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Eine seltene Quelle zur Liebespraxis des Volkes fand in den 1930er-Jahren der Lehrer und Heimatforscher Karl Fiala im Großarltal: den Liebesbrief eines Knechtes aus der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts, verfasst in der alpinen Bilderschrift, die bei Arbeits- und Haushaltsgeräten üblich war.[465]
Aufschlussreich ist die genauere Betrachtung des Volksliedes mit „himmlischer“ und „irdischer“ Liebe, Liebeserfüllung und Liebesverrat, ins Erhabene gesteigerter und direkter Sexualität, Sehnsucht und Enttäuschung.
Das erotischere Volkslied enthält oft die Konstellation Wildschütz/Sennerin; hier übernimmt die Frau zuweilen eine aktive Rolle. In ihr Liebesspiel ist das Essen eingebunden.[466]Erotische Volkslieder oder Balladen spielen teils geschickt mit der Natur der Landschaft, des Waldes und mit der Natur der Sexualität.
Im bäuerlichen Milieu überschnitten sich zwei Normensysteme. Das eine war das kulturell bedingt kirchliche System (rigide, streng, durch und durch asexuell) und das auf die Natur Bezug nehmende jugendliche bäuerliche System (biologisch, ökonomisch). Die kirchliche Norm verkündete seit der Gegenreformation den „Großen Katechismus“ („Die Keuschheit ist eine Tugend, welche man durch die Enthaltung von aller unerlaubten fleischlichen Wollust in Gedanken, Worten und Werken ausübt“).
Die katholische Kirche drohte mit Folgen der Unzucht: der Unkeusche vergisst auf Gott und kann vom Glauben abfallen; der Verstand wird blind, der Wille verstockt und der Leib wird durch schändliche Krankheit bestraft. Das universelle Inzestverbot wurde von der Kirche genutzt und die Figur der unbefleckten Mutter Gottes als Ebenbild der eigenen Mutter wurde allgemein auf die Frau übertragen.
Die sexuelle Ordnung der Kirche, an die legitime Ehe gebunden, rieb sich an der ökonomischen Ordnung der ländlichen Welt. Die kirchliche Kontrolle wirkte regional unterschiedlich. In Tirol betrug der Anteil der unehelichen Kinder im Jahre 1900 nur sieben Prozent, in Kärnten hingegen stieg der Anteil auf 47 Prozent. Die Kirche führte ihren Kampf gegen die Wollust solange weiter, bis sie durch die „sexuelle Revolution“ Ende der 1960er-Jahre eine epochale Niederlage erhalten hat.
Das Gegenstück zum amateurhaften Volkslied auf dem Lande war in der Großstadt das professionelle Lied der Volkssänger und Volkssängerinnen – voller Anspielungen und sexueller Signale. Für den gehobeneren Geschmack erfüllte die Wiener Operette eine ähnliche Funktion. Wien repräsentierte in diesem Genre die Welthauptstadt der Erotik.
Auch das Medium des 20. Jahrhunderts, der Film, bemächtigte sich sofort der Erotik. Zunächst war der Jahrmarkt der soziale Ort des Kinos – ein Zelt mit einigen Holzbänken. Das so genannte „Wanderkino“ führte bald den „pikanten“ Film für den Herrenabend ein. 1906 etablierte sich der gelernte Fotograf Johann Schwarzer als „Film-Fabricant“ und produzierte in Wien erotische Filme. Was die Metropole von der Provinz unterschied, waren die vielen Formen der Erotik – von der Monogamie der Mehrheit bis zu den „fantastischen Gärten der Lüste“ der Minderheit.
Die Sexualität der Arbeiter unterschied sich von der Sexualität der Bürger durch größere Unbefangenheit, die Schamgrenze lag tiefer. Die überbevölkerten Wohnungen erlaubten wenig Intimität, die harte Körperarbeit forderte einen ordinären Ton heraus. Wo Männer und Frauen zusammenarbeiteten, ist es immer wieder zu sexuellen Belästigungen der Frauen gekommen. Interessant ist, dass der Einfluss des katholischen Normensystems auch in das Arbeitermilieu hineinreichte.
[464] Kurzfassung von Ilona Holzbauer
[465] Die Entzifferung Fialas lautet folgendermaßen: „Herzliebste Sennerin! Am Sonntag zur Kirchzeit schicke den Hüterbuben auf die Bergweide, denn ich, der Rossknecht, komme zu Dir auf die Alm. Ist noch wer in der Hütte, so warte ich im Wald bis die Luft rein ist. Ich will bei Dir sein, oder ich möchte einen Hirsch jagen.“
[466] [Steirisches Volksliedwerk 1997], S. 60.