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Motivation und Management im Brauch (Manfred Seifert)

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Für einen reformierten Ansatz der Brauchanalyse

Im allgemeinen Verständnis sind sowohl die Betrachtung von Bräuchen als auch das Nachdenken über Bräuche ausgerichtet auf deren „charakteristische“ Ausführungsweise. Als „charakteristisch“ und damit typisch gelten landläufig dabei die regelgerecht praktizierten Gestaltungsformen und Verhaltensweisen, insbesondere wenn sie sich traditionsverhaftet präsentieren. Demzufolge denkt man sich das Brauchgeschehen wie in Schienen verlaufend. Denn Sitte und Tradition haben prägendes Gewicht, sie bilden sozusagen die beiden Schienenstränge. Die Spurbreite aber entspricht dem vorschriftmäßigen Gestaltungsspielraum für die Brauchformen. Das Interesse ist in der Regel auf diese Brauchformen beschränkt, genauer: auf die Brauchausführung als Ergebnis.

Zwei für die Volkskunde als moderne Kulturwissenschaft zentrale Beobachtungsgrößen für das Brauchhandeln kommen bei dieser Sichtweise in aller Regel zu kurz: einerseits die ausführenden und betroffenen Personen mit ihrem kulturellen Wissen und ihren Einstellungen, andererseits der prozesshafte Charakter einer Brauchausübung. Ein solchermaßen auf die Subjekte des Brauchgeschehens konzentrierter Ansatz nimmt auch die konkreten Umstände der Planung und Ausführung sowie die Reaktionen darauf in den Blick. Brauchausübung gibt sich als Planungsvorgang und Verständigungsprozess zu erkennen. Damit aber werden Veränderungen und Neuinterpretationen der Brauchausübung als logische Konsequenzen begreifbar.

Im Blickpunkt der Brauchanalyse: die ausführenden Personen

Bei einem subjektorientierten Ansatz in der Brauchanalyse zeigen sich jenseits der glatten Oberfläche der Selbstdarstellung sowie jenseits der stimmigen Szenerie des Brauchablaufes gerade auch die Ungereimtheiten, die Meinungsverschiedenheiten und Probleme, die Störungen und Unsicherheiten im Kreis der Brauchträger und ihres Organisationsmanagements. Über die Subjekte und ihre Lebenswelt erschließt sich darüber hinaus ein breiter Zugang zu den gesellschaftlichen Bedingungen, in denen Bräuche heute stattfinden und von denen sie in der Gegenwart ebenso massiv geprägt werden.

Insofern lassen sich Brauchvollzüge auch als ein Spiegel für gesellschaftliche Verhältnisse verstehen. Diese Qualität als Spiegel, in dem sich die je aktuellen sozialen, wirtschaftlichen, moralischen, weltanschaulichen etc. Strukturen erkennen lassen, besaßen Bräuche früher und besitzen Bräuche auch heute. Es liegt jedoch entscheidend an der Herangehensweise bei der Beschäftigung mit dem Brauchgeschehen, ob man diese gesellschaftlichen Einschlüsse deutlicher wahrnehmen kann oder im Dunkel belässt.

Dazu notwendig ist ein möglichst unmittelbarer Zugang zum Brauchgeschehen, zu den Brauchakteuren wie auch zu dem vom Brauch passiv betroffenen Personenkreis, der insbesondere auch auf die Zeitphasen vor und nach dem Brauchereignis ausgedehnt ist. Methodisch sind hier besonders die teilnehmende Beobachtung[62] [Anm.: der Forscher untersucht das Geschehen, indem er sich selbst an der Aktion beteiligt, allerdings möglichst ohne eine Rolle einzunehmen, in der er den Vorgang merklich beeinflussen würde] und qualitative Befragungstechniken[63] [Anm.: sie geben den Befragten bewusst den Spielraum, sich zu äußern wie sie es wünschen; der Forscher will dabei vermeiden, die Befragten zu Aussagen zu drängen, die er willentlich unterstellt oder fragend vorformuliert hat] zu berücksichtigen.

Bräuche sind Formen des Lebensvollzuges

Auch wenn die sich heimatverbunden verstehende Brauchpflege uns vielfach anderes präsentiert: Bräuche sind Formen des Lebensvollzuges und keine Ausstellungsstücke eines Herbariums – als ehrwürdige Vertreter besonderer Pflanzenarten getrocknet, in charakteristische Form gebracht, lehrreich beschriftet und zur dokumentarischen Anschauung feilgeboten. Wo sie liebhaberisch mumifiziert werden, wächst der emotionalen Zuwendung gerne eine weltanschaulich-programmatische Interpretation zu. So sucht man ihren tieferen Sinn und damit höheren Wert regelmäßig in einer besseren Vergangenheit, in „natürlicheren“ Lebensformen, in harmonischeren Gesellschaftsbildern.

Und man findet solchen Sinn und Wert heute verstärkt in ökologischen Bezügen (die wir gerade in den älteren ländlichen Braucherscheinungen erkennen wollen, wo „Natürliches“ selbstverständlich und damals aus Mangel an industriell-zivilisatorischen Alternativen aufscheint) oder im historisch fernen Keltentum. Gerade hierbei ist auffällig, wie facettenreich doch inzwischen eine edle, schöpfungssensible und also „weise“ keltische Kultur und Gesinnung modelliert ist als Alternative zu unseren problembeladenen, komplexen Lebensverhältnissen. Dies ist besonders auffällig angesichts der Tatsache, dass unser historisch gesichertes Wissen über das gut 1.500 Jahre zurückliegende Leben und Denken dieser Volksgruppe viel zu dürftig für die meisten dieser Modellierungen ist.

Mit der Konservierung zum „Brauchtum“ gehen also zum Teil intensive Bedeutungszuschreibungen einher, die ihrerseits die Vorstellung einer „richtigen“ Form anleiten. Solche Zuschreibungen „von außen“ verstellen jedoch den Blick „nach innen“ – auf die sozialen, gruppendynamischen und kommunikativen Realitäten von Brauchgeschehnissen, die als vitaler gestalterischer Ausdruck im Rahmen aktueller Lebensvollzüge funktionieren.

Praktische Brauchanalyse: das Weisertweckenfahren

Der Ansatz einer Brauchanalyse ‚nach innen’ soll der Anschaulichkeit wegen an einem konkreten Brauchgeschehen erläutert werden. Als Beispiel dient der in bestimmten Regionen Oberbayerns bis zur Gegenwart ausgeübte Brauch des Weisertweckenfahrens, der den Brauchformen um Lebenslauf und Familienstruktur zugehört und an Gebäckformen als Patengeschenke zu Geburt oder Taufe anschließt, die auch in Österreich weithin üblich sind bzw. waren. Der Weisertwecken ist ein mehrere Meter langer Wecken aus Semmel- oder Hefeteig, der dem Ehepaar bei der Geburt des ersten männlichen Nachkommen überbracht wird. Spender dieses Weckens sind Freunde und Bekannte der Eltern bzw. ein Verein, bei dem einer der Ehepartner Mitglied ist. Die Spender begleiten als Gruppe den Transport des Weckens zum Elternhaus. Dies geschieht in der Regel unter erheblichem Aufwand und mit eigenem Zeremoniell.

So dient vielfach ein Pferdefuhrwerk oder ein von einem Oldtimer-Traktor gezogener Wagen als Transportgefährt für den Weisertwecken. Die Spender begleiten das Gefährt in der Regel mit verschiedenen Handlungsmustern, die die Überwindung der Wegstrecke zu einer dramaturgisch überformten Inszenierung werden lassen, mit der die Aufmerksamkeit der Anwohner und Passanten erregt werden soll. Einem unter Umständen auf mehrstündige Dauer ausgedehnten Anmarsch folgt die Begrüßung des Elternpaares vor seinem Haus. Nachdem der „Amtsarzt“ den männlichen Nachkommen überprüft hat, muss das Ehepaar den Wecken gemeinsam anbeißen. Erst dann gelangt der Wecken in das Haus, wobei ein Zugang über eine Öffnung im ersten Stock des Hauses bevorzugt wird. Im Anschluss laden die so geehrten Eltern die Gruppe der Weisertweckenfahrer zu einer Brotzeit ein.



[62] Teilnehmende Beobachtung: der Forscher untersucht das Geschehen, indem er sich selbst an der Aktion beteiligt, allerdings möglichst ohne eine Rolle einzunehmen, in der er den Vorgang merklich beeinflussen würde.

[63] Qualitative Befragungstechniken geben den Befragten bewusst den Spielraum, sich zu äußern wie sie es wünschen; der Forscher will dabei vermeiden, die Befragten zu Aussagen zu drängen, die er willentlich unterstellt oder fragend vorformuliert hat.

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