Menschliche Gesellschaften bestehen aus Menschen und ihren Beziehungsgeflechten und aus Artefakten, d. h. menschengeschaffenen Dingen, und den Beziehungen zwischen Menschen und Artefakten. In den Dingen steckt Geschichte: mühseliges und nicht selten leidvolles „Trial-and-Error“ der langen Ketten zahlloser Generationen vor uns. Sie bergen kulturelle Schätze und Zwänge (Norbert Elias).
Leben und Lernen heißt für uns Menschen: die Einverleibung von Symbol-Wissen und Körper-Wissen: zum Teil eher bewusst, z. B. in Form von Unterricht und Training, zum Großteil eher unbewusst, z. B. über kreative Nachahmung (Mimesis). Auch Dinge enthalten Körper-Wissen, auch Dinge sind Schulmeister. Funktionsweise und Gebrauch von Dingen erziehen: Autos, Computer, Musikinstrumente verlangen von uns Disziplin. Häuser, Räume, Möbel vermitteln Ordnungsprinzipien – nicht zuletzt über begünstigte oder gar erzwungene (oder erschwerte) Körperbewegungen und Körperhaltungen: So dienen z. B. Sessellehnen der Abgrenzung: sie individualisieren und distanzieren. Darum schunkelt man/frau auf Volksfesten und Kirtagen lieber kollektiv auf lehnenlosen Bänken.
Auch in postindustriellen Gesellschaften trägt – wie in den Generationen davor – das materielle Erbe, der Familienbesitz, praktisch zur Weitergabe von Werten, Tugenden, Kompetenzen bei – und tradiert so soziale Ungleichheit. Artefakte haben sozial abhebenden Wert, sind Unterscheidungszeichen, werfen symbolische Distinktionsprofite ab. „... der gesamte Lebensstil einer Klasse (lässt sich) bereits aus deren Mobiliar und Kleidungsstil ablesen, ... weil die gesellschaftlichen Verhältnisse, die in diesen vertrauten Dingen gegenständliche Gestalt gewinnen ... sich vermittels zutiefst unbewusster körperlicher Empfindungen und Erfahrungen aufzwingen: dem beruhigenden und diskreten Gleiten über den beigefarbenen Teppichboden ebenso wie dem kalten, nüchternen Kontakt mit grellfarbenem Linoleum, dem durchdringenden, scharfbeissenden Geruch von Putzmitteln wie dem unmerklichen Duft von Parfum. ... die in den Dingen ... zu objektivierten gesellschaftlichen Verhältnissen (werden) von einem jeden unmerklich inkorporiert und (bildet) dessen dauerhafte Beziehung zu Welt aus“.[411] (Pierre Bourdieu)
Was sagte doch Bert Brechts Herr Keuner? Herr Keuner sah einen alten Stuhl von großer Schönheit der Arbeit und kaufte ihn sich. Er sagte: „Ich hoffe auf manches zu kommen, wenn ich nachdenke, wie ein Leben eingerichtet sein müsste, in dem ein solcher Stuhl wie der da gar nicht auffiele oder ein Genuss an ihm nichts Schimpfliches oder Auszeichnendes hätte.“[412]
„Design (engl.; zu lat. designare ‚bezeichnen’), Entwurf, Entwurfszeichnung. Gestaltgebung und die so erzielte Form eines Gebrauchsgegenstandes (einschließlich Farbgebung); bezeichnet insbesondere die moderne, zweckmäßige, funktional-schöne Formgebung industrieller Produkte“, so oder ähnlich lautet im Allgemeinen die lexikalische Definition des Begriffes „Design“.
Vergleichbar formuliert dies bereits vor knapp 90 Jahren, im Jahre 1915, die in England nach dem Vorbild des Deutschen Werkbundes organisierte Design and Industries Association(DIA). Diese Vereinigung wollte in der Bevölkerung eine verstärkte Nachfrage nach bestem und vernünftigstem Design erreichen und forderte, dass fabrikmäßig hergestellte Produkte bei vernünftiger Formgebung sehr wohl auch schön sein können.
In einen weiter gespannten, die sozio-kulturelle Dimension miteinbeziehenden Rahmen, wird die Gestaltung von dem, den Menschen umgebenden, ästhetischen Dingarsenal mit folgender Definition gestellt: „Design ist – anders als jede künstlerische Tätigkeit – ein Vorgang, der unmittelbar mit dem industriellen Produktionssystem gekoppelt ist und damit ein Stück der alle sozialen Schichten berührenden gesellschaftlichen Kulturproduktion und deren Rezeption schlechthin. Weit mehr als die künstlerische Produktion mit ihren Ergebnissen prägt die industriell produzierte und massenhaft aufgenommene Alltagsästhetik die öffentliche und die private Umwelt; darüber hinaus das soziale Verhalten.“
Die Definition der schönen Dinge, mit denen sich der Mensch gern umgibt, scheint einfach. Umso mehr erstaunt es, dass die Begriffsbestimmung, aufgedunsen unter einem Wust von Definitionsversuchen, zunehmend eine Sprachverwirrung erlebt. Gerade in jüngerer Zeit schmücken sich alle möglichen Branchen mit dem Begriff „Design“: Bezeichnungen wie „Schuh-Designer“, „Hair-Designer“, „Designer-Villa“, „Airbrush-Design“ oder „Designer-Droge“ sind heute in aller Munde, jeder Gegenstand, angefangen vom Kerzenleuchter bis hin zur Automobilkarosserie, so hat es den Anschein, ist heute „designt“. Eine Unterscheidung zwischen „gutem Design“ und „schlechtem Design“, zwischen Handwerk, Kunsthandwerk, Kunstgewerbe und massenhaft hergestellten, gestalthaften Dingen, die ihren Zweck in guter Weise erfüllen, vermag heute kaum noch jemand wirklich treffen zu können. Verkürzt gesprochen könnte man feststellen, dass die gegenwärtige Situation im Design der Devise: „Erlaubt ist, was gefällt!“ entspricht.
Im allgemeinen Sprachgebrauch hat sich längst ein „erweiterter Designbegriff“ durchgesetzt. Design ist populär geworden, ungeachtet einer Definition spielt es bei der Mehrheit der Bevölkerung nahezu keine Rolle mehr, ob ein Ding gut oder schlecht „designt“ ist, viel entscheidender ist seine wie auch immer geartete zeichenhafte Bedeutung im sozialen Kontext. Design prägt mehr oder minder jeden Aspekt unseres Lebens. Gleich ob wir arbeiten, reisen oder Freizeit verbringen – immer sind wir von Dingen umgeben, die jemand gestaltet hat. Produkte von Entwerfern wie Richard Sapper, Philippe Starck und Ettore Sottsass oder Design-Klassiker wie der Thonet-Stuhl Nr. 14, der VW-Käfer, die Vespa, die Küche von Bulthaupt, das Radio von Braun oder ein Besteck von Pott, besitzen heute Kult-Status und fungieren, losgelöst von ihrer einstigen ästhetisch-zweckhaften Gebrauchsfunktion, als Bedeutungsträger in einem nonverbalen Kommunikationssystem. Design ist heute eine Frage des Lifestyle, Design drückt Zeitgeist aus und gilt als „trendy“.
In unserer von Wettbewerb geprägten Welt erscheint nichts wichtiger als das richtige Image, das es bei den Firmen mittels einer „Corporate Identity“ – im privaten Bereich durch die geeignete Wahl zeichenhafter Bedeutungsträger – herzustellen gilt. Design ist ein unabdingbarer Bestandteil von Lebensart geworden, das zeigt sich auch daran, dass die Werbeindustrie und ein inzwischen kaum mehr überschaubarer Markt von Design-Ratgebern und Zeitschriften den „richtigen“ Umgang mit gestalteten Dingen und Design-musts propagieren. Design-Freaks, die ihren erlesenen Geschmack unterstreichen wollen, erfahren hier, welche Stücke „man“ besitzen sollte (Design-Basics).
Ein Design-Objekt kann benutzt werden, um sich als Individuum zu zeigen, zugleich kann es aber gerade auch die Bindung an eine Gruppe ausdrücken, d. h. es ist sowohl Unterscheidungs- als auch Zugehörigkeitszeichen. Demnach kann ein Design-Objekt zu ganz anderen als den ästhetisch-funktionellen Zwecken gebraucht werden, für die es eigentlich entworfen und produziert wurde, dann nämlich, wenn es in der individuellen oder gesellschaftlichen Aneignung umfunktioniert wird. Erst wenn man diesen Akt der in seiner Vielschichtigkeit zu begreifen in der Lage ist, lernt man, was Gebrauchswert im Einzelfall bedeutet.
Der Designer vermag den Gegenstand nur mit sehr allgemeinen Anmutungseigenschaften auszustatten; die Interpretation des von ihm geschaffenen Produkts wird immer im Kontext mit der gesellschaftlichen Gebrauchswertbestimmtheit und sozialen Codierung zu sehen sein, d. h. in der Beziehungsstruktur zwischen Gegenstand, Benutzer und Gesellschaft.
Design bleibt damit ein Postulat, eine Vorstellung über Verhalten, vermittelt über Wahrnehmung und Handhabung der gestalteten Dinge. Der Grundwiderspruch zwischen industrieller Formgebung bzw. der Designtheorie und individuellen und sozialen Aneignungsbedürfnissen umreißt die nahezu unüberbrückbare Distanz zwischen dem Entwurf eines Dinges und seinem tatsächlichen Gebrauch.
„Erbstücke“, „Andenken“ oder „Beutestücke“ touristischer Unternehmungen – eben Objekte persönlicher Erinnerung und Identifikation zieren Kommoden, Vitrinen und Buffets, werden selten genutzt, immer wieder abgestaubt, doch nicht weggegeben und geliebt, vor allem geliebt, auch wenn das Verhältnis zu ihnen oft ambivalent ist.
Bis in die 1950er-Jahre hatten es Volkskundler leicht mit Gegenständen populärer Ästhetik. Sie wurden ohne viel Federlesens in „Kunst“, „Volkskunst“ oder „Kitsch“ (meist die Qualifikation serieller industrieller Erzeugnisse) eingereiht. Nur „Volkskunst“ war des Interesses würdig. Sie wurde nach heute fragwürdigen „Kategorien und Kriterien der Volkskunst“, unter dem unhinterfragten Postulat, dass es solche sei, formal beschrieben, deren Qualität gepriesen und zu Seitenhieben auf den Kulturverfall der Gegenwart genutzt.
Objekte persönlicher Erinnerung und Identifikation, seien sie „Volkskunst“, „Kunst“ oder „Kitsch“,[418] sind Medien persönlicher und gesellschaftlicher Wirklichkeiten.[419]
Bereits in den 1920er-Jahren führte über Arnold van Gennep und Adolf Spamer ein sozialwissenschaftlicher und psychologischer Blickwinkel von der reinen Objektbeschreibung zum Menschen als Erzeuger und Benutzer. Nach allen Rückschlägen durch die NS-Zeit postulierte schließlich 1969 Elke Schwedt diesen Benutzerstandpunkt neu.[421] Sie führte zum sozial- und kulturwissenschaftlichen Umgang mit Objekten populärer Ästhetik und Zeichenhaftigkeit.
Die Fragen, welche Weltbilder, Wertungen und Sozialisationswege Menschen oder gesellschaftliche Gruppen dazu bewegen, Objekte – unabhängig von ihrer formalen Klassifikation und ästhetischen Bewertung – als „schön“ und „richtig“ zu empfinden, zu benutzen und immer wieder aufzuheben, führten zum psychosozialen Wert von Massenwaren mit ästhetischem Anspruch. Die nächste Frage fasste den sozialen und kommunikativen Nutzen der Objekte ins Auge. Sie führte zu den Formen der Selbstdarstellung, der gesellschaftlichen Einordnung und Abgrenzung, der alltäglichen Kommunikation, auch der Instrumentalisierungen, die über diese Gegenstände alltäglichen Gebrauchs ablaufen. Schließlich kam noch die Frage nach dem Erinnern und Vergessen dazu. Dinge erschienen so auch als Medien nicht nur gegenwärtiger Selbstdarstellung, sondern als Symbole ganz persönlicher Familiengeschichte, nicht so wie sie historisch nachprüfbar wäre, sondern so wie man sie subjektiv erlebt oder erlebt haben wollte.
Nach ersten Ansätzen in den 1920er-Jahren fühlt sich die Volkskunde seit den 1970ern für populäre Erzeugnisse mit ästhetischen Ansprüchen „zuständig“. Nach formalistischen Klassifikationen in der Vergangenheit steht nun der Mensch als Benutzer der Dinge im Zentrum des Interesses. Untersucht werden die Weltbilder, Wertungen und Sozialisationswege, die Menschen oder gesellschaftliche Gruppen dazu bewegen, Dinge, unabhängig von ihrer formalen und ästhetischen Bewertung, als „schön“ zu empfinden. Der psychosoziale Wert von Objekten populärer Ästhetik und sozialer Zeichenhaftigkeit macht deren Bedeutung für die tägliche Kommunikation sichtbar. Gebrauchsgegenstände werden, bewusst und unbewusst, zur Selbstdarstellung, gesellschaftlicher Einordnung und Abgrenzung, als Signale im sozialen Umfeld eingesetzt und instrumentalisiert. Weiters verorten sie das persönliche und kollektive Gedächtnis, selektieren in Erinnern oder Vergessen. Sie sind Medien eines Geschichtsverständnisses, das nicht nach historischer Nachprüfbarkeit, sondern nach gegenwärtigen Bedürfnissen fragt.
Die „geliebten Erinnerungen“ entziehen sich daher jeder ästhetischen und formalen Klassifikation. Sie sind Indikatoren und Identifikatoren von hoher Zeichenfunktion sowohl für gesellschaftliche Gruppen als auch für einzelne Personen. Als Koordinatenkreuze im soziokulturellen Netzwerk der Person, zeigen sie deren Herkunft, Ausbildung, persönliche Wertsetzungen und Bindungen auf. Sie sind Brennpunkte persönlicher Lebenswege und Lebenswelten, in denen Erfahrungen, Wünsche, Gefühle, Hoffnungen und Träume kulminieren. In ihnen werden Erinnerungen, Lebensabschnitte, aber auch subjektive Werte wie Vertrautheit, Heimatlichkeit und Wohlbefinden dingfest gemacht.
[409] Kurztextseite von Gerhard Fröhlich. Der erste Teil der Kurzfassung war unter dem Titel: „Dinge als Lehrmeister oder Das symbolische Kapital der Artefakte“ Katalogbeitrag in: [Hofer 1997].
[410] Kurztextseite von Gerhard Fröhlich
[411] [Bourdieu 1987], S. 137f.
[412] [Brecht 1972], S. 85.
[413] Kurztextseite von Jürgen Eminger
[414] Kurztextseite von Jürgen Eminger
[415] Kurztextseite von Jürgen Eminger
[416] Kurztextseite von Jürgen Eminger
[417] Kurztextseite von Ulrike Kammerhofer-Aggermann
[419] [Hofer 1997].
[420] Kurztextseite von Ulrike Kammerhofer-Aggermann
[422] Kurztextseite von Ulrike Kammerhofer-Aggermann