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Lieder im Leben (Gerlinde Haid)

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Volksmusik und Feldforschung

Die Volksmusikforschung versucht in der so genannten Feldforschung den „Liedern im Leben“, der Musik abseits vom Konzertbetrieb, die wichtige Stationen im Leben von Menschen begleitet, die Feste gestaltet und den Alltag ausschmückt, auf die Spur zu kommen.

Aufgabe der Feldforschung ist es, singende und musizierende Menschen aufzusuchen und jenen Schatz zu heben, den diese in ihrem Gedächtnis bewahren. In neuerer Zeit geschieht dies mit Tonaufzeichnungsgeräten. Auf Anregung der damals so genannten „Salzburger Heimatpflege“ (heute Salzburger Volkskultur) und in Zusammenarbeit mit dem „Österreichischen Volksliedwerk“, dem „Institut für Volksmusikforschung an der Wiener Musikuniversität“ und dem „Phonogrammarchiv der Österreichischen Akademie der Wissenschaften“ haben seit 1975 eine Reihe von Forschungsexkursionen in alle Salzburger Gaue stattgefunden und eine Fülle von Material zutage gefördert. Dabei wurden nicht nur Lieder und Musikstücke aufgenommen, sondern auch viele Informationen, die die Gewährsleute dazu geben konnten.

Klänge

Für den Ablauf des alltäglichen Lebens und der Arbeit haben in vorindustrieller Zeit und noch lange danach bis zur Ablöse durch audiovisuelle Medien und Telekommunikation händisch und „mündlich“ erzeugte Klänge eine wichtige Rolle gespielt. Teilweise sind sie in die Gegenwart übernommen worden.

Diese Klänge waren ein Mittel zur Kommunikation der Menschen untereinander und der Menschen mit den Tieren. Von den Glockentürmchen, die man heute noch auf vielen Bauernhäusern in Salzburg sehen kann, wurde zum Essen geläutet.

Rufe und Juchzer

In Zusammenhang mit der Viehwirtschaft sind Lock- und Scheuchrufe notwendig. Lockrufe bewegen sich meist in zwei Stimmregistern. Die Kopfstimme trägt in die Ferne, die Bruststimme signalisiert Nähe. Jede Tiergattung hat ihren eigenen Ruf, auf den sie reagiert. Und natürlich kennen die Tiere die Stimme des Menschen, dem sie anvertraut sind und der sich um sie kümmert.

Bei der Bergmahd im Lungau („Stoaßmahd“) kam es, wenn ein „Stoaß“ (= ein Streifen) hinaufgemäht war, oben zu einer kurzen Rast, „Stoaßåbråsten“ genannt. Da wurde ein Juchzer losgelassen und ein gereimter Spruch geschrien: „Stoaßåbschrein“. Wie so oft, wenn bei einer schweren und anstrengenden Arbeit die Gedanken abgelenkt werden sollten, wurden dabei „gepfefferte“ Themen aufgegriffen: offene Erotik oder Sticheleien gegen die nacharbeitenden Frauen. Das lebt heute nur noch in der Erinnerung.

Juchzer sind der Ausdruck spontaner Lebensfreude, die sich meistens im Freien einstellt, auf der Alm, beim Berggehen, auf dem nächtlichen Heimweg von einer netten Unterhaltung, aber auch beim Tanzen oder bei einem Hochzeitszug. Juchzer beginnen immer in ganz hoher Stimmlage und kaskadieren mit dem Nachlassen der Spannung nach unten.

Rhythmus und Arbeit

Sehr viele Arbeiten in vorindustrieller Zeit wurden rhythmisch verrichtet, weil sie dann leichter „von der Hand“ gingen und weil bei Gemeinschaftsarbeiten nur durch die Bindung an einen gemeinsamen Rhythmus ein klagloser Ablauf möglich war.

Rhythmusgefühl war auch notwendig beim gemeinsamen Dreschen mit den Dreschflegeln; man half sich mit Merksprüchen, die sich jeder Drescher innerlich vorsagte. Es gab verschiedene davon, je nachdem, wie viele Drescher einander in zwei Reihen gegenüberstanden. Alte Bauern konnten uns im Rahmen unserer Feldforschungen solche „Dreschersprüche“ noch aus ihrer Erinnerung vorsagen.

Kinderwelt

Das Hineinwachsen der Kinder in die Welt der Erwachsenen geschieht – auch musikalisch – normalerweise in der Familie und in der Nachbarschaft. In der Zeit vor dem Einsatz der audiovisuellen Medien in der Kinderstube begann die musikalische Erziehung mit den Wiegen- und Koseliedern. In Zederhaus im Lungau haben uns eine Mutter und ihre Tochter – beide waren damals schon reife Frauen – aus ihrer Erinnerung ein Wiegenlied vorgesungen, wie sie es seinerzeit für ihre Kinder getan haben. In Erinnerung sind auch noch die „Kniereiterreime“, deren Bilder ganz aus der Anschauung der bäuerlichen Lebenswelt genommen sind.

Liedleben

Das Repertoire der Frauen ist anders strukturiert als jenes der Männer. Lieder, die solistisch oder im Duo im Wirtshaus vorgetragen werden, sind meistens männlich. Frauen singen teilweise die gleichen Lieder, aber eher zu Hause. Es gibt Männer, die für ein einziges, ihr so genanntes Lieblingslied, bekannt sind, das sie – und nur sie! – zu fortgeschrittener Stunde im Wirtshaus singen. Frauen hingegen sind oft an allen Arten von Liedgattungen interessiert; viele haben sich handschriftliche Liederbücher angelegt. Männer haben das unter Umständen beim Militär getan, so wie jener Johann Pongruber aus Henndorf 1908, der auch gleich einen „Stundenfresser“ für seine Militärzeit hineingezeichnet hat.

Gesungen wurde zu Hause, in der Nachbarschaft, beim Wirt, besonders, wenn die Wirtsleute selber gerne gesungen haben, und auf der Alm bei den – vorwiegend bei der Jugend beliebten – Almbesuchen im Sommer. Immer wieder haben wir im Rahmen unserer Feldforschungen auch singende Ehepaare aufnehmen können. Mitunter hatten sie richtige Spezialitäten in ihrem Programm, so wie beispielsweise das Ehepaar Teufel aus Henndorf.

Ballade

Was die Herkunft der geselligen Lieder betrifft, so hat Salzburg – neben den typisch alpenländischen Liedern – auch Anteil am allgemeindeutschen Repertoire, wobei die Balladen sicher am weitesten in der Geschichte zurückzuverfolgen sind. Oftmals thematisieren sie Erzählstoffe, die auch in anderen europäischen Ländern und Sprachen anzutreffen sind.

Mit Auflösung der feudalen Strukturen kommt es zur Herausbildung von scherzhaften „Schwankballaden“, in denen am Schluss immer eine höher gestellte Persönlichkeit der Dumme ist.

Alpenländisches Lied

Das alpenländische Repertoire mit Alm- und Wildschützenliedern und einer reichen Fülle an Liebesliedern dürfte großteils erst im 19. Jahrhundert entstanden sein. Es hat aber, weil es als besonders typisch empfunden wird, in Salzburg mit der Zeit die Oberhand gewonnen.

Eine Untergattung der Liebeslieder sind die „Fensterstreitlieder“. Der nächtliche Besuch der Burschen an den Kammerfenstern der Mädchen war in vielen ländlichen Gebieten noch lange nach dem Zweiten Weltkrieg die übliche Form des „Anbandelns“. Die „Fensterstreitlieder“ thematisieren diese Situation.

Küchenlieder und Gelegenheitslieder

Volkstümliche Lieder machen überall, wo überhaupt noch gesungen wird, einen Großteil des Repertoires aus. Zu ihnen gehören auch die so genannten „Küchenlieder“, die größtenteils im 19. Jahrhundert entstanden sind. Sie werden vorwiegend von Frauen gesungen und immer wieder – vorwiegend von Männern – als „Kitsch“ abqualifiziert. Tatsache ist, dass sie in einer Zeit ohne Massenmedien durch Generationen die Gemüter bewegt haben.

Die vielen Gelegenheitslieder, die es in Salzburg gibt, legen die Vermutung nahe, dass es immer wieder „Bauerndichter“ gegeben hat, die solche Lieder gemacht haben. Die Texte betreffen wirtschaftliche, politische oder gesellschaftliche Ereignisse oder auch ein einzelnes Missgeschick, das humorvoll kommentiert wird. So sind zum Beispiel Pannen beim Stierschlachten ein beliebtes Thema für Erzählungen, Schwänke und Lieder. Solche Gelegenheitslieder sind prinzipiell Sololieder. Sie sind meistens sehr lang; die Melodien einfach, eine Art Bänkelgesang.

Gstanzln

Bei Tanzunterhaltungen war das Gstanzlsingen wichtig als „Vehikel sozialer Auseinandersetzung“. Dabei sangen die Mädchen gegen die Burschen und vice versa. Es ging aber auch gegen die Musikanten, gegen die Burschen vom Nachbardorf und gegen die Obrigkeit und zwar nicht nur beim Tanz, sondern auch auf dem Weg dorthin, im Wirtshaus und bei jeder sich bietenden Gelegenheit. Das Sticheln und Aufstacheln war oftmals die verbale Einleitung für eine Rauferei. Besonders im Flachgau ist die Erinnerung daran noch sehr lebendig.

Jodler

Lieder und Jodler gibt es unendlich viele. In der Volksmusik existieren sie in Form von Varianten, also von im Detail immer wieder abweichenden Gestalten, was mit dem spontanen Umgang der Sänger mit Text, Melodik und Mehrstimmigkeit zusammenhängt. Die mündliche Überlieferung setzt keine durch einen „Urtext“ vorgegebenen Grenzen.

Sehr gut lassen sich ihre Gesetzmäßigkeiten beim Jodler erkennen. „Jodeln“ als Singen oder Rufen in zwei verschiedenen Stimmregistern (Kopfstimme bzw. Falsett und Bruststimme) auf Silben ohne Wortbedeutung ist an sich weltweit verbreitet. In Salzburg ist die größte Jodlervielfalt in den an die Obersteiermark angrenzenden Gebieten zu finden.

Neue Lieder

Wo die Singpraxis lebendig ist, ergeben sich sehr viele Möglichkeiten, an Traditionen anzuknüpfen und daraus neue Lieder zu schaffen. Die Parodie, das Erfinden eines neuen Textes zu einer bekannten Melodie, ist eine alte, oft bewährte Verfahrensweise. Wir kennen sie vielfach aus Liedern der Glaubenskriege, aus zahllosen historisch-politischen und sozialkritischen Liedern bis zu den Anti-AKW-Liedern grün-alternativer Bürgerbewegungen der jüngeren Vergangenheit. Volksmusikalische Auftritte erhalten in diesen neuen Zusammenhängen oft einen kabarettistischen Anstrich.

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