellen Sektors notwendig wurde: Mais und Kartoffel, heute vielfach traditionell stilisiert, sind also auch so etwas wie die Vorboten der Auflösung der Agrargesellschaft wie auch des Aufkommens der Agrarindustrie.
Wie flexibel in diesen Modernisierungsprozessen Traditionen gehandhabt worden sind, zeigt sich dort, wo Grundelemente gängiger Speisen durch andere Zutaten ersetzt oder aber jedenfalls jahreszeitlich variiert worden sind. So gibt es mitunter die eng verwandten Speisen auf Kartoffel- und Getreidebasis – Nocken, Spatzen, Spätzle etwa, aber auch Schmarren und Sterze –, die durch Zugabe von Käse oder anderen Milchprodukten, von Kraut oder anderem Gemüse geschmacklich variiert werden konnten. Das gilt für viele Mehlspeisen und Pfannengerichte, das gilt aber in ähnlicher Weise für Gemüse selbst, bei denen allein schon durch die Konservierungstechniken der Spielraum der Zubereitungsarten und Geschmacksrichtungen beschränkt war. Die Hauptrolle in den bäuerlichen Hausgärten der österreichischen Alpenländer und damit auch in der Vorratswirtschaft spielte jedoch das Kraut, zumal das weiße, das durch Milchsäuregärung haltbar gemacht werden konnte – geschnitten als Sauerkraut und im Ganzen als „Grubenkraut“ – und das sich sogar durch Räuchern konservieren ließ. Mit Zucht und Anpassung an die örtlichen Verhältnisse haben sich in manchen Regionen – wie bei Obst oder Kartoffeln auch – lokale Sorten entwickelt. Sie sind heute gefragte Produkte einer wachsenden alpinen Nischenökonomie, die mit „alten“ Sorten und „überlieferten“ Rezepten auf die wachsende Nachfrage nach „authentischen“ und „gesunden“ Lebensmitteln zu reagieren weiß.
Wenn man sich ein wenig auf Studien wie die eingangs zitierten einlässt, die oft breites Medienecho finden und ebenso wenig erklären wie sie ihre Voraussetzungen reflektieren und solches zu den historischen Konditionen ‚regionaler‘ Küchen in Beziehung setzen, dann wird eines sehr rasch deutlich, dass nämlich der geschichtlich gewordene (und gegenwärtig vielleicht verstärkt wirksame) Zusammenhang von häuslicher und industrieller Fertigung auf ein eindimensionales Verhältnis verkürzt wird: So wird behauptet, dass die häusliche Autarkie und der damit verbundene (suggerierterweise vormodern-authentische) Geschmack im Zeitalter der Modernisierung unter die Räder geraten seien, dass standardisierte Speisen an die Stelle einstiger Vielfalt getreten seien und dass das Typische zugunsten des Austauschbaren zusehends an Bedeutung verliere. Als Hauptschuldige für die Entwicklung werden dann Lebensmittelindustrie und -handel ausgemacht. So richtig solche Beobachtungen im Kern auch sein mögen, so sehr machen sie es sich in ihrer kulturkritischen Haltung bequem. Denn einerseits folgt das Hausgemachte längst industrieller Grammatik und andererseits bedienen gerade Handel und Industrie die emotionale Nachfrage nach Authentischem und nach Geschmackserlebnissen eigenen kreativen Ursprungs.
Vielleicht kann das ein weiteres gegenwärtiges Schlaglicht illustrieren: Der deutsche Lebensmitteldiscounter „Aldi“, seit Jahren so etwas wie der Inbegriff industriell-konfektionärer Lebensmittelversorgung in Deutschland und (als „Hofer“) Österreich, ist neuerdings zum Gegenstand einer höchst aufschlussreichen Kochbuchedition geworden. Verstand sich der erste, vor Jahren erschienene Band noch schlicht als „Das Kochbuch zum Kultdiskount“, das bekannte Rezepte mit Zuschnitt auf die berühmtesten Aldi-Produkte aufbereitete, so sind inzwischen unter dem Reihentitel „Aldidente“ annähernd zwei Dutzend weiterer Bände erschienen. Sie verdienen deshalb Aufmerksamkeit, weil sie geschickt und in nicht unaufwendiger Text-/Bildrhetorik billiges häusliches Fastfood und die emotionalen Werte des Selbstgemachten zu verbinden trachten. So erschien vor kurzem der Band „Aldidente Hausmannskost. Deftiges aus Mutterns Küche“[2579]. Er spielt bewusst mit der Beschwörung von Geschmackserinnerungen und der bekannten Formel „wie bei Muttern“. Vordergründig paradoxer erscheint noch die neue Rezeptsammlung „Aldidente Einmachen“, in der sich der Mythos von Aldi mit den Traditionen der häuslichen Vorratshaltung verbindet, wie sie das Industriezeitalter hervorgebracht hat. In einer Online-Buchbesprechung heißt es dann auch:
„Selbstgemachte Konfitüren und Marmeladen, Chutneys und Relishes schmecken einfach besser als fertig gekaufte. Ein weiterer Vorteil: Wer sein Obst und Gemüse selbst einkocht, weiß, dass sich im Glas keine Konservierungsmittel, Farbstoffe oder künstliche Aromen befinden. Und dank Schraubgläsern ist das Einwecken im Gegensatz zu früher mit speziellen Klammern und Weckringen heute auch kein großer Arbeitsaufwand mehr.“[2580]
as zielt ganz auf die Rationalität gegenwärtiger Haushalte und erinnert in seiner doppelten Argumentation – Geschmack und Funktion – an eine wichtige Schnittstelle in der Industrialisierung der Lebensweise und der Nahrungsgewohnheiten. Uwe Spiekermann und andere haben diese Verbindung in historischer Sicht untersucht und mit den Änderungen in der materiellen Lebenswelt, mit der Ausstattung der Küchen und Speisekammern in Beziehung gesetzt.[2581] Und Jakob Tanner hat zu Diskursen wie Praktiken der Funktionalisierung von Küchen im 20. Jahrhundert eindrucksvolle Materialien vorgelegt und damit eine wichtige Schnittstelle von äußerer und innerer Industrialisierung angesprochen.[2582] Es sei daran erinnert, dass es der Schweizer Sigfried Giedion war, der in seinem in der US-Emigration verfassten und Epoche machenden Werk „Mechanization takes command“ als Erster solche Zusammenhänge analytisch aufgezeigt und damit lange vor der europäischen Geschichts- und Kulturwissenschaft auf die Bedeutung der vordergründig banalen Alltagsdinge für die Dynamiken der modernen Mentalitäten hingewiesen hat.[2583]
Eines ist nicht zu übersehen: dass die eingangs erwähnten Marmeladen- und Aufstrichgläschen mit ihren karierten Deckeln und Schönschrift-Labels industrieller Logik angehören und an eine Rhetorik anknüpfen, die auch in der historischen Vermittlung solcher Haushaltstechniken eine wichtige Rolle gespielt hat. Die private Konservenproduktion auf den Grundlagen der Pasteurisationstechnik nimmt ihren Ausgang gegen Ende des 19. Jahrhunderts und ist eng mit den Nahrungskrisen des 20. Jahrhunderts verbunden.[2584] Zwischen den Kriegen und auch noch in der Nachkriegszeit war eine verfeinerte häusliche Vorratswirtschaft ein wichtiger Faktor in der Sicherung der Grundversorgung und ist daher ernährungspolitisch auch entsprechend forciert worden.[2585] Damals wurden „Einwecken“ und „Einrexen“ zu Synonymen des Einmachens von Obst, Gemüse und Fleisch. Diese (häuslich-industrielle) Vorratswirtschaft ist verbunden mit zunehmend ausgeklügelten und differenzierten Gerätschaften (wie Einkochtöpfen und Entsaftern), Wissen und Techniken und verliert erst mit dem Aufkommen der Tiefkühltechnologie im privaten und halböffentlichen Bereich an Bedeutung. Neben der Propagierung durch das Schul- und Erziehungswesen, den ernährungspolitischen Visionen der Wohn- und Agrarreformer (Kleingartenbewegung) sowie den Frauenvereinen wirkt von Anfang an die einschlägige Industrie als mächtige Agentur: „Weck“ und „Rex“ sind solche Markensymbole, in deren Produkten sich materielle Ausstattung und know-how von vornherein verknüpften; aber ebenso wichtig ist der Anteil der Lebensmittelindustrie, deren verlängerter Arm über die nützlichen Helfer nun kleinbürgerliche, bürgerliche und selbst bäuerliche Küchen verstärkt erreicht.
Betrachtet man, was vergangene Generationen in die (offensichtlich nicht sonderlich oft in direktem Gebrauch stehenden) „Grundbücher“ der häuslichen Küche alles eingelegt und eingeklebt haben, dann lässt sich in etwa ermessen, wie sehr das Küchenwissen des 20. Jahrhunderts über graue Literatur mit hauptsächlich kommerziellen Hintergründen vermittelt ist.[2586] Zucker- und Essigfabriken, die Geliermittel- und Zusatzindustrie versorgten die Haushalte über Jahrzehnte mit dem nötigen Wissen – und bald auch mit den ästhetisch-geschmacksmäßig orientierten Leitbildern – für das Selbermachen: häusliches Format für industrielle Praktiken. Kochbücher scheinen für Innovationen verlässlichere Quellen zu sein als für Traditionen, folgt doch das Normative dabei offensichtlich stärker den Bedürfnissen der Praxis.
So gesehen steht erwähntes „Aldidente“ in einer für den Wissenstransfer wichtigen Tradition, die der Grammatik der Moderne folgt und nach der die private Welt des Handwerklichen nicht im Widerspruch zu den großen Entwicklungslinien steht – im Gegenteil.
In der Kulturgeschichte der historischen Nahrungsgewohnheiten war die Perspektive lange eine andere. Die Nahrungsvolkskunde etwa, wie sie sich unter den spezifischen Bedingungen in den deutschsprachigen Ländern hat entwickeln können, hat einen Teil später häuslicher Autarkie gerne ausgeblendet. Das liegt an ihrem in den Paradigmata angelegten Fokus auf vormodern-agrarische Kulturen bzw. und besonders auf Relikte als den eigentlichen Vermittlern zwischen dem vorindustriellen Gestern und einem industriellen Heute. Jakob Tanner hat in seinem Einführungsvortrag auf jenes Potenzial hingewiesen, das solches Wissen für eine „invention of tradition“ bereithält. Die literarische, museale und reale Zelebrierung von solcherart zur Folklore gewordenen Traditionen hat den sozialen und kulturellen Wandel konsumierbar und damit erträglich gemacht. Daher auch die mit der grundsätzlichen Ideologie für das Selbstgemachte, Harmonische und Authentische („Selbstgesponnen, selbstgemacht …“) verbundene Aufmerksamkeit für ganz selektive Ausschnitte des zeitgenössischen Ernährungsalltags. Die regionalen Volkskunden und ohnehin seltenen Nahrungsethnografien interessieren sich dann auch bereits in den Anfängen der Disziplinwerdung mehr für festgefügte Ordnungen, Rituale und schließlich Kuriosa, und die Karten der ethnografischen Atlanten bevorzugen „Festtagsgebäcke“ oder fragen nach dem „Essen aus einer Schüssel“, nicht aber danach, wer wie autark wirtschaftet und warum oder warum nicht. Wenn auch Innovationen ein Thema sind, so werden sie doch unter der Perspektive des Verlustes beschrieben. Die neuen Möglichkeiten der Haltbarmachung von Gemüse, Obst und Fleisch (statt Schlachtzeit und Räuchern) etwa werden durchaus registriert und unter ernährungsphysiologischen Aspekten auch begrüßt, aber sie bleiben häufig etwas Fremdes und werden formelhaft als „willkommene Auffrischungen des Speiseplanes“ abgehandelt. Das Einmachen von Fleisch etwa (das eine über das Jahr verteilt regelmäßigere Versorgung ermöglichte) wurde als Konkurrenz zu den herkömmlichen Techniken der Wurst- und Rauchfleischproduktion gesehen, zu Produkten also, die in bürgerlich-romantischer Perspektive bereits eine Symbolfunktion innerhalb der so genannten bäuerlichen Kost zugedacht bekommen hatten.
Ein fortschrittsskeptisch-romantischer Ton zieht sich durch die Literatur bereits des 19. Jahrhunderts, hier beklagt ein Kreisbericht, dass eine kleine Nudelfabrik die traditionellen Teigwaren verdrängen werde, da fürchtet man, dass Bier aus Brauereien und mit der Eisenbahn herbeigeschaffter billiger Wein aus Ungarn bald die Fertigung des Obstmostes als Haustrunk ersetzen könnte.[2587] Auch beim Brot befürchtet man Ähnliches, ihm wird besondere, geradezu indikatorhafte Funktion für das Intaktsein der traditionellen Nahrungswelten zugeschrieben. Und diese Rolle kommt ihm ja bereits auch früh in der touristischen Repräsentation und Konsumpraxis zu: Der Geschmack des „selbstgebackenen Bauernbrotes“ zählt in den Erinnerungen städtischer Sommerfrischler des 20. Jahrhunderts – also einer bürgerlich-urbanen Art, Land und Leute wahrzunehmen, ja zu erleben – zu einem der eindringlichsten Erlebnisse. Wann immer möglich war, kauften die städtischen Sommerfrischler Brot ein und tauschen es gegen selbstgebackenes. Wie wichtig solche symbolischen Indikatoren heute noch sind, kann man daraus ersehen, dass etwa in Österreich das Qualitätszeichen „Beim Bauern zu Gast“ des Bundesverbandes „Urlaub am Bauernhof“ nur verliehen bekommt, wer unter anderem „mindestens drei hausgemachte Produkte, wie zum Beispiel Butter, selbstgemachte Marmelade, Wein, Kräutertees oder selbstgebackenes Brot“ anzubieten hat.[2588] Das sind Authentizitätsmerkmale, die der wachsenden Klientel eines Kulturtourismus (ein Terminus, der einen flexiblen Habitus als ein fest umrissenes, ökonomisches und soziales Milieu umschreibt) zusehends wichtiger werden: „Lieber lassen sie sich von Winzern und Bauern in Stimmung versetzen als von Reiseleitern und Animateuren. Sie lehnen die standardisierten Speisen der internationalen Hotelküche ab und verzehren in traditionellen Kneipen unverfälschte regionale Gerichte.“[2589]
Um allmählich zu einer Bilanz zu kommen: Die Moderne hat sich früh – und gleichzeitig – Begriffe und Instrumente zur Beschreibung von Fortschritt und Verlust durch Industrialisierung geschaffen. Was als Verbesserung der Lebensverhältnisse erschien, konnte in kulturkritischer Verkehrung auch beklagt werden. Solche Dialektiken von Modernisierung bilden sich in der Ethnografie europäischer Nahrungsgewohnheiten beispielhaft ab; ihre Aufmerksamkeit galt etwa einerseits der historischen Angleichung der Mahlzeitsysteme und der Innovation, andererseits der kulturellen Differenzierung und Typisierung. Damit weist die Wissenstradition der ethnologisch orientierten Nahrungsforschung in Europa deutliche Überschneidungen mit dem Wertekanon der Moderne auf und hält aufgrund ihrer lange gebräuchlichen Orientierung auf Relikthaftes auch Wissen bereit, das in den widersprüchlichen Ökonomien der späten Moderne eine neue Rolle spielt.[2590]
Heute ist ja nicht nur von „Rekordumsätzen im Naturkosthandel“ die Rede, für den ein „weltweit positiver Trend“ beobachtet wird und wo neben den hoch entwickelten Vermarktungsschienenauch noch die low input-Vermarktung in Zukunft weiter profitieren soll.[2591] Auch das „Power-Food“ der Zukunft wird, so ein Pressebericht, von Biologen und Agrarwissenschaftern „im Garten unserer Großmütter“ vermutet:[2592] Alte, durch den Standardisierungsdruck der Lebensmittel- und Agrarindustrie zurückgedrängte Sorten, die nun dokumentiert, untersucht und wieder belebt werden sollen. Und auch in der Kreation neuer Marken steckt sehr viel historisch-ethnografisches Wissen – Geschichte und alltägliche Lebenswelt als Referenzsystem: Eine Wiener Konservenmanufaktur, die mit süß und sauer Eingelegtem reüssiert, beansprucht für sich, die Geschmackserinnerungen unserer Kindheit ins Glas zu füllen.[2593]
Und unser Interesse heute? Um das Haus- und Selbstgemachte als Bestandteil von Modernisierung begreifen und analysieren zu können, müssen wir sowohl in historischer als auch in gegenwärtiger Perspektive solche Paradoxien als das Selbstverständliche verstehen lernen. Aber wir müssen – nach der Dekonstruktion quasi – auch ein Auge dafür entwickeln, dass sich die Funktionen des Selbstgemachten auch heute nicht in Folklore oder in ästhetischen Remedia eines für Konsumentinnen und Konsumenten in Wirklichkeit undurchschaubaren Agrar- und Lebensmittelmarktes erschöpfen, sondern dass sie nach wie vor eine legitime Strategie der Existenzsicherung sein können. Mit den nach industrieller Logik gewachsenen Wertesystemen entstehen schließlich heute allenthalben in Europa neue innovative (postindustrielle) Marketingkonzepte für strukturschwache Räume, die unter anderem etwa Frauen auf dem Land dank Vernetzung und intelligentem Brandmarking neue Einkommensmöglichkeiten eröffnen – sei es durch E-Commerce, durch Erlebnisangebote im Nahwelttourismus, durch den Ab-Hof-Verkauf, durch Bio-Catering oder durch neue Vertriebssysteme.
Auf jeden Fall würden wir wieder nur einen Ausschnitt von Wirklichkeit erfassen, wenn wir den Geschmack des Hausgemachten losgelöst von seiner ökonomischen Basis ins Auge fassen würden:[2594] Denn in einer multipel lebbar gewordenen Moderne kann häusliche Ökonomie gleichzeitig zur Subsistenzsicherung beitragen und der Erlebnisökonomie angehören. Das erfahren die Agrarplaner der Europäischen Union gerade in den Beitrittsländern Osteuropas, wo wie etwa in Polen eine (teilweise sekundäre) Selbstversorgerwirtschaft nach 1989 nicht nur das ländliche Überleben sichern half, sondern auch im Identitätsmanagement der Regionen eine zunehmend wichtige Rolle einnimmt. Mit den Vorstellungen, Strukturen und Reglementierungen der Gemeinschaft konfrontiert, reagieren Bauern und Öffentlichkeit nun angsterfüllt und mitunter auch kämpferisch: verständlich, wenn man bedenkt, dass, was „wie hausgemacht“ schmeckt, auch Sicherheit und Identität in unberechenbaren Märkten bedeuten kann und der emotionale Mehrwert der Produkte nach innen wie nach außen wirkt. Dass sich auch Reproküche mit ästhetischem Erleben – und das ist jede über das unmittelbare Erleben der Zunge und des Gaumens hinausgehende Geschmackserfahrung – verbinden kann, ohne die Bahnen traditioneller Ökonomien zu verlassen, ist dabei nicht zu übersehen. Eine kulturanalytische Nahrungsforschung sollte daher solche Situationen und Verschiebungen der Märkte und Geschmäcker als Chance verstehen, in ethnografischer Sichtung auch etwas mehr Licht in die historisch komplexen Beziehungen im Schatten der Industrialisierung europäischer Nahrungsgewohnheiten zu bringen.
Scheinbar gegenläufige Tendenzen kennzeichnen die Industrialisierung der Nahrungskultur: Pluralisierung und Standardisierung, Konfektionierung und Verfeinerung, Internationalisierung und Regionalisierung, Sicherung und Gefährdung stehen nebeneinander.
Dementsprechend hat sich die Moderne früh und gleichzeitig Begriffe und Instrumente zur Beschreibung von Fortschritt und Verlust durch Industrialisierung geschaffen. Was als Verbesserung der Lebensverhältnisse erschien, konnte in kulturkritischer Verkehrung auch beklagt werden. Solche Dialektiken von Modernisierung bilden sich auch in der Ethnografie europäischer Nahrungsgewohnheiten ab; sie lassen sich heute in den Rhetoriken und Praktiken des ‚Hausgemachten‘ beispielhaft verfolgen.
Anhand (vor allem) österreichischer Quellen versucht der Beitrag zunächst, die angedeuteten Paradoxien etwas konkreter einzufangen, er stellt sodann die Beobachtungen in einen historischen Zusammenhang (und vertieft sie am Beispiel der so genannten alpenländischen Küche), um schließlich nach den kulturanalytischen Ableitungen zu fragen und einige Überlegungen zu fachbezogenen Konsequenzen einer Europäischen Ethnologie anzustellen.
[2557] Erstveröffentlicht in: Lysaght, Patricia; Christine Burckhardt-Seebass (Hg.): Changing Tastes. Food Culture and the Processes of Industrialization. Proceedings of the 14th Conference of the International Commission for Ethnological Food Research, Switzerland 2002. Basel 2004, S. 135–152, unter dem Titel: „Wie hausgemacht ... Die Dialektik industrialisierter Nahrungsgewohnheiten und das Wissen der Europäischen Ethnologien“.
[2558] Köstlin, K.: „The Industrialization of Tradition“. In: Lysaght, Patricia; Christine Burckhardt-Seebass (Hg.): Changing Tastes. Food Culture and the Processes of Industrialization. Proceedings of the 14th Conference of the International Commission for Ethnological Food Research, Switzerland 2002. Basel 2004.
[2559] Vgl. auch Salomonsson, K.: „The E-economy and the Culinary Heritage“. In: Ethnologia Europaea. Journal of European Ethnology 32 (2002), Nr. 2, S. 125–144.
[2560] Metz, K.: „Einfach zurück zu Grossmutters Küche. In Kalifornien steht die Wiege der Kulinarik-Trends. Der neueste heisst ‚Comfort Foods‘. In: „Neue Zürcher Zeitung“, 6. Okt. 2002, S. 101.
[2561] Leimüller, G.: „Die Pflicht wird zur Kür“. In: „Salzburger Nachrichten“, 7. Aug. 1998, S. 3.
[2562] Studie des INFO-Instituts, ORF Online, 13. März 2002.
[2563] „Der Standard“, 29. Oktober 2002.
[2564] Leimüller, G.: „Die Pflicht wird zur Kür“. In: „Salzburger Nachrichten“, 7. August 1998, S. 3.
[2565] Leimüller, G.: „Die Pflicht wird zur Kür“. In: „Salzburger Nachrichten“, 7. Aug. 1998, S. 3.
[2566] Studie des INFO-Instituts, ORF Online, 13. März 2002.
[2567] Beispielhaft die Internetseite „Running Dinner. Eine Reise durch drei Küchen“.
[2568] Ein Vorschlag zur zeitgenössischen Erweiterung des Levi-Strauss’schen Modells von der Endo- und Exoküche: „Reproküche“ bezeichnet hier die mit häuslicher Reproduktionsarbeit verbundene Nahrungszubereitung. – vgl. auch Langbein, U.: „Eine ganz ‚normale‘ Familie? Unliebsame Fragen an eine geliebte Ordnung“. In: Kuckuck. Notizen zur Alltagskultur 2002, Nr. 1, S. 4–10.
[2569] Rabl, A.: „Gulasch in der Globalisierungsfalle“. In: Gourmet – Gourmand. Das Feinschmecker-Magazin von Julius Meinl Am Graben (Wien). Mai 2001, S. 3f, hier S. 3.
[2570] Rabl, A.: „Gulasch in der Globalisierungsfalle“. In: Gourmet – Gourmand. Das Feinschmecker-Magazin von Julius Meinl Am Graben (Wien). Mai 2001, S. 3f, hier S. 4.
[2571] Pauser, W.: „Die ‚regionale Küche‘. Anatomie eines modernen Phantasmas“. In: Voyage. Jahrbuch für Reise- & Tourismusforschung 2002 (Schwerpunktthema: Essen & Trinken), S. 10–16.
[2572] Zur Fiktionalität regionaler Küche vgl. grundsätzlich auch Spiekermann, U.: „Deutsche Küche – eine Fiktion. Regionale Verzehrsunterschiede im 20. Jahrhundert“. In: Gedrich, K.; U. Oltersdorf (Hg.): Ernährung und Raum. Regionale und ethnische Ernährungsweisen in Deutschland. Karlsruhe 2002, S. 47–73.
[2573] Nicht zu unterschätzen die Rolle einer ethnografisch argumentierenden neuen Biofolklore – vgl. Haid, H.; B. Haid: Biogourmet in den Alpen. Ein kulinarisch-kultureller Wegweiser. Bad Sauerbrunn 1998.
[2574] Vgl. etwa Wirleitner, Fr.: Die Bauernkost im Lande Salzburg. Eine volkskundliche Betrachtung. Salzburg 1951.
[2575] Sieberer, M.; Chr. Engstler: Von allen Sinnen. Kochkunst in den Alpen. Innsbruck 2001.
[2576] Gamerith, A.: „Feuerstättenbedingte Kochtechniken und Speisen“. In: Ethnologia Scandinavica 1971, S. 78–86.
[2577] Zur ethnischen Kodierung von Brot und Getreide in Volkskunde und ethnografischem Alltagswissen vgl. Köstlin, K.: „Die Kultur des Steilhangs und das harte Brot der Freiheit“. In: Der Schlern. Zeitschrift für Südtiroler Landeskunde 2003, 77. Jg., H. 11/12, Bozen/Athesia, 2003, S. 12–21.
[2578] Vgl. Sandgruber, R.: Die Anfänge der Konsumgesellschaft. Konsumgüterverbrauch, Lebensstandard und Alltagskultur in Österreich im 18. und 19. Jahrhundert. (= Sozial- und wirtschaftshistorische Studien, Bd. 15). Wien 1982.
[2579] Rescher, G.: Aldidente Hausmannskost. Deftiges aus Mutterns Küche. Frankfurt a. M. 2002.
[2580] Tschirner, M.: „Gabriele Rescher: Aldidente Hausmannskost (Buchkritik)“.
[2581] piekermann, U.: „Zeitensprünge: Lebensmittelkonservierung zwischen Haushalt und Industrie 1880–1940“. In: Ernährungskultur im Wandel der Zeiten. Köln 1997, S. 30–42.
[2582] Tanner, J.: „The Arts of Cooking. Modern Times and the Dynamics of Tradition. In: Lysaght, Patricia; Christine Burckhardt-Seebass (Hg.): Changing Tastes. Food Culture and the Processes of Industrialization. Proceedings of the 14th Conference of the International Commission for Ethnological Food Research, Switzerland 2002. Basel 2004. – Vgl. Ders.: Fabrikmahlzeit. Ernährungswissenschaft, Industriearbeit und Volksernährung in der Schweiz 1890–1950. Zürich 1999.
[2583] Giedion, S.: Die Herrschaft der Mechanisierung. Ein Beitrag zur anonymen Geschichte. Frankfurt a. M. 1982.
[2584] Spiekermann, U.: „Zeitensprünge: Lebensmittelkonservierung zwischen Haushalt und Industrie 1880–1940“. In: Ernährungskultur im Wandel der Zeiten. Köln 1997, S. 30–42.
[2585] Stille, E.: „In Keller und Kammer“. In: Andritzky, M. (Hg.): Oikos. Von der Feuerstelle zur Mikrowelle. Haushalt und Wohnen im Wandel. (Ausstellungskatalog Stuttgart/Zürich 1992). Giessen 1992, S. 215–226.
[2586] Koche auf Vorrat! Handbuch für die Frischhaltung aller Nahrungsmittel mit den ‚Weckschen Einrichtungen‘. Frankfurt o. J. [1913].
[2587] Beispielhaft Tiefenthaler, M. (Hg.): Die Berichte des Kreishauptmannes Ebner. Ein Zeitbild Vorarlbergs aus der 1. Hälfte des 19. Jahrhunderts. Dornbirn 1950.
[2588] Bundesverband „Urlaub am Bauernhof“ (Hg.): Urlaub am Bauernhof in Österreich. Kategorisierung der Höfe. Salzburg 2001, S. 8: für Hinweise danke ich Monika Falkensteiner.
[2589] Hennig, Chr.: Reiselust. Touristen, Tourismus und Urlaubskultur. Frankfurt a. M. 1999, S. 22.
[2590] Vgl. Salomonsson, K.: „The E-economy and the Culinary Heritage“. In: Ethnologia Europaea. Journal of European Ethnology 32 (2002), Nr. 2, S. 125–144, hier S. 133ff.
[2591] ORF Online, 3. Dezember 2001.
[2592] „Der Standard“, 22. November 2001.
[2593] „Die Melodie des guten Geschmacks“. In: Gourmet – Gourmand. Das Feinschmecker-Magazin von Julius Meinl Am Graben (Wien). Mai 2001, S. 6f.
[2594] Die voreingenommen ‚westliche‘ Perspektive dieses Beitrags ist dem Autor durchaus bewusst: eine Exkursion des Wiener Instituts für Europäische Ethnologie in die westliche Ukraine im Mai 2003 hat – zu Gast in Familien, beim Besuch von Märkten und unterwegs auf den Straßen – die subsistenzwirtschaftliche, alltäglich-selbstverständliche Dimension des Hausgemachten lehrreich in Erinnerung gerufen. Ihre Bedeutung im Transformationsprozess, obwohl unübersehbar in den Alltagspraktiken und ihren Materialisierungen, scheint bislang keine wissenschaftliche Aufmerksamkeit geerntet zu haben.